Alle können den Quellcode anschauen – Sie, ich, meine Oma und mein Friseur
Open Source-Software gewährt den Nutzenden umfangreiche Freiheiten, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten, so Miriam Seyffarth. Doch wie wird im Open Source-Bereich gemeinsam an der Software gearbeitet? Wie wird sie geteilt und wie werden Konflikte ausgetragen? Welche Rolle kann Open Source-Software für die Realisierung digitaler Souveränität spielen und warum sollte eine nachhaltige Digitalisierung nur mit ihr möglich sein? Bei dem Interview handelt es sich um Teil 3 unserer Reihe zu Open Source-Software.
Interview mit Miriam Seyffarth | 16.10.2025

Verantwortungsblog: In Ihrer Selbstbeschreibung auf der Webseite Ihres Verbandes, der Open Source Business Alliance, schreiben Sie, dass Sie privat fast ausschließlich Open Source-Software nutzen. Wie sind Sie mit Open Source-Software in Berührung gekommen und was sind Beispiele für solche Software?
Miriam Seyffarth: Ich bin zum Studium in Berlin in eine Wohngemeinschaft gezogen und hatte da Mitbewohner, die Open Source-begeistert waren, und das hat mich angesteckt. Ich habe mir Open Source-Software dann angeschaut und ausprobiert und war schnell von den Vorzügen überzeugt: Es ist demokratisch, jeder kann mitgestalten, es ist offen und transparent.
Dann habe ich immer mehr Open Source-Software genutzt. Angefangen hat es damit, dass ich auf meinem Laptop das Open Source-Betriebssystem Ubuntu installiert habe. Vorher hatte ich Windows von Microsoft genutzt. Dann habe ich meine Hausarbeiten und meine Abschlussarbeit für das Studium mit LaTeX geschrieben, nicht mehr mit Microsoft Word. Und nach und nach habe ich in jedem Bereich die proprietären Lösungen durch Open Source-Software ersetzt: Als Browser Firefox, als E-Mail-Programm Thunderbird, beide von Mozilla. Mittlerweile habe ich eine Open Source-Podcast-App auf meinem Smartphone, AntennaPod. Auf meinem Smartphone läuft auch ein Open Source-Betriebssystem. Dass es nicht von Google ist, gibt mir das gute Gefühl, dass Google nicht weiß, wo ich gerade bin und mit wem ich telefoniere.
V-Blog: Auf der re:publica 25 waren sie Teil des Panels „Good Tech vs. Big Tech“. Im Ankündigungstext ist davon die Rede, dass wenige große Tech-Konzerne unser digitales Leben bestimmen: von Social Media über Office-Software bis zu Cloud-Services. Was ist das Problem an dieser Dominanz und inwiefern stellen Open Source-Optionen eine Alternative dazu dar?
MS: Das Problem mit den Big Tech-Unternehmen ist nicht nur, dass sie so große Monopolstellungen auf dem Markt haben und ihr Segment total dominieren. Das Problem ist auch, dass es sich dabei um proprietäre Software handelt und nicht um Open Source-Software. Proprietäre Software bedeutet, dass keine unabhängige Überprüfung der Software möglich ist. Also wenn ein Softwarehersteller, zum Beispiel Microsoft, Amazon oder Google, mir sagt: „Die Daten, die Du in diese Software eingibst, sind sicher und niemand anderes kriegt die zu sehen“, dann muss ich dieser Behauptung Glauben schenken, denn ich kann das nicht überprüfen. Dass Open Source-Software in dieser Hinsicht sicher ist, muss ich nicht glauben, denn man hat immer die Möglichkeit, den Quellcode zu überprüfen: Was passiert mit den Daten? Wo werden sie gespeichert? Gibt es Sicherheitslücken und Hintertüren? Fließen die Daten irgendwo ab, greift jemand anders darauf zu? Man kann die Software auch gestalten, anpassen und mit anderen teilen. Die großen Tech-Unternehmen gewähren diese Möglichkeit der Überprüfung der Software nicht. Verbunden mit der Monopolstellung der großen Tech-Unternehmen ist das ein Problem. Sehr viele Menschen nutzen Software und Anwendungen von Microsoft, Apple, Amazon und Google, und die können im Prinzip mit den Daten treiben, was sie wollen, denn wir können es nicht überprüfen.
Ich merke mittlerweile, dass immer mehr Menschen ein Unbehagen haben, weil sie eben nicht genau wissen, was mit ihren Daten auf diesen großen Plattformen passiert. Man weiß ja, dass sie ihre Geschäftsmodelle darauf aufbauen, personalisierte Werbung und so weiter anzuzeigen. Aber das Hauptproblem sind die fehlende Kontrolle und die fehlende Gestaltungsmöglichkeit der Software. Und Open Source-Software ist die Alternative und die Lösung für dieses Problem.
V-Blog: Inwiefern ist Open Source-Software demokratisch?
MS: Open Source-Software ist Software, die eine Lizenz hat, die sehr viel Transparenz, Kontrolle und Gestaltungsmöglichkeit erlaubt. Zum Beispiel kann sich jeder den vollständigen Quellcode anschauen: Sie, ich, meine Oma und mein Friseur. Alle können den Quellcode anschauen! Alle können diesen Quellcode auch anpassen, Änderungen vornehmen und sagen: „Der Knopf ist rot, aber ich hätte ihn gerne in grün.“ Und man kann die Software auch in dieser veränderten Version mit anderen teilen. Dass zum einen alle überprüfen und kontrollieren können, was mit der Software los ist, zum Beispiel wo die Daten hingehen, und zum anderen, dass alle die Software mitgestalten und ihren Bedürfnissen anpassen können, das ist ein sehr demokratischer Aspekt. Denn dann liegt die Macht über die Daten, die verarbeitet werden, und über die Software, die genutzt wird, nicht in der Hand eines einzelnen Konzerns, der damit irgendwas treibt, und wir wissen nicht genau, was es ist. Sondern die Macht über die Gestaltung der Software und darüber, wie und wo die Daten verarbeitet werden, die liegt in der Hand von uns allen. Das ist der demokratische Aspekt von Open Source-Software. Durch diese gemeinschaftlich hergestellte Transparenz und die Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten der Software verteilt sich die Macht auf alle. Es kann nicht einer allein oder ein einzelner Konzern entscheiden, was mit der Software passiert, sondern die Beteiligten kontrollieren sich auch gegenseitig. Wenn jemand was an der Software macht, was allen anderen nicht passt, dann können alle anderen widersprechen und diesen Schritt nicht mitgehen.
V-Blog: Wie findet dieses gemeinsame Gestalten und Weiterentwickeln konkret statt?
MS: Das hängt davon ab, um welche Software es sich handelt, wer da die Hauptverantwortung hat, wer sich um die Software oder um das Projekt kümmert. Es gibt Software, um die sich ganz viele Unternehmen, Communities und Freiwillige gemeinschaftlich kümmern. Der Linux-Kernel ist zum Beispiel so ein ganz zentrales Open Source-Projekt, an dem tausende Menschen gemeinsam arbeiten. Die schreiben gemeinsam auf einer Mailing-Liste und es gibt ein Software-Repository, wo der Quellcode liegt und über das man Vorschläge für Veränderungen machen kann. Das ist sozusagen eine riesige Schwarmintelligenz, die am Projekt arbeitet. Bei vielen anderen Open Source-Lösungen funktioniert das ähnlich: Der Quellcode ist öffentlich einsehbar und in einer öffentlichen Datenbank, in einem Software-Repository abgelegt. Häufig ist das GitHub, aber es gibt auch andere Software-Repositories, über die Leute gemeinsam Quellcode anschauen, teilen und gemeinsam weiterentwickeln. Es gibt zum Beispiel auch GitLab und die deutsche Verwaltung nutzt openCode, ein eigenes Open Source-Software-Repository.
Ein Repository muss man sich wie ein Forum oder eine Plattform vorstellen. Da können alle Vorschläge machen. Man kann sagen: „Ich habe an der Software herumprobiert, der Knopf war rot, aber ich hätte gerne einen grünen Knopf.“ Und wenn die Community sich darauf einigt, dann liegen im Repository die dreieinhalb Zeilen Softwarecode, die man einbauen müsste. Diesen Code können sich alle anschauen und gemeinsam entscheiden, ob sie ihn einbauen wollen oder nicht.
V-Blog: Alle entscheiden für sich?
MS: Es kommt auf die Struktur des Projekts an, wie das entschieden wird. Manchmal gibt es eine Kerngruppe von Menschen, die sich darum kümmert, welche Änderungsvorschläge in die Open Source-Software eingepflegt werden. Diese Menschen nennt man Core-Maintainer. Das sind Personen, die besonders viel Zeit in die Projekte stecken und Verantwortung dafür übernehmen, dass alles in Ordnung ist und die Vorschläge gesichtet, sortiert, geprüft und gegebenenfalls eingearbeitet werden. Es kann auch sein, dass z. B. ein Unternehmen sich um die Pflege einer Software kümmert. Dann entscheiden die das. Auch da können alle jederzeit Vorschläge machen, aber das Unternehmen entscheidet am Ende. Manchmal sind es auch Stiftungen, die sich um Open Source-Projekte kümmern.
Der entscheidende Punkt ist: Wenn es Uneinigkeit darüber gibt, ob eine Änderung angenommen werden soll oder nicht, dann kann es zu einem Fork der Software kommen. Es gibt eine Gabelung und die Community teilt sich und kümmert sich um die Version der Software, die sie unterstützt. Die, die wollen, dass der Knopf grün ist, nehmen den Quellcode und bauen ihre Variante der Software mit dem grünen Knopf. Es gibt dann zwei Varianten der Software. Das ist ganz anders als bei proprietärer Software und das kommt immer wieder vor. Das ist eine der ganz zentralen Freiheiten von Open Source-Software, dass man nicht darauf angewiesen ist, dass eine kleine Gruppe von Leuten bestimmt, ob eine Änderung vorgenommen wird. Wenn man das nicht will, kann man sagen: „Okay, dann schreibe ich mir meine eigene Variante der Software.“
V-Blog: Warum besteht im Open Source-Bereich weniger Anreiz, Daten fließen zu lassen?
MS: Es ist nicht unbedingt so, dass im Open Source-Bereich keine Bereitschaft besteht, Daten fließen zu lassen. Aber es gibt größere Transparenz darüber, was mit den Daten passiert. Diese Transparenz, gibt es bei proprietärer Software nicht. Viele Menschen nutzen zum Beispiel Office-Produkte von Microsoft, und wir wissen ja, dass es immer wieder Vorfälle gegeben hat, dass im Hintergrund Daten abgeflossen sind, über die Nutzung der Software zum Beispiel, wann, wie und von wem sie genutzt wurde. Das sind Funktionen, die im Hintergrund dieser Software laufen, die die Nutzer:innen nicht überprüfen können. Wenn ich ein Dokument von Microsoft Office öffne, weiß ich nicht, ob die Sachen, die ich da eingebe, oder wann ich daran gearbeitet habe, irgendwo anders gespeichert werden, ob jemand anderes darauf Zugriff hat, ob beispielsweise die US-Regierung morgen Microsoft sagt, dass ich aus meinem Account ausgesperrt werden soll, und so weiter. Und bei Open Source-Software kann das nicht passieren, weil die Nutzer:innen überprüfen können oder überprüfen lassen können, ob es im Hintergrund Datenabflüsse gibt. In der Summe habe ich ein größeres Vertrauen in eine Open Source-Lösung als in eine proprietäre Lösung, auch wenn ich persönlich den Quellcode nicht prüfen kann, denn ich habe keinen IT-Hintergrund.
V-Blog: In einem Kommentar Ihres Verbandes zur Open Source-Week der UN hieß es, jede Regierung beschäftige sich damit, wie digitale Souveränität erreicht werden könne, und Open Source-Software sei dafür ein wichtiger Faktor. Geht es bei Open Source-Software also nicht mehr darum, mit welcher Software ich meine Abschlussarbeit schreibe, sondern um digitale Souveränität?
MS: Wenn ich Software nutze und damit Daten verarbeite oder speichere, geht es am Ende ja immer darum, ob ich die Kontrolle darüber habe, was mit meinen Daten passiert. Sind die Daten geschützt und kann ich die Software so gestalten, wie es für mich passt? Für diese Fragen macht es einen großen Unterschied, was für Software man nutzt. Und diese Fragen stellen sich für Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft, wie mich, genauso wie für große Unternehmen. Die wollen auch die Kontrolle über ihre Daten behalten und die Gestaltungshoheit über die Software, die sie nutzen. Und für die Wissenschaft, für die öffentliche Verwaltung und den Staat als Ganzes stellen sich diese Fragen auch.
Und es geht ja nicht nur um digitale Souveränität, sondern auch um Datensouveränität. Da geht es um die Fragen: Wer hat Zugriff auf meine Daten? Sind meine Daten sicher gespeichert? Gibt es im Hintergrund unbekannte Datenabflüsse oder Zugriffe? Diese Fragen beschäftigen nicht nur Menschen wie mich, sondern auch die Staaten. Die haben ja ein Interesse daran, dass die persönlichen, sensiblen Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger sicher sind und dass nicht Unbefugte darauf zugreifen können. Unsere Regierung hat auch ein Interesse daran, dass die Daten der Wirtschaft und der Industrie sicher sind, Stichwort: Industriespionage.
V-Blog: Hat diese Bedeutungsachse an Gewicht zugenommen?
MS: Die Fragen von geopolitischen Spannungen und Krisen treten immer mehr in den Vordergrund und die haben auch starken Einfluss auf den Diskurs um digitale Souveränität und um die Nutzung von Open Source-Software durch den Staat und die Wirtschaft. Wir als Open Source Business Alliance beschäftigen uns schon lange mit Open Source-Software und wir treten dafür ein, dass diese Software die bessere Lösung ist. Und wir merken, dass auch in der Politik und in der Verwaltung immer stärker ein Bewusstsein dafür entsteht, wie wichtig digitale Souveränität ist, und welche Rolle Open Source-Software dafür spielen kann. Das ist vergleichbar mit Überwachungs- oder Abhörskandalen: Solange man nicht weiß, was im Hintergrund passiert, oder die Bedrohung nicht so real ist, kann man sie gut ignorieren. Aber die Trump-Regierung liefert immer mehr Beispiele dafür, dass eine Regierung, die nur ihre eigenen Interessen im Sinne hat, kein verlässlicher Partner ist. Und die Hyperscaler Amazon, Microsoft, Google usw. unterliegen dem US-Recht und nach US-Recht spielt die Datenschutzgrundverordnung der EU keine große Rolle. Die US-Regierung kann diese Unternehmen anweisen, Daten herauszugeben oder Zugriff auf die Software zu geben. Dagegen können wir in Deutschland nichts machen.
Und es gab schon eine Reihe von Beispielen, welche Konsequenzen das haben kann: Schon in der ersten Trump-Regierung gab es eine diplomatische Krise zwischen den USA und Venezuela und Trump hatte das Unternehmen Adobe angewiesen, die Zugriffe auf die Creative Cloud für alle Nutzerinnen und Nutzer in Venezuela abzuschalten – egal, ob es private Nutzer:innen waren oder die venezolanische Regierung. Das ist am Ende nicht passiert, aber das ist eine Karte, die in geopolitischen Krisen oder Spannungen ausgespielt werden kann. Diese digitale Abhängigkeit macht uns verwundbar, sie kann gegen uns verwendet werden. Und je stärker die Krisen und Spannungen auf der geopolitischen Ebene werden, desto stärker wird uns diese Abhängigkeit bewusst.
V-Blog: In Abgrenzung zum „digitalen Kapitalismus“ der großen Tech-Konzerne, der durch Quasi-Monopole und Machtballungen gekennzeichnet sei, bezeichnet der Tech-Journalist Stefan Mey den Open Source-Bereich als „digitalen Kommunismus“ – dort würden Gemeingüter entstehen. Was sagen Sie als Vertreterin der Open Source Business Alliance zu dieser Unterscheidung?
MS: Open Source-Software als digitalen Kommunismus zu bezeichnen, ist eine interessante und starke These. Es gibt einiges, was dafür, aber auch einiges, was dagegen spricht. Dafür spricht, dass Open Source-Software frei verfügbar ist und von allen jederzeit genutzt werden kann. Frei bedeutet hier meistens auch, dass man dafür kein Geld bezahlen muss. Die Software liegt in einem Repository, ich kann sie mir herunterladen und ohne Einschränkungen nutzen. Ich kann verstehen, dass Menschen das mit der Idee des Kommunismus verbinden: Die Software gehört allen und alle arbeiten gemeinsam daran. Es gibt niemanden, dem die Software ausschließlich gehört.
Aber der Begriff „digitaler Kommunismus“ ruft auch Assoziationen wach, die nicht zu allen Aspekten von Open Source-Software passen. Wir sind der Verband der deutschen Open Source-Branche. Wir vertreten über 240 Unternehmen, die in Deutschland Open Source-Software herstellen und deren Geschäftsmodelle darauf aufbauen, dass sie Open Source-Software entwickeln, pflegen und für andere betreiben. Damit machen diese Unternehmen zum Teil erhebliche Umsätze und sind sehr erfolgreich am Markt. Das hat gar nicht mehr so viel mit Kommunismus zu tun, weil alle diese Unternehmen ihr Geschäftsmodell und ihre ökonomischen Interessen verfolgen.
Das Interessante bei Open Source-Unternehmen ist aber, dass sie zwar ihre Geschäftsmodelle haben und Umsatz erzielen, dass in diesem Bereich aber das Thema Gemeinwohl, in Form von Software, die wir alle frei zusammen nutzen können, eine sehr große Rolle spielt. Man könnte sagen, dass digitales Gemeinwohl und digitale Geschäftsinteressen im Open Source-Bereich gut zusammenpassen.
V-Blog: Handelt es sich bei Open Source-Unternehmen also um eine andere Form von digitalem Kapitalismus? Wie unterscheidet sich dieser von jenem der Big Tech-Konzerne?
MS: Open Source-Software zahlt nicht nur deswegen auf das Gemeinwohl ein, weil die Software von allen jederzeit frei genutzt werden kann. Sie hat auch entscheidende Effekte für die Wirtschaft. Open Source-Software ist ein Innovationsbooster und hat viele vorteilhafte Effekte für den Wettbewerb. Wenn ich zum Beispiel ein Startup gründe und ein neues Geschäftsmodell entwickeln möchte, dann ist es meistens so, dass ich erst viel Entwicklungsarbeit, zum Beispiel in Software, stecken muss, bevor ich ein Produkt habe, das ich verkaufen kann. Wenn ich für die Entwicklung meines Geschäftsmodells aber auf vielen Basisbausteinen aufbauen kann, die es schon gibt und die ich frei nutzen kann, ohne, dass ich dafür bezahlen muss, also wenn ich Open Source-Basismodule nutzen kann, dann bin ich viel schneller, dann ist mein Produkt schneller fertig und ich kann am Markt schneller unternehmerisch tätig werden. Und diese positiven Effekte, die Open Source-Software für Wirtschaft, für Innovation und den Wettbewerb hat, sind auch in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden. Forschende der Harvard Business School haben zum Beispiel herausgefunden, dass der Einsatz von Open Source-Software in mehreren Ländern zu mehr Unternehmensgründungen geführt hat. Unternehmen profitieren massiv davon, dass sie nicht alles selbst entwickeln müssen, sondern die Entwicklungsarbeit teilen und auf Open Source-Lösungen zurückgreifen können. Sie müssen nicht bei null anfangen. Und dieser positive Effekt gilt auch für die öffentliche Verwaltung. Da kennen wir das als das „Einer-für-alle-Prinzip“: Nicht jede Kommune muss eine eigene Softwarelösung von Null entwickeln, weil so immer wieder viel Geld für die gleiche Lösung ausgegeben würde. Stattdessen teilt man die Entwicklungsarbeit und kommt gemeinsam schneller voran.
V-Blog: Könnte man sagen, dass Open Source-Lizenzen anti-monopolistisch wirken?
MS: Ob Open Source-Lizenzen alle Monopole auf der Welt verhindern, da bin ich skeptisch. Denn es gibt ja auch ein gewisses Spektrum von Open Source-Lizenzen. Es gibt eine Gruppe solcher Lizenzen, die zum Ziel haben, die Freiheiten, die Transparenz und die demokratische Kontrolle der Software zu erhalten. Das sind die Lizenzen mit Copy-Left-Effekt. Das bedeutet, dass die Lizenzen allen, die die Software weiterentwickeln und weiterverbreiten, die Pflicht auferlegen, die gleichen Freiheiten, die sie hatten, allen anderen weiterzugeben.
Es gibt aber auch die sogenannten „permissiven Lizenzen“. Die permissiven Open Source-Lizenzen gewähren auch viele Freiheiten: Man kann sich den Quellcode anschauen und die Software anpassen, sie erlauben es aber auch, die Software in proprietäre Produkte einzubauen. Und das Aufkommen solcher Lizenzen hat den Effekt, dass heute viele proprietäre Softwarelösungen, die wir kennen, ob zum Beispiel von Microsoft oder von Google, viel Open Source-Software enthalten. Dadurch ist es mittlerweile schwierig, klar zwischen proprietärer Software und Open Source-Software zu unterscheiden, weil im Grunde in so gut wie jeder Software auch Open Source-Komponenten stecken. Man muss sich immer anschauen, unter welcher Lizenz die einzelnen Module stehen, weil Software ja immer aus vielen Bausteinen besteht.
Man kann also sagen, dass es Open Source-Lizenzen gibt, die gegen Monopole wirken und die dafür sorgen, dass die Software und das vorhandene Wissen Gemeingüter bleiben, die sich nicht ein einzelnes Unternehmen unter den Nagel reißen kann. Aber es gibt auch Open Source-Lizenzen, die es ermöglichen, dass Open Source-Software auch in proprietäre Geschäftsmodelle eingebaut werden kann.
V-Blog: 2001 hatte der damalige Microsoft-Chef Steve Ballmer Open Source-Software sinngemäß als Krebsgeschwür bezeichnet. Sie haben eben angedeutet, dass das Verhältnis von Open Source und Big Tech mittlerweile weit weniger feindlich ist. Was hat zu dieser Annäherung geführt?
MS: Big Tech-Unternehmen wie Amazon, Google, Microsoft und so weiter, nutzen heute in ganz großem Stil Open Source-Software – und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen wir Open Source-Software gut finden: Auch diese Unternehmen wollen die Kontrolle über die Software-Komponenten haben, die sie nutzen. Und Microsoft würde niemals eine Software-Komponente von Amazon bei sich einbauen, weil die sich nicht darauf verlassen wollen, dass der Wettbewerber nicht irgendwo eine Hintertür eingebaut hat. Die nutzen Open Source, weil sie die Software kontrollieren können. Deswegen ist Open Source-Software ein ganz relevanter Bestandteil der Kernkomponenten der Systeme der großen Tech-Unternehmen.
Es ist aber immer noch so, dass das, was diese Unternehmen heute vertreiben, am Ende nicht unbedingt open source ist, weil diese Software oft nicht für alle frei verfügbar ist. Es können sich nicht alle den Quellcode anschauen. Wenn ich Software von Microsoft nutze, muss ich dem Unternehmen immer noch glauben, wenn es mir sagt: „Der Quellcode ist sicher, es fließen im Hintergrund keine Daten ab.“ Ich kann die Software nicht überprüfen, weil sie als proprietäre Software lizenziert ist, nur gegen Gebühr genutzt und nicht frei geteilt werden darf und so weiter. Daher sind die Big Tech-Unternehmen keine Open Source-Unternehmen, obwohl sie viel Open Source-Software nutzen.
Diese großen Tech-Unternehmen haben auch mitbekommen, dass es immer mehr Unbehagen mit ihren Produkten gibt und das Bedürfnis nach digitaler Souveränität wächst. Deswegen können wir so etwas wie Souveränitätswashing beobachten: Seit einigen Jahren versuchen diese Unternehmen, ihre Lösungen, vor allem ihre Cloud-Lösungen, als souverän anzupreisen. Aber wenn man sagt, souverän ist die selbstbestimmte Nutzung, dass man den Quellcode überprüfen, dass man die Software selbst betreiben, anpassen und gestalten kann, dann ist das nicht souverän.
V-Blog: Im Strategie-Papier „EuroStack – A European Alternative for Digital Sovereignty“ (2025) warnen Francesca Bria und ihre Mitautoren davor, dass Big Tech-Unternehmen die Arbeit von Open Source-Communities zu ihrem Vorteil nutzen würden. Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?
MS: Am Ende des Tages ist Open Source-Software Software wie jede andere auch. Sie ist nur anders lizenziert und gewährt mehr Freiheiten. Natürlich gibt es auch in der Open Source-Community Konflikte und Akteure, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Und es gibt unterschiedliche Meinungen, wie mit einer bestimmten Software umgegangen werden soll. Und eine Frage ist auch, ob diejenigen, die besonders von der freien Verfügbarkeit der Software profitieren, die großen Nutzen daraus ziehen, die freie Software in ihre proprietären Produkte einbauen und viel Geld damit machen, etwas zurückgeben. Engagieren sich diese Unternehmen in der Pflege der Software? Kümmern sie sich darum, dass die Open Source-Software, die sie nutzen, sicher ist? Und das ist tatsächlich nicht immer der Fall. Einige der großen Tech-Unternehmen engagieren sich tatsächlich in großem Umfang im Open Source-Bereich, Google zum Beispiel. Die nutzen viel Open Source-Software, die investieren aber auch viel in die Sicherheit von einzelnen Komponenten. Das ist aber nicht bei allen Unternehmen der Fall. Das ist ein Grundkonflikt in der Open Source-Community, über den viel diskutiert wird.
Ich glaube, eine große Änderung wird mit dem Cyber Resilience Act kommen, der von allen Unternehmen, die Open Source-Software nutzen, verlangt, dass sie sich darum kümmern, dass die Open Source-Komponenten, die sie einbauen, sicher sind. Das heißt, alle Unternehmen werden dazu gezwungen, mehr Verantwortung für die Sicherheit der Software zu übernehmen.
V-Blog: Der bereits erwähnte Journalist Stefan Mey weist am Beispiel des Linux-basierten Smartphone-Betriebssystems Android darauf hin, dass es Google gelungen sei, mit Hilfe von Open Source-Software eine Datenschleuder und eine Stütze seiner digitalen Macht aufzubauen. Ist es nicht ein Problem, dass Open Source-Software in dieser Weise durch ein Big Tech-Unternehmen vereinnahmt werden kann?
MS: Der Grundgedanke von Open Source-Software ist ja die maximale Freiheit und die maximale Transparenz und dass alle damit machen können, was sie wollen. Und das beinhaltet auch Sachen, die nicht unbedingt positive Effekte haben. Die maximale Freiheit bedeutet eben auch, dass jemand die Software nehmen und daraus eine Datenschleuder, wie Sie sagen, bauen kann. Das ist ein negativer Aspekt dieser maximalen Freiheit und das ist ein weiterer Grundkonflikt in der Open Source-Community.
Gerade das Beispiel Android ist aber auch eine ambivalente Geschichte: Ja, das ist ein Google-Produkt, und ich persönlich möchte Android nicht auf meinem Smartphone nutzen, weil ich nicht möchte, dass Google weiß, wann ich mit wem telefoniert habe, an welcher Straßenecke ich gestanden habe, welche Internetseite ich aufgerufen habe, welche App ich wann genutzt habe und so weiter. Aber es gibt Open Source-Alternativen, die auf Android-Komponenten aufbauen. Ich nutze zum Beispiel LineageOS, ein Open Source-Betriebssystem. Das sieht genauso aus wie Android. Es funktioniert im Prinzip auch genauso, nur funktioniert es komplett ohne Google. Und das wäre nicht möglich, wenn Android nicht diese vielen Open Source-Komponenten enthalten würde.
V-Blog: Auf der re:publica 25 hat Jürgen Geuter, der im Netz vor allem als „tante“ bekannt ist, Open Source und Open Source-Lizenzen kritisiert. Geuter hat problematisiert, dass es eine Einschränkung der Freiheit sei, dass man den Einsatz der Software für bestimmte Zwecke nicht untersagen kann. In der Open Source Study (2021) der EU-Kommission ist von „ethical licensing“ die Rede. Wird das im Open Source-Bereich diskutiert?
MS: In der Open Source-Community wird schon seit vielen Jahren diskutiert, ob man Open Source-Lizenzen nicht doch an irgendeiner Stelle für den guten Zweck einschränken soll, zum Beispiel damit Open Source-Software nicht in Waffensystemen verwendet werden kann oder von monopolartigen Big Tech-Unternehmen genutzt werden kann, um ihre Marktmacht weiter auszubauen. Es ist aber immer noch vorherrschender Konsens in der Bewegung, dass die Definition für Open Source-Software gilt, die von der Open Source Initiative aufgestellt wurde. Und diese Definition beinhaltet die vier Freiheiten: Man kann alles damit machen, alle können die Software zu jedem Zweck nutzen, verändern und weiterverbreiten. Deswegen sind Lizenzen, die irgendwelche Einschränkungen machen, am Ende des Tages keine echten oder puren Open Source-Lizenzen. Aber es gibt auch solche Lizenzen.
V-Blog: Ihr Verband, die OSBA, meint, eine ressourcenschonende, nachhaltige Digitalisierung sei nur mit Open Source-Software möglich. Warum soll das der Fall sein?
MS: Es gibt verschiedene Gründe, warum Open Source-Software für Nachhaltigkeit und für ressourcenschonende Digitalisierung zentral ist. Ein Punkt ist, dass proprietäre Softwarelösungen, wenn wir zum Beispiel an Microsoft Office denken, häufig mit Funktionen überfrachtet sind. Ich starte eine Anwendung und im Hintergrund wird ganz viel Rechenpower und Energie verbraucht, obwohl ich am Ende nur zweieinhalb Seiten Text schreibe und viele der Funktionen, die im Hintergrund laufen, nicht brauche. Solche Softwareangebote verbrauchen also mehr Energie als nötig. Dagegen wird Open Source-Software modular entwickelt und es sind oft viel schlankere Anwendungen, die nicht so viel Energie verbrauchen. Und wenn nicht, habe ich immer die Möglichkeit, die Software anzupassen und schlanker zu machen, damit sie weniger Energie verbraucht. Diese Möglichkeit habe ich bei proprietärer Software nicht.
Ein weiterer Grund ist, dass man nicht das Problem hat, dass auf einer bestimmten Hardware eine bestimmte Software nur so lange genutzt werden kann, wie sie vom Unternehmen unterstützt wird. Microsoft beendet ja jetzt im Oktober 2025 den offiziellen Support für Windows 10 und viele Menschen stellen fest, dass ihre ansonsten funktionierende Hardware von einem Tag auf den anderen zu Elektroschrott wird, weil Windows 11 darauf nicht läuft. Das ist absurd. Open Source-Software verbraucht nicht nur oft viel weniger Energie, sondern kann häufig auch auf ganz alter Hardware genutzt werden. So wird viel Elektroschrott vermieden.
Es gibt auch den Aspekt der ökonomischen Nachhaltigkeit: Wenn zum Beispiel der Staat, eine Behörde oder ein Unternehmen Software nicht immer wieder von Grund auf entwickeln muss, sondern auf vorhandene Open Source-Software aufbauen kann, dann werden viel Zeit, Geld und Energie gespart, weil man diese Entwicklungsarbeit teilt.
V-Blog: Frau Seyffarth, vielen Dank für das Gespräch. ■
Zitiervorschlag
Seyffarth, Miriam (2025): Alle können den Quellcode anschauen – Sie, ich, meine Oma und mein Friseur. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/alle-konnen-den-quellcode-anschauen-interview-open-source-software/ [16.10.2025]. https://doi.org/10.60805/72mv-at40.





