Kategorien
Akzentfarbe: Rose Autor: Armen Avanessian Uncategorized Verantwortungsblog

Verantwortung heißt Spekulation

Verantwortung heißt Spekulation

Inwiefern transformiert die digitale Revolution das Leben selbst? Und müssen wir andere Formen von Überleben finden? Verantwortung heißt Spekulation. Ein Gespräch mit dem Philosophen Armen Avanessian.

Armen Avanessian im Gespräch mit Konstantin Schönfelder | 25.10.2024

ein bild vom planeten erde vom mond aus ferner entfernung in grau und schwarz
Erstellt mit Adobe Firefly, Prompt: „a picture from planet earth seen from the moon in far distance, grey and black“

AA: Also nicht nur ein Philosoph. Das war immer schon eines der Merkmale von spekulativem Denken oder spekulativer Philosophie – die übrigens viel kritisiert wurde, es gibt eine ganze moderne kritische Tradition, die sich dem entgegenstellt. Das Wort Spekulation hat zudem aus finanzökonomischen Gründen nicht die allerbeste Reputation. Ich denke aber, dass das nicht nur für Philosophen und Philosophinnen, sondern für die Gesellschaft generell von Bedeutung ist, und zwar nicht nur wegen des üblichen „Wir müssen wieder mehr Imagination wagen“, sondern um zeitgemäß zu sein in einer Zeit, die mehr und mehr von nichtmenschlichen Intelligenzen beeinflusst ist. Formen von Algorithmen, von künstlichen Intelligenzen, die sehr viel über die Zukunft wissen, nicht nur mehr mutmaßen, sondern wissen und aus diesem Zukunftswissen heraus die Gegenwart steuern: Diesbezüglich up to date zu sein – das betrachte ich geradezu als staatsbürgerliche Pflicht und auch eine entscheidende gesellschaftliche Herausforderung. 

AA: Da müsste man unterscheiden. Einmal gibt es die Digitalisierung, mit der viele gesellschaftliche Veränderungen einhergehen. Dann aber gibt es noch die medientheoretischen oder real erlebbaren Veränderungen: Was bedeutet es für unsere Kultur, mit dem Digitalen – einer so massiven medientechnologischen Veränderung konfrontiert zu sein, die ungefähr auf der gleichen Stufe steht wie der Buchdruck oder der Erfindung der Schriftlichkeit? Diese neue Situation ist in jedem Falle auf einer fundamentaleren Ebene angesiedelt als diejenige von Eisenbahn oder Telefon!
Und zu Ihrer Frage, was die Digitalisierung für unser Leben bedeutet: da würde ich Leben in einem emphatischen Sinn verstehen wollen. Inwiefern transformiert die digitale Revolution das biologische Leben selbst, nicht einfach nur unseren Lebensalltag? Die Fragen, die uns jetzt gesellschaftlich beschäftigen, sind ja von dieser Art: Was ist das dem Menschen Eigentümliche? Ist es die Intelligenz? Gibt es andere als kohlenstoffbasierte Intelligenzen? Was macht Kommunikation zwischen den Menschen aus? Diese Veränderungen sind medientechnologische, aber zugleich auch biologische Transformationen. 

AA: Die Frage, die ich mir stelle, ist zunächst eher für wen und in welchem Zeithorizont – für mich, meine Kinder, die Spezies Mensch – gibt es Gründe zur Sorge, wenn kein Umdenken stattfindet, das die Tiefe des technologischen Einschnitts anerkennt? Der Buchdruck hat ein paar Jahrhunderte massive Transformationen, Bürgerkriege, Religionskriege usw. provoziert und erst dann eine völlig neue Welt mit Nationalstaaten und Aufklärung gebracht. Das war kein gewaltfreier Transformationsprozess. Wo setzt man zur Analyse an, um ein Urteil wie „schön“ zu treffen? Ich bin ja kein Futurologe! Aber wenn Sie mich persönlich fragen, würde ich sagen, es gibt Grund zur Annahme, dass es vehemente Verwerfungen in den nächsten 50 Jahren geben wird. Schätzungen sprechen von 800 Millionen Menschen, die ihren Geburtsort oder ihren Wohnort wechseln müssen auf Grund massiver Beeinträchtigungen durch Klimaveränderungen. Das betrifft die Grundlagen unserer politischen Selbstverständnisse. Und da spielt die Digitalisierung hinein, denn vergessen wir nicht: Die demokratisch-liberalen Nationalstaaten sind mit dem Buchdruck entstanden und möglicherweise verschwinden sie in dieser Form auch wieder mit der digitalen Medienrevolution. Danach kommen nicht unbedingt wieder Feudalherrschaft oder Faschismen, aber möglicherweise etwas anderes, aber mutmaßlich grundsätzlich Neues, das wir noch gar nicht absehen können. 

AA: Mich hat zunächst interessiert, dass das Flüchtige ja quasi eine jahrtausendelange anthropologisch-kulturelle Konstante ist. Hinzu kommt dann dieses Klischee, dass alles mit der Moderne immer flüchtiger und dann noch schneller wird. Daran knüpfen auch nostalgische Theoreme von der Entschleunigung oder Achtsamkeit an. Mich hat interessiert, ein Gegennarrativ zu entwickeln: Die Moderne thematisiert Flüchtigkeit auf einmal völlig neu, auf diversen ästhetischen, ökonomischen, technologischen Ebenen wird Flüchtigkeit virulent und auf einmal auch sehr positiv konnotiert. Denn zugleich, ohne dass es den Protagonisten immer wirklich ausreichend bewusst ist, entstehen parallel dazu effiziente Techniken, um diese Flüchtigkeit profitabel und fruchtbar zu machen, sie künstlerisch zu nobilitieren etc. Die Digitalisierung spielt da eine fundamentale, aber spätere Rolle. Die gefühlte Beschleunigung kommt nicht erst mit ihr in die Welt. Sie greift vielmehr diese Dialektik zwischen einer beschleunigten, also zwischen einer immer vehementer verflüchtigten Welt auf, auf die wiederum stets mit Entflüchtigungen reagiert wird. Diese – im emphatischen Sinne moderne – Flüchtigkeit wird nur durch eine solche Doppelbewegung von Verflüchtigung und Entflüchtigungverstehbar, es ist nicht nur das eine oder das andere. Das lässt sich prinzipiell auch an Digitalisierung zeigen. 

AA: Grundsätzlich ist Verantwortung an eine Kontrollmöglichkeit gekoppelt. Es bedarf eines bestimmten Wissens und einer bestimmten zeitlichen Kongruenz. Und das ist in vielen Fällen fragwürdig. Was andersherum nicht heißt, dass die schweren Verwerfungen, die wir in den letzten Jahren erleben, auch infolge der Finanzkrise 2007/8 und der darauffolgenden finanzpolitischen Maßnahmen, also Austeritätspolitik, Sparmaßnahmen usw., nicht auch Verantwortungsträger kannte. Es waren nur scheinbar außer Kontrolle geratene, nicht mehr verantwortbare Finanzierungsmodelle. Es gab sehr wohl Verantwortlichkeiten dahinter, die man hätte erkennen können oder Lehren, die zu ziehen wären, wenn der finanzpolitische Willen dazu existierte.
Vielleicht kann man es so sagen: Es wird zeitlich komplizierter. Die demokratische Überprüfbarkeit wird komplexer und nimmt größere Zeit in Anspruch. Das heißt, die Kontrollmechanismen sind oft nicht mehr so schnell wie die entstehenden Probleme. Im Finanzsektor etwa haben wir eine ungeheure Schnelligkeit, Trading und Finanzkonstruktionen, die auch, um den Beginn ihrer Fragen nochmal aufzunehmen, sehr stark aus der Zukunft operieren, die zukünftige Preisannahmen machen etc. Zugleich haben wir in einem anderen, tieferliegenden Problembereich in unserer Gesellschaft zu tun, nämlich mit Blick auf den Klimawandel so etwas, das auch slow violence genannt wird wie Massensterben oder Ansteigen von Meeresspiegel, die sich eben nicht plötzlich und medienwirksam vor unseren Augen vollzieht. Wir haben es hier mit Verbrechen und Gewaltphänomenen zu tun, mit denen wir uns schwertun, sie als solche zu erkennen, weil sie sich nicht in singulären Akten, in augenscheinlichen Brutalitäten äußern, sondern sich über Jahrzehnte entwickeln. Sobald gesellschaftlich durchgesickert ist, dass da ein Problem möglicherweise im Entstehen ist, ist es schon nicht mehr aufzuhalten. Angstvoll starren wir dem entgegen und wissen nicht, wann das und welche Konsequenzen das haben, wann es überhaupt begonnen haben könnte. Hat das Anthropozän vor 50 Jahren oder vor 150 Jahren oder mit der Kolonialisierung Amerikas begonnen bzw. Schon der kulturellen Nutzung des Feuers begonnen? Unklar ist auch, wer die Verantwortlichen sind: Ist es der Kapitalismus? Ist es unsere Konsumsucht? Ist es die abendländische Rationalität? Wer kann darauf antworten? Wer ist unser Ansprechpartner in der Vergangenheit? Und wem gegenüber haben wir Verantwortung in der Zukunft? Auf welche Zukunft hin planen wir? Drei Generationen oder dreißig? Wir sind auf einmal mit einem völlig veränderten Zeithorizont beschäftigt. 

AA: Ja, eine ungeheure Schnelligkeit, eine extreme Langsamkeit – die tiefenzeitlichen Horizonte reichen mehrere hundert Jahre zurück. Und wie viele Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen „planen“ wir in die Zukunft bzw. sind wir verpflichtet zu planen, nachdem wir nunmehr wissen, dass all unser Handeln solche tiefenzeitlichen Konsequenzen hat oder haben kann?

AA: Wir müssen lernen, dass beides nicht mehr zu trennen ist. Das ist die nicht nur zeitphilosophische Aufgabe unserer Generation, die wir mit der Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten ein so konkretes und ungeheures Wissen über den Planeten und seine Entwicklung gesammelt haben. Das ist wirklich ungeheuerlich! Wir wissen besser als nie, was die letzten viereinhalb Milliarden Jahre passiert ist und wir wissen relativ viel von dem, was sich in den nächsten Jahrhundertmillionen möglicherweise wie entwickelt. 

AA: Meine These – nicht nur meine, aber auch meine These ist: Es ist kein Zufall, dass sie gleichzeitig auftreten. Da sind zunächst mal der sehr wichtige, aber noch oberflächliche Aspekt, dass die Digitalisierung, insbesondere die KI zu einem Umweltfaktor oder Umweltproblem wird, allein durch die enormen Energieressourcen, die sie verschlingt. Das wäre ein eigenes Thema für sich. Und vieles von dem, was zur Entstehung von Digitalisierung und KI beigetragen hat – denken Sie nur an die Materialien und die geologischen Veränderungen – ist für den Klimawandel mitverantwortlich. 
Auf der anderen Seite wüssten wir gar nicht in dieser Weise etwas über den Klimawandel, hätten wir nicht diese digitalen Instrumente. Wir müssen erst einmal lernen, was es heißt, den Planeten zu bewohnen (so lautet ja die Einstiegsfrage aus Daniel Falbs und meinem aktuellen Buch Planeten Denken), das heißt, ein so weitreichendes Wissen um seine Veränderlichkeit zu entwickeln, wie wir es heutige erstmals haben. Denn wir wissen davon ja überhaupt nur, weil der Planet überzogen ist von Milliarden an Sensoren, künstlichen Intelligenzen etc., die Dinge beschreiben, wahrnehmen, erkennen, die uns ansonsten entgehen würden bzw. dem homo sapiens bislang verborgen geblieben waren, der von einer wundersamen von Gott für ihn eingerichteten oder stabilen Natur oder Klima ausging (das ökologische Denken ist da weiterhin hemmungslos theologisch oder metaphysisch und jedenfalls anthropozentisch). Erst die digitalen Mittel geben uns die Möglichkeit, einen Klimawandel wahrzunehmen, von ihm zu sprechen, oder gar für ihn die Verantwortung übernehmen zu können inklusive der Einsicht, dass Klima sich immer schon verändert und es uns Menschen überhaupt nur dank von uns mitverursachter planetarischer Trancormationen gibt wie einem entsprechenden CO2-Level etc. 

AA: Ja, es gibt Theoretiker, die diese diabolische Frage gestellt haben: War es das wert, das zu erkennen? Dass wir all das anstellen, was wir anstellen als Menschheit, um letztlich nur zu erkennen, dass wir fähig sind, etwas derartig Weitreichendes anzustellen? Ich denke wiederum, man müsste das mit Blick auf die Zukunft beantworten: Wir wissen, was unser Potenzial, was unser Beitrag zur Klimaveränderung ist. Es gibt eine bestimmte Tendenz, die das Leben hat, nämlich sich exzessiv auszubreiten auf Kosten anderer Spezies – inklusive der eigenen (dass es schon frühere mass extinctions gab, darf freilich keinesfalls unser skandalöses Handeln oder Nichthandeln heute entschulden). Aber wir sind vielleicht die ersten, die faktisch darum wissen. Nun muss man sich fragen: Was machen wir mit dieser Einsicht? 

AA: Ja, wir könnten jetzt mit Kant und der Aufklärung argumentieren. Denn das ist schon ein entscheidendes Moment der Aufklärung: Die Frage, ob wir diese Aufklärung über uns und was Leben ausmacht, verkraften können. Ob wir das, was wir getriggert haben, auch verantworten können. Wir wissen um die Klimaveränderung dank der Digitalisierung und künstlichen Intelligenzen, die einen Beitrag zu den Problemen leisten. Leugnen wir es weiter oder kommt das Wissen in unserer Gesellschaft, in unseren politischen Institutionen, in unseren Planungsoperatoren von nun an wirklich vor? Bleibt es doch nur ein abstraktes Interview oder ein Buch oder beginnt es politisch intelligentes Handeln zu informieren? Stand Sommer 2024 müssen wir sagen: Dieses Wissen ist noch nicht in der Gesellschaft wirksam und also nicht wirklich angekommen. 

AA: Fürsorge, Nachhaltigkeit, Regulation, das sind aber alles Modelle, die von der Hoffnung getragen sind, dass es noch irgendwie so weitergeht, innerhalb des von uns so geschätzten bzw. Für uns im globalen Norden so vorteilhaften Paradigmas. Mit mehr Elektroautos, mehr grünem Strom etc. So hat unser liberales, sogenanntes demokratisches Modell funktioniert. Man produziert Innovationen, die werden sich schon noch durchsetzen und nachhaltige Energie produzieren und nachhaltige Produktionsprozesse hervorbringen. Die Lebensstandards werden haltbar sein. Doch was, wenn nicht? Ich möchte nicht super pessimistisch auftreten, man darf weder in Dystopismus noch in einen Technokratismus verfallen, sonst können wir die Verantwortung an die künstlichen Intelligenzen abgeben. Aber zur Wahrheit zählt: Unser status quo wird unmöglich haltbar sein. Wir müssen andere Formen von Überleben produzieren. Wäre es dafür nicht notwendig, sich langsam von diesen Illusionen des nachhaltigen, fürsorglichen Handelns abzuwenden? Zugespitzt formuliert: „Nachhaltigkeit“ ist das Opium für das Volk. 

AA: Wir wissen, dass wir 2050 ein paar 100 Millionen Klimaflüchtlinge haben. Es ist anzunehmen, dass wir 2063 einen Höhepunkt an Bevölkerung auf dem Planeten haben. Wir wissen ungefähr, wie viel Fläche uns auf der Erde zur Verfügung steht. Unserer nebenbei bemerkt niemals einfach natürlichen oder künstlichen Intelligenz steht ein schier endloses Zukunftswissen zur Verfügung. Nur warum hat das so wenig Einfluss auf unser Handeln? Denn das wäre der entscheidende Horizont! Natürlich ist es sehr kompliziert. Natürlich gibt es sehr viele Faktoren, die wir nicht abschätzen können. Das ist, was ich  „Hyper-Antizipation“ nenne: Dass wir ständig bombardiert werden und ich Sie jetzt bombardiere mit, 2050 wird das sein, 2063 wird möglicherweise der Höchststand an Bevölkerung auf dem Planeten sein, 2035 könnte ein tipping point erreicht sein etc. Wir stecken permanent im antizipatorischen Paradigma. Aber auf der anderen Seite ist es doch fulminant, das zu wissen und diese Probleme zumindest angehen zu können. Die Temperaturen werden steigen und nicht aufhören zu steigen bei 1,5 Prozent, weil wir bereits dort angekommen sind. Mit der „Nachhaltigkeit“ wird es jedenfalls nicht funktionieren. 

AA: Nein, ich sage ja nicht, die Menschheit wird aussterben. Einstweilen werden wir ja mehr. Und bei allen Verbrechen und all der Verantwortungslosigkeit, die die Menschheit verursacht, auch gegenüber anderen Spezies, ist von einem Unlebbarwerden des Planeten überhaupt nicht zu sprechen. Dem widersprechen ja die Zahlen. Wie kann eine Gattung, die sich in 100 Jahren verdreifacht hat und alle zwölf Jahre noch eine Milliarde zulegt, davon sprechen, dass ihr Planet für sie unlebbar wird. Wir nennen das in unserem Buch „Habitabilitätseskalation“. Aber es gibt ein großes Problem, dass wir diese absehbaren, massiven Veränderungen nicht einpreisen in unser Handeln, weder als Individuen noch als Gesellschaft noch als planetarische Gemeinschaft. Das ist einfach ein Versagen. Und es ist verantwortungslos. Statt für 10Milliarden Menschen auf einem sich absehbar verändernden Planeten zu planen, Bauern wir Mauern zwischen Nationalstaaten und wollen unseren Kontinent abschotten

AA: Man kann sagen, das ist vielleicht die Dummheit der Spezies. Sie kann mit exponentiellen Entwicklungen und mit bestimmten Zeithorizonten einfach nicht umgehen. Aber ich glaube nicht an die Spezies. Ich glaube nicht an den Menschen. Ich glaube an die Intelligenz. Und das ist 2024 eine von sogenannter künstlicher oder maschineller Intelligenz mitbefeuerte Intelligenz. Es wird nicht möglich sein, nachhaltig dafür zu sorgen, dass der Meeresspiegel da bleibt, wo er ist (wenn er in der tiefenzeitlichen Vergangenheit vermutlich schon hunderte Meter höher und tiefer war). Aber es könnte doch möglich sein, einem Vielfachen der Menschen, die vor 500 Jahren auf dem Planeten gelebt haben, ein gutes Leben zu ermöglichen. Auch wenn sehr viele Lebenszonen, die wir heute kennen, für Jahrhunderte oder Jahrtausende nicht mehr bewohnbar sein werden. 

AA: Es gibt einen radikalen Ansatz, der mir immer sehr abstrakt schien. In der französischen Nachkriegsphilosophie, etwa bei Levinas und Derrida, taucht ein Prinzip einer radikalen Verantwortung auf. Einer Verantwortung, der man nie gerecht werden kann – die nicht gegenüber den Menschen gilt, die man liebhat, der Familie usw. – sondern dem absolut Fremden. Ich habe viel darüber nachgedacht, was es heißt, seinen Kindern gegenüber, auch solchen, die man noch gar nicht hat, Verantwortung zu übernehmen.
Der Sache der radikalen Alterität gegenüber Verantwortung zu zeigen, gerade weil sie einem nichts zurückverspricht, weil es einem nicht zurückgeben kann oder will oder weil es sie möglicherweise nie geben wird. Diese radikale, wenn man so will tiefenzeitliche Perspektive der Verantwortung ist für mich sehr konkret geworden mit Blick auf die Phänomene, über die wir hier sprechen. 

AA: Also im Dienste der Deutlichkeit und für ein zugespitztes Finale: Diese Begriffe sind Teil einer Denkweise, die uns systematisch den Sinn vernebelt, was der wirkliche Zeithorizont ist. Die Vorstellung, dass die Natur von den bösen Menschen verantwortungsloserweise verändert wurde und wir jetzt wieder dafür sorgen müssen, dass diese arme Natur wieder so wird, wie sie vorher war, damit es uns wieder gut geht, ist aus Sicht von allem, was wir astrobiologisch und physikalisch wissen, völlig falsch gedacht. Es hindert uns auch daran, diese massive evolutionäre Transformation, in der wir uns befinden, voll zu begreifen. 
Ich würde mir wünschen, dass wir beginnen anders zu denken, zu schreiben, zu leben und zu handeln, auch politisch, und zwar im Angesicht dieses spekulativen Horizonts aus der Zukunft. Zurückschrauben geht nicht, so hat das in der Evolution nie funktioniert.

Avanessian, Armen (2024): Verantwortung heißt Spekulation. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/verantwortung-heisst-spekulation/ [25.10.2024]. https://doi.org/10.60805/zdvq-gt48.