Kategorien
Akzentfarbe: blau (Digitalcourage-Interview) Autorin: Julia Witte Uncategorized Verantwortungsblog

Ein Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang

Ein Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang

Wie sieht sie aus, die „lebenswerte Welt“ im digitalen Zeitalter? Digitale Zwänge gehören nicht dazu, meint der Verein Digitalcourage. Mit einer Petition möchte er dazu anregen, das Grundgesetz zu erweitern.

Julia Witte von Digitalcourage e.V. im Gespräch mit Eneia Dragomir | 28.08.2024

Ein Mensch, der an sein Smartphone gekettet ist.
Erstellt mit Adobe Firefly. Prompt: „Stil: minimalistisch, Kubismus; ein Menschen ist an ein Smartphone gekettet; Farben: blautöne, grau“.

Gibt es die Bahncard bald nur noch über die Bahn-App? Kann man das bestellte Paket in Zukunft nur noch an der Packstation abholen, wenn man die App der Post nutzt? Entwickelt sich der Komfort, den Smartphones und Apps gebracht haben, zu einem Zwang? Der Verein Digitalcourage e.V. beschreibt sich als „technikaffin“, beobachtet aber mit Sorge die Zunahme digitaler Zwänge, erfasst diese mit seinem „Digitalzwangmelder“ und macht mit den „BigBrotherAwards“ auf bestimmte Fälle aufmerksam. Zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes hat der Verein eine Petition gestartet, um das Grundgesetz um ein „Recht auf Leben ohne Digitalzwang“ zu erweitern. Eneia Dragomir hat mit Julia Witte von Digitalcourage e.V. über die Kampagne und darüber gesprochen, wie die „lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter“ aussieht, für die sich ihr Verein einsetzt.

Julia Witte: Man sieht gerade, dass an vielen Stellen Infrastruktur abgebaut wird. Angestoßen wurde bei uns das Thema durch einige Umstellungen bei der Deutschen Bahn (DB). Zuerst hatte die DB angekündigt, dass es die Bahncard in Zukunft nur noch über die App geben soll, also über den DB Navigator. Daraufhin gab es viel Kritik an diesem Vorhaben und die Bahn ist ein bisschen zurückgerudert. Jetzt gibt es auch eine alternative Lösung: Man kann sich den QR-Code ausdrucken, als Ersatz für die Bahncard. Allerdings gibt es diese Alternative nur für Leute, die einen Onlineaccount haben. Man muss also einen Onlineaccount bei der Bahn haben, um eine Bahncard haben zu können. Die Bahn nennt das selbst eine „vorübergehende Alternative“, die Menschen den „Übergang in die digitale Welt erleichtern“ soll. Das ist für uns ein Fall, wo Menschen von der Möglichkeit ausgeschlossen werden, bezahlbare Zugtickets zu bekommen, wenn sie die App oder den Onlineaccount nicht haben wollen – dabei ist Bahnfahren Teil einer Grundversorgung.

Das Ende der Plastikkarte hat die Bahn damit begründet, dass sie Plastik einsparen wollen, was wir für eine Luftnummer halten. Es hätte viele Wege gegeben, wenn es wirklich um das Plastik gegangen wäre. Man hätte beispielsweise für Dauerabonnent:innen eine Karte einführen können, die man nicht ständig austauschen muss. Es gibt auch Chipkarten, die größtenteils aus Holz oder biologisch abbaubarem Material bestehen. Bei der Maßnahme ging es unserer Meinung nach darum, die Leute zur Nutzung der App zu drängen. Auch bei den kostengünstigen Sparpreis-Tickets gab es eine Änderung: Diese Tickets werden an den Automaten gar nicht mehr verkauft und am Schalter sollen Kund:innen jetzt eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse hinterlegen. Auch das geht in diese Richtung und hat viele Anfragen bei uns zur Folge. Unseres Erachtens völlig zu Recht, denn auch das ist ein Fall von Grundversorgung, die an bestimmte Bedingungen geknüpft wird. Das waren konkrete Auslöser für unsere Initiative.

JW: Das Thema treibt uns schon länger um. Wir haben schon vor ein paar Jahren einen „Digitalzwangmelder“ ins Netz gestellt. (Digitalcourage 2024b) Der Grund war damals die kritische Diskussion der Luca-App während der Coronapandemie: Ist es in Ordnung, wenn eine private Firma massenhaft Daten über die Aufenthaltsorte von Leuten einsammelt und in einer zentralen Datenbank speichert? Wir wollten dann wissen: Wo gibt es noch solche Fälle, in denen man zu einer bestimmten digitalen Lösung genötigt wird, weil man sonst von wichtigen Leistungen oder dem öffentlichen Leben ausgeschlossen ist?

Wir haben sehr unterschiedliche Rückmeldungen bekommen. Auch Amüsantes, wie die Meldung einer Körperfettwaage, die sich sofort mit der Cloud des Herstellers verbinden wollte. Da kann man den Kopf schütteln und sagen, „Okay, schick sie zurück und kauf ein anderes Produkt“. Es gab aber auch Meldungen, die in den Bereich der Grundversorgung gingen und bei denen sich uns die Nackenhaare hochgestellt haben. Das war etwa die Meldung, dass die Post auf Packstationen ohne Display umstellt, die für die Kund:innen nur noch per App bedienbar sind. Dafür haben wir der Deutsche Post DHL Group letztes Jahr einen BigBrotherAward verliehen. (Tangens 2023) Das Szenario ist Folgendes: Ich bekomme ein Paket, bin aber nicht zuhause. Das Paket wird zu einer Packstation umgeleitet, die nach diesem neuen Modell funktioniert und kein Display hat. Ich möchte mein Paket abholen und an der Packstation steht: Bitte laden Sie die App herunter, um Ihr Paket zu bekommen. Wenn ich die App nicht möchte, muss ich eine Neuzustellung beantragen – das Formular dazu ist allerdings auf der Webseite von DHL nicht leicht zu finden. Das ist aus unserer Sicht ein Fall von App-Zwang.

Das also war die Situation, in der wir diese Petition gestartet haben. Der übergeordnete Grund ist, dass sich unserer Meinung nach gerade etwas zusammenzieht: An immer mehr Stellen findet eine gedankenlose Digitalisierung statt, die oft sehr schlecht und wenig inklusiv umgesetzt wird. Und wir haben Sorge, dass ein neuerliches entsprechendes Angebot immer unwahrscheinlicher wird, wenn die analoge Infrastruktur erst abgebaut ist. Bei der Bahn geht es dabei beispielsweise um Serviceschalter und um Fahrkartenautomaten. Wir glauben, dass es keine gute Idee ist, diese Infrastrukturen komplett auf null zurückzufahren.

JW: Ich bin ein bisschen vorsichtig mit dem Begriff „analog“. Es gibt digitale Lösungen, die nicht automatisch sehr viele Menschen ausschließen. Ich habe grundsätzlich kein Problem damit, wenn in einem Bahnhof ein digitaler Abfahrtsmonitor hängt. Klar, es gibt das Resilienzproblem, insofern der Monitor ausfallen kann. Aber das ist ein Beispiel für eine Form von Digitalisierung, die keine Barriere aufbaut in dem Sinne, dass ich ein bestimmtes Endgerät brauche und eine bestimmte App, um den Dienst nutzen zu können.

Im Großen und Ganzen geht es uns um vier Hauptargumente: Das erste ist die Teilhabe. Es gibt Menschen, die bestimmte Dienste nicht nutzen können. Und es wird oft versucht, das mit dem Argument abzutun, dass es nur mehr Schulungen bräuchte, um diesen Leuten beizubringen, wie sie Apps installieren und bedienen. Das sind gute Initiativen. Aber ich glaube, dass man dadurch das Problem nicht vollständig lösen kann, weil es trotzdem zum Beispiel weiterhin Menschen geben wird, die kein Geld für ein Smartphone haben. Es gibt auch Menschen, die eine Krankheit oder Einschränkung haben, wegen der sie bestimmte digitale Geräte oder Dienste nicht nutzen können. Für all diese Menschen muss Teilhabe sichergestellt werden.

Dann ist für uns das Thema Überwachung und Datenabfluss ganz wichtig. Digitalisierung läuft zurzeit leider häufig so ab, dass Anbieter beschließen: „Wir machen jetzt eine App und bieten unsere Services dann nur noch auf diesem Weg an. Und wo wir schon dabei sind, verbauen wir in der App noch ein paar Tracker. Dann können wir zusätzliche Analysen machen. Und wo wir die Daten schon mal haben, können wir sie auch gewinnbringend für etwas anderes nutzen oder weiterverkaufen.“ Diese kommerzielle Überwachung wird immer umfangreicher, jede Verhaltensäußerung wird erfasst. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff hat diese Tendenz als „Überwachungskapitalismus“ beschrieben. (Zuboff 2018) Digitalzwang und diese Sammelwut bezüglich alltäglicher Verhaltensdaten gehen oft Hand in Hand.

Eine große Rolle spielt für uns auch das Thema Wahlfreiheit. Ich finde es gruselig, mir vorzustellen, dass ich in vielleicht zwei, drei oder fünf Jahren in einer Welt lebe, in der ich ohne Smartphone nicht mehr aus dem Haus gehen kann. Weil ich ohne Smartphone nicht mehr einkaufen, Zug fahren oder am öffentlichen Leben teilhaben kann – vielleicht nicht mal mehr einen Bus nehmen kann, weil der Abfahrtsplan hinter einem QR-Code versteckt ist. Das ist eine Wahlfreiheit, die ich gerne erhalten würde. Es ist doch eine legitime Entscheidung von Leuten, kein Smartphone zu haben oder vielleicht auch nur ein paar Jahre darauf verzichten zu wollen, oder? Es gibt sehr viele Konstellationen, die dazu führen können, dass Leute sich gegen ein Smartphone oder gegen bestimmte digitale Dienste entscheiden. Ich persönlich möchte zum Beispiel möglichst wenig Google-Dienste auf meinem Handy haben und schon das schließt mich von vielen Möglichkeiten aus. Ich möchte nicht, dass ich in ein paar Jahren nicht mehr Bahn fahren kann, weil ich den Google Play Store nicht auf meinem Handy haben möchte. Wir können doch nicht Leistungen der Grundversorgung davon abhängig machen, dass ich bereit bin, Apple oder Google meine Daten auf dem Silbertablett zu servieren.

Und zuletzt geht es uns auch um Resilienz. Im März 2024 waren mehrere Länder in Afrika ohne Internet, weil ein Unterseekabel beschädigt war. (tagesschau.de 2024) Eine verbreitete Software kann großflächig Probleme verursachen oder die zugrunde liegende Infrastruktur kann ausfallen. Es wäre schön, wenn unsere Gesellschaft in solchen Fällen nicht völlig explodieren würde.

JW: Je mehr wir analoge Lösungen abschaffen, desto abhängiger werden wir von bestimmten digitalen Diensten und von durchaus vulnerablen Infrastrukturen. Es geht mir dabei nicht nur um den technisch bedingten Ausfall von Diensten, sondern auch um die Monopolisierung ganzer Bereiche, die uns in Abhängigkeiten treibt. Wenn wichtige Teile unserer öffentlichen Infrastruktur zum Beispiel auf den Angeboten von Google aufgebaut und davon abhängig sind, dann stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten hat zum Beispiel die Europäische Kommission oder das Kartellamt noch, Google zu regulieren? Wenn beispielsweise die Kommission anstreben würde, den Konzern Google aufzuspalten – übrigens eine langjährige Forderung von Digitalcourage (Tangens & padeluun 2013) –, dann könnte Google androhen, bestimmte Dienste in der EU nicht mehr anzubieten und die Behörden hätten eine sehr schwere Verhandlungsposition. Deswegen sollten wir analoge Strukturen an sehr wichtigen Stellen erhalten, und uns zusätzlich bei unserer technischen Infrastruktur nicht völlig abhängig machen von den Monopolisten auf dem Markt, sondern auf freie Software-Lösungen und offene Schnittstellen setzen.

Dafür gibt es auch noch einen anderen guten Grund: Wenn es nur eine einzige digitale Lösung gibt, um an einen wichtigen Dienst zu kommen, dann gibt es keine Konkurrenz. Und damit gibt es wenig Motivation, ein digitales Angebot attraktiv zu gestalten. Wenn eine bestimmte App die einzige Möglichkeit ist, um z.B. an Zugtickets zu kommen, dann ist es egal, wie bedienbar diese App ist, wie wenig dabei auf die Privatsphäre geachtet wird oder wie vertrauenswürdig sie insgesamt erscheint. Die Kund:innen müssen sie nutzen. Auch deswegen setzen wir uns gegen Digitalzwang ein: Ohne solche Zwänge müssen die Anbieter digitale Angebote erarbeiten, die die Leute überzeugen.

JW: Wir dürfen nicht nur darauf schauen, was auf den ersten Blick einfach und bequem für das Individuum zu sein scheint. Wir müssen auch darauf schauen, was für gesellschaftliche Auswirkungen sich ergeben. Mit unserer Kampagne treten wir gegen Digitalzwang ein, aber nicht gegen Digitalisierung oder gegen digitale Angebote. Im Gegenteil: Wir begrüßen digitale Angebote, aber wir möchten, dass noch andere Wege existieren.

JW: Ja, absolut. Bei der Deutschen Bahn zum Beispiel sehen wir das als eine Salamitaktik: Erst gibt es nur einige Tickets und Services ausschließlich digital. So kann das Unternehmen sich vorerst noch herausreden und auf andere Tickets verweisen, die noch ohne App erhältlich sind. Aber für die Bahn lohnt es sich natürlich, wenn sie die analogen Wege irgendwann abschaffen kann und diese Infrastruktur nicht mehr erhalten und pflegen, bzw. das Personal dafür finanzieren muss. Da sehen wir auf jeden Fall einen Trend, der sich weiter fortsetzen wird – wenn wir uns als Gesellschaft nicht entschließen, gegenzusteuern.

JW: Ja, selbstverständlich. Ich glaube, da findet gerade auch ein großes Umdenken statt. Ich würde behaupten, dass wahrscheinlich kaum jemand die Maßnahmen, die jetzt im Digital Markets Act (DMA) beschlossen wurden, vor einigen Jahren für politisch realistisch gehalten hätte. Das Gesetz schränkt die Möglichkeiten der ganz großen Tech-Unternehmen ein, ihre Funktion als Türsteher auszunutzen, um eigene Angebote zu bevorzugen und die Spielregeln immer zum eigenen Vorteil zu machen.

Ich glaube, dass dem ein großer gesellschaftlicher Diskurs vorausgegangen ist. Das Bewusstsein für das Manipulationspotenzial, das Konzerne wie Google haben, hat zugenommen. In den USA gibt es eine Strömung progressiver Kartellrechtler:innen, die als „New Brandeis School“ den schädlichen Einfluss von Monopolen auf unsere Demokratien betont. Immer häufiger taucht die Forderung auf – nicht nur von uns –, sehr große Digitalkonzerne zu entflechten. Und zwar nicht als Reaktion auf einzelne Vergehen, sondern weil diese Unternehmen eine so enorme Menge an Informationen über uns angehäuft haben – und damit eine so enorme Manipulationsmacht haben –, dass das nicht mehr mit unserer Demokratie verträglich ist. Im Fall von Google liegt das auf der Hand und auch Amazon ist ja gerade stark unter Druck.

Maßnahmen wie den DMA und auch den Digital Services Act (DSA) finden wir grundsätzlich begrüßenswert. Es wird in den nächsten Jahren spannend, wie schlagkräftig die Durchsetzung dieser Gesetze sein wird.

JW: Neben der unermüdlichen Aufklärungsarbeit, die wir und viele andere gemacht haben, gibt es sicher auch eine Reihe von Enthüllungen, die eine große öffentliche Reichweite bekommen und Bewusstsein für bestimmte Probleme geschaffen haben. Zum Beispiel der Skandal um die Wahlbeeinflussung durch Cambridge Analytica in den USA. Damals ist vielen klar geworden, dass personalisierte Online-Werbung nicht harmlos ist, dass es nicht nur darum geht, dass mir die Turnschuhe angezeigt werden, für die ich mich interessiere, sondern dass solche Werbung auch für gezielte politische Manipulation benutzt wird.

In den Jahren danach ist immer mehr über diesen Werbemarkt aufgedeckt worden. Eines der jüngsten Beispiele ist eine Recherche von Netzpolitik über den Datenmarktplatz Xandr. (Dachwitz 2023) Die Journalist:innen haben sich angeschaut, in was für Kategorien Leute dort eingeteilt werden – und festgestellt, dass die Kategorien nicht nur sehr feingranular, sondern ethisch mehr als fragwürdig sind. Sie können Ihre Werbung an konservative Rentner ausspielen lassen, an Minderjährige, an Betroffene von Brustkrebs, an Menschen mit Essstörungen, mit Geldsorgen, an Glücksspielsüchtige, an Menschen, die sich gerade scheiden lassen oder in der Menopause sind. Ich denke, da wird den meisten Menschen klar, dass diese Art von Kategorisierung nicht in meinem Sinne ist, weil ich dann nette Angebote bekomme, sondern, dass das massenhafte Sammeln solcher sensiblen Informationen für unsere Gesellschaft eine Gefahr darstellt.

Auch das Bewusstsein dafür, dass die Monopolisierung im digitalen Bereich ein Problem ist, steigt. Vorher hatten viele die Überzeugung, dass Google einfach ganz tolle Produkte hat und die Suchmaschine halt die beste ist – ein gerechtfertigtes Monopol sozusagen. Mittlerweile sagen immer mehr Leute, dass der Kipppunkt erreicht ist: Die Google-Suche wird immer schlechter, weil Google die Monopolstellung hat. Es gibt quasi keine Konkurrenz auf dem Markt und Google nutzt seine marktbeherrschende Stellung immer ungehemmter. Bei Amazon ist es vermutlich ein ähnliches Phänomen. Am Anfang haben alle gesagt: „Hurra! Eine Plattform, die alles miteinander verbindet. Wie großartig! Ist das nicht bequem?“ Dann wurden immer mehr kleine Händler aus dem Geschäft gedrängt, indem Amazon gezielt seine eigenen Angebote bevorzugt hat.

Es wird immer offensichtlicher, dass auch im digitalen Bereich Monopole weder der Gesellschaft und unserem demokratischen Frieden dienen noch sind sie marktwirtschaftlich gut. Denn am Ende führen sie auch zu schlechteren Produkten und Diensten.

JW: Ich glaube, das müssen wir in der pluralistischen Gesellschaft immer wieder miteinander neu aushandeln. Ich wünsche mir eine Digitalisierung, die mehr Möglichkeiten und Freiheiten schafft, nicht weniger. Um bei der Bahn zu bleiben und ein positives Beispiel zu nennen: Es gibt Versuche der Bahn mit Video-Schaltern. Das sind Geräte, die z.B. an einem Bahnhof stehen und wenn ich Beratung möchte, wird jemand vom Serviceteam per Video zugeschaltet. Das ist eine digitale Lösung, die auch Leute mitdenkt, die mit Smartphones oder mit Automaten nicht zurechtkommen. Manchmal hat man auch eine Frage, die einem kein technisches Gerät beantwortet und die in einer Computer-Telefonschleife nicht vorgesehen ist. Wenn es nur noch Chatbots mit vorgefertigten Antworten gibt, dann kann ich diese Frage nirgendwo mehr stellen – das ist sehr frustrierend.

In Bezug auf die Bahntickets kann ich mir auch gute digitale Lösungen vorstellen, die mir weniger Zwänge auferlegen. Die Tickets der Deutschen Bahn sind ja im Grunde genommen nur ein QR-Code. Warum soll ich diesen QR-Code in der App der Deutschen Bahn präsentieren? Warum kann sich die Bahn nicht ein System ausdenken, mit dem ich diese Informationen auf beliebige Art vorzeigen kann? Zum Beispiel auf einem uralten Smartphone oder Laptop mit einem PDF-Reader meiner Wahl, auf einem E-Book-Reader oder auf Papier. So könnten freie Open-Source-Apps entstehen, in die Tickets geladen werden könnten und die Fahrpläne anzeigen. Meines Erachtens gibt es keine sinnvolle Begründung, warum Bahnkund:innen genötigt werden müssen, diese eine App zu nutzen.

JW: Genau. Man könnte sich bei vielen Prozessen vorstellen, andere, kreativere Ansätze zu wählen. Der Trend geht aber, wie angesprochen, in eine andere Richtung: Man muss diese bestimmte App nutzen, die man nur im Google Play Store oder Apple Store herunterladen kann. Diese Digitalisierung ist eine Verengung. Das ist nicht die lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter, die wir uns wünschen.

Digitalcourage versteht sich als sehr technikaffin. Wir interessieren uns für Open Source, wir haben Lust, mit unseren Geräten herumzuspielen, unser Wissen und unsere Möglichkeiten damit zu erweitern. Aber ich habe den Eindruck, als Gesellschaft verstehen wir uns in Beziehung zu unseren Geräten immer mehr als reine Konsument:innen. Ich möchte aber nicht nur konsumieren, ich möchte mit meinem Gerät selbst etwas machen können. Das ist es auch, was der Begriff „Hacker“ ursprünglich gemeint hat: Die Dinge zweckentfremden, irgendwie ganz anders angehen, neu interpretieren, eine neue Lösung für ein Problem finden. Das Gerät mal kräftig schütteln und gucken, ob man es anders zusammenbauen kann. Ich glaube, dieses Spielerische geht uns gerade verloren. Wir erleben uns in Bezug auf unsere technischen Geräte immer seltener als selbstbestimmt handelnde Personen. Die technische Entwicklung verengt unsere Teilnahme auf, „Da ist der App-Store, da kann man was herunterladen, das kann man dann auf eine bestimmte Weise nutzen“. Vielleicht gibt es dann noch drei Einstellmöglichkeiten, aber unsere Systeme werden tendenziell immer geschlossener und der spielerische Geist geht uns verloren.

Wir sollten Technik wieder mehr als etwas begreifen, das von Menschen geschaffen und veränderbar ist, womit wir uns auch ausdrücken können. Das ist eine wichtige Grundhaltung für viele Lebensbereiche – darauf baut nicht zuletzt unsere Demokratie auf.

JW: Auf die Frage gibt es wahrscheinlich so viele Antworten, wie wir Mitglieder haben. Für mich bezieht sich der Name auf das, was ich Ihnen eben skizziert habe: Die Courage, die Welt – in unserem Fall vor allem die digitale Welt – aktiv beeinflussen und gestalten zu wollen. Eigene Ideen davon zu entwickeln und dafür zu werben.

JW: Digitale Mündigkeit bedeutet, Verantwortung für das eigene Handeln im digitalen Raum übernehmen zu können. Das ist ein wichtiges Konzept für uns und wir versuchen auf verschiedene Weise – unter anderem mit Anleitungen und praktischen Tipps – Leute zu ermutigen, sich Wissen und eine gewisse Urteilsfähigkeit über Digitales anzueignen.

Gleichzeitig ist mir bewusst, dass das stark von den jeweiligen Ressourcen abhängig ist, die ein Mensch zur Verfügung hat: zum Beispiel Bildung, Zeit und Geld. Das muss ich alles haben, um mich damit auseinandersetzen zu können. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag völlig ausgepowert bin, dann noch mein Kind ins Bett bringen muss, um danach die Küche aufzuräumen und meine Steuererklärung zu machen, dann habe ich wahrscheinlich wenig Energie übrig, um die Funktionsweise meines Messengers verstehen zu lernen.

Deshalb setzen wir uns als Digitalcourage auch dafür ein, dass digitale Grundrechte eingehalten und gestärkt werden. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wir führen eine Klage gegen die Deutsche Bahn, bei der es um das nicht abwählbare Sammeln und Weitergeben von Trackingdaten in der App geht. Man kann Smartphones so konfigurieren, dass Tracking weitestgehend unterbunden wird. Ein Personenkreis mit bestimmtem Wissen und Fähigkeiten kann so auf technischem Wege seine Privatsphäre wiederherstellen. Aber das reicht nicht. Denn ein Grundrecht zu haben, bedeutet, dass dieses Recht nicht davon abhängig ist, dass ich die Ressourcen habe, es selbst für mich einzufordern. Privatsphäre ist wichtig für unsere Demokratie und steht uns allen zu – unabhängig davon, ob jemand Zeit, Geld und Wissen hat, um darauf zu pochen.

JW: Dass Digitalisierung nicht schnell genug vorangeht, stimmt und stimmt nicht. Letztlich ist es völlig unterkomplex, von der Annahme auszugehen: je mehr Digitalisierung, desto besser. Digitalisierung ist kein Selbstzweck und hat keinen Wert an sich. Bestes Beispiel: Ich kann ganz viele iPads in Schulklassen verteilen; wenn ich aber kein pädagogisches Konzept dazu habe, dann ist das nicht besser, dann haben die Kinder nur Bildschirme. Es muss eine nützliche Digitalisierung sein, die auf eine gute Art und Weise gestaltet ist. Und es geht nicht darum, das möglichst schnell zu machen, sondern es möglichst gut zu machen. Wenn das zügig geht, dann ist es toll. Es ist wichtig, Digitalisierung nicht als eine Art Naturgewalt zu betrachten, die einfach über uns kommt. Wir müssen sie als einen Prozess begreifen, den wir alle gemeinsam gestalten sollten und gestalten können.

Dachwitz, Ingo (2023): Das sind 650.000 Kategorien, in die uns die Online-Werbeindustrie einsortiert [08.06.2023], https://netzpolitik.org/2023/microsofts-datenmarktplatz-xandr-das-sind-650-000-kategorien-in-die-uns-die-online-werbeindustrie-einsortiert/ [22.07.2024].

Digitalcourage (2024a): Petition gegen Digitalzwang vom 22.5.2024 [Webseite]. https://digitalcourage.de/blog/2024/petition-fuer-recht-auf-ein-leben-ohne-digitalzwang-gestartet [24.07.2024].

Digitalcourage (2024b): Formular Digitalzwangmelder. https://civi.digitalcourage.de/digitalzwangmelder [24.07.2024].

Tagesschau.de: Mehrere afrikanische Länder ohne Internet [15.03.2024]. In: https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/internet-ausfall-unterseekabel-100.html [24.08.2024].

Tangens, Rena (2023): Laudatio zur Preisverleihung an die Deutsche Post DHL Group [Webseite]. https://bigbrotherawards.de/2023/deutsche-post-dhl [29.07.2024].

Tangens, Rena & padeluun (2013): Google. In: https://bigbrotherawards.de/2013/google [24.08.2024].

Zuboff, Shishana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Witte, Julia & Eneia Dragomir (2024): Ein Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang. In: https://zevedi.de/ein-recht-auf-ein-leben-ohne-digitalzwang/ [28.08.2024].
https://doi.org/10.60805/6fph-8h98