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    Akzentfarbe: beige Autor: Benjamin Seibel Uncategorized Verantwortungsblog

    Fehler korrigieren, nicht vermeiden – Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen?

    Bei der Digitalisierung öffentlicher Leistungen zeigt sich exemplarisch, dass es nicht zielführend ist, wenn Vorhaben zwar formal absolut korrekt durchgeführt werden, aber nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen. Faktoren wie Geschwindigkeit, Lernfähigkeit, Adaptivität und Fehlertoleranz sollten hingegen künftig an Bedeutung gewinnen – es braucht ein neues Verständnis von verantwortungsvollem staatlichem Handeln.

    Fehler korrigieren, nicht vermeiden
    Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen?

    Bei der Digitalisierung öffentlicher Leistungen zeigt sich exemplarisch, dass es nicht zielführend ist, wenn Vorhaben zwar formal absolut korrekt durchgeführt werden, aber nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen. Faktoren wie Geschwindigkeit, Lernfähigkeit, Adaptivität und Fehlertoleranz sollten hingegen künftig an Bedeutung gewinnen – es braucht ein neues Verständnis von verantwortungsvollem staatlichem Handeln.

    Von Benjamin Seibel | 22.08.2024

    Mit Adobe Firefly generiert. Prompt: „kubistisches Gemälde; minimalistisch; Stadt, durch die viele verknüpfte Linien verlaufen“.

    An einem Nachmittag im Frühjahr 2015 entwickelte ich meine erste Open Data-App.1 Es handelte sich um eine kleine Kartenanwendung für Smartphones, die Menschen mit wenig Geld einen Überblick über staatliche Unterstützungsangebote und Ermäßigungen in Berlin bot. Die App war weder besonders raffiniert noch aufwändig in der Entwicklung, aber trotzdem sehr viel hilfreicher als das, was die Berliner Landesverwaltung über ihre Website an Informationen bereitstellte. Für mich handelte es sich um ein reines Hobbyprojekt, ich hatte Lust gehabt, meine eingerosteten Programmierkenntnisse etwas aufzufrischen und dachte, dann könnte ich mich auch gleich an etwas Sinnvollem versuchen.

    Nachdem ich aus verschiedenen Richtungen ermutigendes Feedback erhalten hatte, beschloss ich, das Gespräch mit der zuständigen Fachverwaltung für Soziales zu suchen. Ich wollte vorschlagen, dass man die App zu einem Teil des offiziellen Online-Angebots der Stadt machen könnte. Der freundliche Herr in der Behörde sagte mir, er freue sich immer über bürgerschaftliches Engagement, aber eine Integration in bestehende Systeme sei leider aus verschiedenen Gründen unmöglich. Ich dürfe die Anwendung gerne privat weiter betreiben. Das wiederum wollte ich nicht. Zum einen verursachte die Anwendung laufende, wenn auch überschaubare Kosten und sie benötigte eine regelmäßige Wartung, die ich nicht gewährleisten konnte. Vor allem aber klang mir das nach zu viel Verantwortung: Ein essenzielles Informationsangebot für potenziell hunderttausende hilfsbedürftiger Menschen bereitzustellen, schien mir als gelegentliche Freizeitbeschäftigung ungeeignet. Ich fragte den Beamten, ob es heutzutage nicht Aufgabe des Staates sein müsse, seinen Bürger:innen solche digitalen Angebote zu machen. Er lächelte nur sanftmütig.

    In den folgenden Jahren hatte ich Gelegenheit, mich eingehender mit dem Zustand der Digitalisierung im öffentlichen Sektor zu beschäftigen. Ich lernte etwa, dass es in Berlin eine lebendige „Civic Tech“-Community aus engagierten Menschen gab, die wie ich in ihrer Freizeit Ideen oder sogar funktionsfertige Applikationen für ein digitales Gemeinwesen entwickelt hatten, damit aber bei offiziellen Stellen selten Gehör fanden. Und ich lernte auf der anderen Seite eine öffentliche Verwaltung kennen, die zwar für viele Aspekte dieses Gemeinwesens Zuständigkeit beanspruchte, aber selbst regelmäßig an der Entwicklung funktionierender Online-Angebote scheiterte.

    Die Vermittlung zwischen beiden Welten erwies sich als schwierig. Auf der einen Seite eine lose Gemeinschaft aus Entwickler:innen, die ein hohes Maß an IT-Kompetenz mitbrachten, aber lieber drauflos programmierten als nach den komplizierten Regeln der Behörden zu spielen. Auf der anderen Seite eine Verwaltung, die im Zustand einer „Paralyse durch Analyse“ gefangen schien. Zwar setzte man sich auch dort intensiv mit dem Thema Digitalisierung auseinander, aber im Ergebnis wurde fast immer nur Papier produziert: Machbarkeitsstudien, Konzepte und Gutachten, wie Digitalisierung aussehen könnte gab es zuhauf. Zu einer tatsächlichen Umsetzung, also zur Entwicklung digitaler Angebote für Bürger:innen, kam es fast nie und wenn, waren die Ergebnisse meist katastrophal.

    Im Sommer 2019 gründeten wir aus der Technologiestiftung Berlin heraus das CityLAB, ein gemeinnütziges Innovationslabor für öffentliche Digitalisierung. Inspiriert vom pragmatischen Vorgehen der Civic Tech-Community schlugen wir vor, das Vorgehen bei der Entwicklung digitaler Angebote vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das CityLAB ist als Ort konzipiert, an dem die Gestaltung gemeinwohlorientierter Digitalisierung grundlegend anders gedacht und gemacht wird, als es sonst im öffentlichen Sektor üblich ist. Praxisnah und mit einer gewissen unbürokratischen Hemdsärmeligkeit, aber auch partizipativ, offen und von den Nutzenden her gedacht.

    Aus einem kleinen Pilotprojekt hat sich das größte Stadtlabor im deutschsprachigen Raum entwickelt: Finanziert durch die Berliner Senatskanzlei arbeiten heute mehr als 35 Beschäftigte im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof mit einem großen Netzwerk aus Verwaltungsbeschäftigten, Forschungseinrichtungen und der Stadtgesellschaft an zahlreichen Digitalisierungs- und Transformationsprojekten. Einige unserer erfolgreichsten Angebote, etwa die Plattform „Gieß den Kiez“, die Bürger:innen bei der Pflege von Stadtbäumen unterstützt, oder die KI-Suchmaschine „Parla“, die parlamentarische Vorgänge für ein breites Publikum nachvollziehbar macht, werden heute nicht nur von tausenden Berliner:innen genutzt, sondern auch von anderen Kommunen und Ländern adaptiert.

    Ein erster wichtiger Unterschied unseres Vorgehens liegt im so genannten „Rapid Prototyping“. Dabei geht es darum, vielversprechende Ideen innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums zu validieren, und zwar indem man sie einfach ausprobiert. Das mag banal klingen, steht aber dem üblichen Vorgehen der öffentlichen Verwaltung geradezu diametral entgegen. Während in der Verwaltung einem Digitalisierungsprojekt in der Regel eine monate- oder gar jahrelange Phase der Planung, Bedarfserhebung, Prüfung und Abstimmung vorausgeht, ziehen wir die ersten Entwicklungsschritte vor die bürokratische Klammer. Software-Prototypen im CityLAB entstehen binnen weniger Tage oder Wochen und werden anschließend in einem kontinuierlichen Dialog mit der Öffentlichkeit schrittweise verbessert (oder, auch das kommt vor, wieder verworfen).

    Das führt direkt zu einem zweiten Prinzip, dem partizipativen Arbeiten „im Offenen“. Weil die digitale Transformation der Stadt alle Bewohner:innen betrifft, ist es wichtig, möglichst viele unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Das machen wir zum einen über partizipative Prozesse und Austauschformate, die sich teils gezielt an sogenannte „stille“ Zielgruppen richten, also an Menschen, die üblicherweise nicht an klassischen Beteiligungsprozessen teilnehmen (Kinder, Wohnsitzlose, Geflüchtete etc.). Zum anderen durch eine konsequente Ausrichtung an Open Source-Prinzipien, weshalb alle Arbeitsergebnisse des Labs, von Workshopmaterialien über Softwarecode bis zur Projektdokumentation frei lizensiert und verfügbar gemacht werden. Das eröffnet grundsätzlich allen Interessierten die Möglichkeit, an unseren Projekten mitzuarbeiten. Bis heute ist unser Arbeitsplatz in Tempelhof zugleich ein öffentlicher Ort, an dem täglich interessierte Menschen aus Verwaltung und Stadtgesellschaft ein- und ausgehen, um sich über laufende Projekte zu informieren oder einfach gleich mitzumachen.

    Trotz Wachstums und einiger sehr erfolgreicher Projekte ist das CityLAB bis heute ein Experiment geblieben. Jeder Entwicklungsprozess dient in erster Linie dazu, mehr darüber zu lernen, wie die Gestaltung gemeinwohlorientierter Digitalisierung an der Schnittstelle von öffentlicher Hand und Bürger:innen gelingen kann. Insbesondere in der Zusammenarbeit mit Verwaltungen führt das bewusste Abweichen von sonst üblichen Prozessen aber nicht nur zu Erkenntnisgewinnen, sondern regelmäßig auch zu Reibungen und Konflikten. Die wiederum haben ihre Ursache auch in unterschiedlichen Vorstellungen davon, was unter „verantwortungsvoller“ Digitalisierung zu verstehen ist.

    Für Verwaltungen steht in der Regel die Rechtssicherheit an erster Stelle. Aus geltenden Gesetzen und Vorschriften ergeben sich bestimmte Prozessschritte für die Entwicklung eines digitalen Angebots, die dann einfach sukzessive abgearbeitet werden. Entscheidungen werden nicht in individueller Verantwortung, sondern durch die möglichst objektive Anwendung eines Regelwerks getroffen („es ist zu entscheiden“ statt „wir entscheiden“). Vor der eigentlichen Umsetzung liegt eine detaillierte Phase der Planung, die das Risiko, dass später etwas Unvorhergesehenes passiert, minimieren soll.

    Das klingt verantwortungsvoll, führt aber bei der Digitalisierung regelmäßig zu schlechten Ergebnissen. Aufgrund der hohen Komplexität sieht man sich bei der digitalen Produktentwicklung ständig mit Fragen konfrontiert, die noch nicht klar geregelt sind. Ein auf vorschriftsgemäßes Arbeiten ausgerichtetes System neigt hier zur Blockade, weshalb sich Digitalisierungsprojekte der Verwaltung regelmäßig um Jahre verzögern (und dann erst recht nicht mehr zeitgemäß wirken). Noch schlimmer kann es werden, wenn Vorschriften offensichtlich von der Realität überholt sind, aber trotzdem angewandt werden. Die beinah groteske Nutzerunfreundlichkeit mancher digitaler Verwaltungsangebote ist letztlich nur ein Ausdruck der Prozesse, in denen sie entstehen.

    Die Alternative, die wir im CityLAB verfolgen, ist die radikale Ausrichtung an den Bedürfnissen und Erwartungen der Nutzenden eines Angebots, die im klassischen Verwaltungshandeln erstaunlicherweise kaum eine Rolle spielt. Weil wir Arbeitsstände frühzeitig veröffentlichen, Zielgruppen einbeziehen und deren Feedback ernst nehmen, verlaufen unsere Entwicklungsprozesse deutlich weniger linear, sondern eher in sich wiederholenden Schleifen aus Entwicklung, Test, Lernen und Veränderung. So nähern wir uns schrittweise einer Lösung, die am Ende auch ganz anders aussehen kann als ursprünglich gedacht.

    Die Arbeit mit Prototypen, die noch nicht bis ins letzte Detail „zu Ende gedacht“ sind, sorgt in der Verwaltung immer wieder für Irritationen. Der Verzicht auf eine gründliche Detailplanung zugunsten eines offenen und adaptiven Umgangs mit Überraschungen erscheint aus ihrer Sicht riskant. Wir hingegen sehen in dieser Arbeitsweise einen Weg, Risiken zu reduzieren, weil sie, entsprechende Lernbereitschaft vorausgesetzt, frühzeitige Kurskorrekturen erlaubt. Der Faktor „Zeit“ spielt für uns also – auch das ein Unterschied zum klassischen Verwaltungshandeln – eine zentrale Rolle, denn ob eine Korrektur nach zwei Wochen oder erst nach zwei Jahren erfolgt, ist ein entscheidender Unterschied.

    Die dafür nötige Geschwindigkeit lässt sich jedoch nur erreichen, wenn man auch unter unsicheren Rahmenbedingungen und in Ermangelung klarer Vorschriften bereit ist, Entscheidungen zu treffen, die dann natürlich auch falsch sein können. Wichtig ist für uns aber auch nicht das Vermeiden von Fehlern, als vielmehr die Fähigkeit, sie schnell erkennen und korrigieren zu können. Ein grundlegender Wertekonsens, den man gemeinsam reflektieren und weiterentwickeln kann, sowie ein transparenter Umgang mit Unsicherheit bieten dafür oft bessere Grundlagen als ein starrer Vorschriftenkatalog.

    In meiner Gegenüberstellung wird eine grundsätzliche Herausforderung sichtbar, mit der sich unsere demokratischen Systeme heute konfrontiert sehen. Denn die Frage, wie öffentliche Institutionen unter sich immer schneller wandelnden Bedingungen überhaupt handlungsfähig bleiben können, stellt sich längst an verschiedenen Stellen mit großer Dringlichkeit. Bei der Digitalisierung öffentlicher Leistungen zeigt sich exemplarisch, dass es nicht zielführend ist, wenn Vorhaben zwar formal absolut korrekt durchgeführt werden, aber nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen. Wo hingegen Faktoren wie Geschwindigkeit, Lernfähigkeit, Adaptivität und Fehlertoleranz an Bedeutung gewinnen, benötigen wir auch ein neues Verständnis von verantwortungsvollem staatlichem Handeln, das sich dann vielleicht nicht mehr allein in einem Apparat aus Vorschriften begründen lässt.

    1. Darunter versteht man digitale Anwendungen oder Webseiten, die von der öffentlichen Verwaltung bereitgestellte oder gemeinfreie Daten nutzen. ↩︎

    Seibel, Benjamin (2024): Fehler korrigieren, nicht vermeiden – Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen? In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/fehler-korrigieren-nicht-vermeiden/ [22.08.2024]. https://doi.org/10.60805/6AXT-FM76


    Benjamin Seibel
    leitet das CityLAB, Berlins erstes öffentliches Innovationslabor, seit dessen Gründung im Jahr 2019. Zuvor betreute er Open Data-Projekte bei der Technologiestiftung Berlin. Er promovierte in Darmstadt und Harvard zur Mediengeschichte des E-Government und arbeitete als Journalist und Kurator u.a. in New York, Nicosia und Rotterdam und Frankfurt am Main.

  • Über den Blog
    Der ZEVEDI-Verantwortungsblog hat die Frage zum Gegenstand, wie gut es uns im Zusammenleben mit Digitaltechnologien geht. Er kommentiert die Ambivalenzen, die Steuerungsprobleme und die Vertretbarkeit des digitalen Wandels. Was an möglicherweise kritischen Technikfolgen (und Markteffekten) sollte man in den Blick nehmen und diskutieren? Wo sind Sorgen angebracht? Wie passt Digitalisierung zu Freiheit und Demokratie? Welche Regeln braucht eine digitale Gesellschaft? Wovon sollte – weil es kritisch werden könnte – die Rede sein?

    Es schreiben Autor:innen aus dem ZEVEDI-Netzwerk sowie Gäste darüber, was sie lernen und erforschen, was sie beunruhigt und was sie fasziniert.

    DOI: 10.60805/5c9w-7n74
    ISSN:  2943-9124