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Zahlen qua Iris-Scan – Ein Werkzeug der Geflüchtetenadministration im Dokumentationszentrum Flucht Vertreibung Versöhnung

Zahlen qua Iris-Scan – Ein Werkzeug der Geflüchtetenadministration im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Ein Beitrag von Caroline Marburger

30. April 2025

Wir sind im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Vor mir steht eine gemischte Gruppe Besucherinnen und Besucher, ich erläutere das Exponat. Jugendliche, Sci-Fi-Sequenzen im Kopf, nehmen das Modell, das einem Fernglas ähnelt, interessiert in Augenschein. Selbst bei jenen, die sich sonst um den Eindruck gelangweilter Nonchalance bemühen, glimmt ein Funken größerer Aufmerksamkeit auf. Datenschutzfreunde höheren Alters, die bisher freundlich interessiert dreinschauen, quittieren das Instrument mit einem Stirnrunzeln. Das Modell eines Irisscanners, der im Supermarkt des jordanischen Flüchtlingslagers Zaatari als Zahlstation verwendet wird, erntet als Ausstellungsobjekt des Dokumentationszentrums meist erstmal Verwunderung. Indes sind Skepsis und Irritation gute Ausgangspunkte für Vermittlung und Diskussion.

Caroline Marburger während einer Führung im Dokumentationszentrum Flucht Vertreibung Versöhnung.
Caroline Marburger während einer Führung im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Photo Credit: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung; Foto: Thomas Bruns

Mit der Eröffnung des Zentrums im Juni 2021 war genau das meine Aufgabe: Als Vermittlerin Besucherinnen und Besuchern die Geschichte von Flucht und Vertreibung näherzubringen. Und zwar insbesondere die Geschichte jener 12 Millionen, deren Geschichte wir meist summa summarum als Vertreibung der Deutschen aus dem Osten nach dem 2. Weltkrieg bezeichnen. Ihnen und ihrer Geschichte ist das Haus am Anhalter Bahnhof gewidmet. Ihrer Geschichte allein, chronologisch erzählt, ist ein eigenes Stockwerk vorbehalten, im anderen Stock werden die Erfahrungen dieses deutschstämmigen Flüchtlingsstroms weiter erörtert und mit globalen Aspekten von Flucht und Vertreibung im 20. und 21. Jahrhundert in Verbindung gesetzt – und zwar in separaten Themeninseln. Was hat sich in den letzten gut 100 Jahren getan? Was verbindet die verschiedenen Fluchterfahrungen? Was unterscheidet, was ähnelt sich?

Der Irisscanner ist Teil der Themeninsel „Wege und Lager“, konkreter des Themas Lageralltag. Die Ausstellung widmet sich hier insbesondere Fragen der Verwaltung, Versorgung und Registrierung von Geflüchteten. Aber selbst neben Lebensmittelmarken, Lochkarten, Registrationsarmbändern, Blechbesteck und improvisiertem Spielzeug überrascht das Bezahlen mit EyePay, so der Name auf dem Kassenbon, der unter dem Modell abgebildet ist. Es irritiert wohl weniger, dass ein Irisscanner im Museum als modernes, gefühlt gar futuristisches Werkzeug die technischen Veränderungen in der Flüchtlingsversorgung andeutet. Aber anders als die anderen Exponate – beispielsweise die Bilder von schlicht gekleideten Menschen in einer improvisierten, bestenfalls funktionalen Umwelt – widerspricht er der erwarteten Not-, Behelfs- oder Ersatzlogik eines Lagerbetriebs. Der Einsatz des Irisscanners in Jordanien konterkariert zudem die nach wie vor recht gängige Annahme technologischer Rückständigkeit des globalen Südens.

So war denn auch die häufigste Frage des Publikums: Ist eine solche „Zukunftstechnologie“ nicht sehr teuer? Also: Wer zahlt das? Etwa die Entwicklungshilfe? Ein klares Nein. UN-Organisationen wird die Technik kostenlos zur Verfügung gestellt. Anbieter ist IrisGuard, ein Unternehmen mit Hauptsitz bei London. Dessen Gründer Imad Malhas pflegt enge Verbindungen nach Jordanien, der dortige Unternehmenszweig liefert die Software und das Backend. Das Pilotprojekt wird zudem von der jordanischen Regierung unterstützt.

Eindeutige Identifizierung und zügige Versorgung

Im Museum wird deutlich: Bei der Verwaltung und Kontrolle von Geflüchteten hat es stets der Identifikation und Registrierung bedurft, einst durch papierne Dokumente, Fingerabdrücke oder Nummernsysteme, heute werden mancherorts auch biometrische Daten genutzt. So liegen in der Vitrine nebenan eine Indexkarte der Alliierten für deutsche Vertriebene aus dem dänischen Lager Kolding von 1945, eine Lebensmittelkarte für Kartoffeln aus einem Lager auf Fehmarn von 1948, ebenso ein moderner Fingerabdruckscanner aus den 2000er Jahren aus Italien, Lebensmittellochkarten des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) aus dem Südsudan und eine Prepaidkarte aus Jordanien, beides aus den späten 2010er Jahren. Ausweise und Berechtigungsmedien waren schon für die deutschen Flüchtlinge der Nachkriegsjahre entscheidend für den Zugang zu Nahrung. Identifizierung als Notwendigkeit, aber auch die fast vollständige Abhängigkeit Geflüchteter von Hilfsorganisationen und deren Versorgungsleistungen gilt damals wie heute. Ebenso, dass ihre Versorgung vor Ort eine großangelegte, oft international verflochtene und organisierte Aufgabe ist.

Lebensmittelmarke, Exponat im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung.
Lebensmittelmarke, Exponat im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Photo Credit: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung; Foto: Markus Gröteke

Im Begleittext vor der Vitrine wird erläutert, dass statt der gängigen Verteilung von Lebensmitteln zusehends Geldzuweisungen diskutiert und praktiziert werden, um einerseits die Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit von Geflüchteten zu erhöhen und andererseits Impulse für die lokalen Ökonomien der Aufnahmeländer zu schaffen.

Die Versprechen des Irisscans: Effizienz und Schutz vor Mißbrauch

Die Erfassung biometrischer Daten und Nutzung eines Irisscans zum Bezahlen verspricht zunächst Effizienz. Kein kleines Versprechen bei über 120 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit (Stand: Juni 2024), Tendenz steigend. Gerade die zahlreichen Geflüchteten ohne Papiere würden eindeutig erfasst, IDs können nicht gefälscht werden, betrügerische Mehrfachregistrierung – beispielsweise in Jordanien und im benachbarten Libanon – wird vermieden. Während sich der Fingerabdruck von Kindern und Jugendlichen wesentlich verändert, ist das bei der Iris kaum der Fall – angesichts von mehr als 50% Minderjährigen in Jordanien ein schlagendes Argument.[1] Die sofortige Identifizierbarkeit beschleunige auch die nötigen Hilfsleistungen nach der Ankunft.

Ein Blick in die Scangeräte an der Supermarktkasse reicht. Das System kommuniziert mit der Registrierungsdatenbank des UNHCR, die Zahlung wird autorisiert. Außerhalb der Camps ist die Zahlung mit Irisscan qua EyePay im Supermarkt über das World Food Program (WFP) und das sogenannte Building Blocks-Projekt gar an eine Blockchainlösung gebunden: Der direkte Zahlungsfluss ohne Umweg über ein Bankkonto spart dem WFP hohe Transaktionskosten. Daten über die gekauften Waren geben Aufschluss für zukünftige Liefernotwendigkeiten. Diebstahl wird ebenso verhindert wie das Abzweigen oder Erpressen eines Anteils durch zwischengeschaltete Dritte.

Was bedenkenswerte Lösungsansätze zu liefern scheint, legt aber auch einen Verdacht nah: Die Technologie antwortet auf einen bekannten oder vermuteten Missbrauch. Effizienzgewinn, das kann gut sein. Aber statt Unterstützung und Empowerment der Geflüchteten klingt das mehr nach „Überwachen und Strafen“.

Zieht man seinem so betitelten Buch folgend die analytische Brille des Philosophen Michel Foucault auf, erscheint der Irisscanner als ein Werkzeug der Verwaltung von Leben, das die Insassen, Bürger:innen oder Flüchtlinge nicht bestraft, aber diszipliniert. Und dabei gleichzeitig Wissen über die Kontrollierten generiert: Wissen, das die Macht der Kontrolleure weiter verstärkt. Was allerdings zur zentralen Frage führt, wer in diesem Fall diese Kontrolleure sind bzw. was mit dem so generierten Wissen geschieht.

Datenschutz und Zwang zur Datenerfassung

Biometrische Daten, seien es Irisscans oder Fingerabdrücke, zu erfassen, geht radikal weiter als frühere Methoden und erfasst in der modernen Datenökonomie weithin „nützlichere“ Daten. Alles ist global vernetzter, Daten werden potenziell international geteilt – und zwar in Sekunden. Das schafft logistische Schnelligkeit, aber auch eine Dringlichkeit und neue ethische Fragen, die eine lokale Registrierung auf Papier früher nicht mit sich brachte.

Denn eins ist in Flüchtlingslagern auch selbstverständlich: Es gibt keine andere Wahl. Registrierung bedingt die Anerkennung als Hilfsbedürftiger und ist damit der einzige Weg, die notwendige Hilfe zu bekommen. Diese biometrischen Daten werden also insofern zwangsweise erhoben. Und zwar in Ländern ohne DSGVO. Dass hier stets die nötige Aufklärung gewährleistet ist, die Daten unverbrüchlich sicher davor sind, weitergeteilt, zu kommerziellen Zwecken genutzt oder sicher nach einer bestimmten Zeit wieder gelöscht zu werden, das ist nicht umfassend gewährleistet. Ist diese Löschung in der EU für Straffällige, deren biometrische Daten erfasst wurden, rechtlich fixiert, ist für die meisten, die ihr Zuhause, womöglich ihre Familie wegen Krieg, Diktatur, Gewalt oder Naturkatastrophen verloren haben, bei weitem keine Gewissheit.

Wenn der Managing Director und Gründer von IrisGuard Imad Malhas damit wirbt, dass biometrische Bilder nicht gespeichert, sondern in verschlüsselte mathematische Templates überführt würden, die immer im Besitz ihrer Kunden blieben,[2] so stellt sich die Frage, wie besagte Kund:innen die Daten handhaben und nutzen. Vormalige Kund:innen von IrisGuard waren US-Gefängnisse, Grenzposten der Vereinigten Arabischen Emirate oder Antidrogen­einheiten der jordanischen Polizei. Und direkte Kund:innen sind in diesem Fall eben nicht die Geflüchteten, sondern der UNHCR und ggf. weitere Player.

Wer speichert, nutzt und teilt die Daten?

Zu einem Skandal kam es im Sommer 2021 – IrisGuard war hier nicht beteiligt -, als Human Rights Watch der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen vorwarf, in Bangladesch nicht nur biometrische Daten von geflüchteten Rohingya ohne informed consent, also ohne deren wissensbasierte Zustimmung gesammelt, sondern diese auch mit Behörden in Myanmar, also dem Land, in dem die Rohingya brutal verfolgt wurden, geteilt zu haben.[3] Auch wenn das UNHCR beteuerte, mehrfach die Zustimmung eingeholt und über die konkrete Nutzung – im Falle der möglichen Rückkehr – aufgeklärt zu haben, das Dilemma, so ergaben auch Interviews mit Betroffenen, blieb: Die Machtasymmetrie zwischen Geflüchteten und Hilfsorganisationen sowie Aufnahmestaaten verunsichert und lässt schutzsuchende Menschen im Glauben, eben nicht die Wahl zu haben – selbst wenn sie über entsprechende Rechte aufgeklärt werden.

Aufnahme aus dem Supermarkt im Geflüchtetenlanger Zaatari.
Aufnahme aus dem Supermarkt im Geflüchtetenlanger Zaatari. Foto der Autorin aus der Ausstellung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Angesichts der Mammutaufgabe, die Versorgung von Abertausenden von Flüchtlingen zu organisieren, will man die Vorteile in Sicherheit und Schnelligkeit auch nicht so einfach geringschätzen. Allerdings ist die Technik auch nicht fehlerfrei: Gilt der Irisscan für Jüngere als zuverlässiger als Fingerabdrücke, besteht bei Älteren oder Menschen mit Augenkrankheiten die Gefahr, dass sie nicht erkannt werden. Besonders vulnerable Gruppen werden so wieder systematisch benachteiligt.

Ökonomie der Flüchtlingslager und Post-Humanitarismus

Geflüchtete waren und sind in einem Lager eingebunden in eine lagerspezifische Ökonomie, die über Produkte, Infrastruktur und lokale Akteure mit der Wirtschaft, lokal, national, zusehends global verknüpft ist. Erfolg, Reichweite und Popularität des jordanischen Projekts waren auch damit verbunden, dass die Technologie eben nicht nur innerhalb der Lager zur Anwendung kam und kommt, sondern das Programm auch für jene 80% syrischer Geflüchteter relevant war und blieb, die nicht im Lager wohnten. Sie konnten qua WFP in Supermärkten außerhalb der Camps einkaufen. Und aufgrund der Kooperation mit der Cairo Amman Bank können sie an deren Geldautomaten ebenfalls qua Irisscan Bargeld abheben.

Wirtschaftliche Verstrickung in die ethisch meist fragwürdige „Bewirtschaftung“ von Lagern oder deren Ausnutzung als Testlabore hat historisch eine mindestens hundertjährige Geschichte. Falsche Analogien sind zu vermeiden, dienen ohnehin nur überhitzter Empörung, aber beim Test oder der Anwendung modernster Technologien innerhalb von Lagern ist historische Hellhörigkeit dienlich, um sich mögliche historische Beispiele und Strukturen vor Augen zu führen – und Vergleichbares zumindest nicht unwillentlich zu reproduzieren,[4] auch oder gerade wenn in den Lagern nicht per se „verdächtige“ oder „straffällige“ Subjekte interniert werden, sondern alles im Namen humanitärer Hilfe geschieht, die Technik allerdings andernorts insbesondere zur Strafverfolgung als legitim und dienlich gilt.

Folgt man Sophia Hoffmans Einschätzung, hat sich der Diskurs verschoben. Beispielsweise in Jordanien, das 1948 und 1967 Zehntausende palästinensische Geflüchtete aufnahm, die nun zu Millionen in Jordanien residieren, habe es vormals eine andere Art Flüchtlingskultur, Anwaltschaft für Flüchtlinge und Gastfreundschaft gegeben. Aber mit der irakischen Flüchtlingskrise von 2005 habe sich ein neuer Diskurs etabliert, der überhaupt erst mit der Ankunft des internationalen humanitären Apparats des UNHCR begonnen habe: Geflüchtete wurden jetzt vornehmlich als Belastung und als Sicherheitsproblem diskutiert.[5] Insgesamt stellt die Forschung eine verstärkte Verflechtung der Diskurse zu Flüchtlingen und humanitärer Hilfe mit Maßnahmen und Diskursen der Staatssicherheit fest.[6] Der Soziologe Marc Duffield, meint in seinem Buch „Post-Humanitariansm“, es zeige sich, dass Humanitarismus sich zusehends und problemlos mit existierenden politischen und ökonomischen Unterdrückungsstrukturen verbinde, und anstatt sie zu konterkarieren, sie vielmehr verschärfe.[7] Aus längerer, historischer Perspektive scheint das allerdings eher eine Wiederkehr althergebrachter Diskurse mit neuen technologischen Mitteln und somit neuen Strukturen, aber eben keineswegs ein gänzlich neues Phänomen zu sein.

Die Begeisterung der meisten Jugendlichen über die irgendwie coole Technologie dämpfen solche Zusatzinformationen zuweilen nur bedingt. Ein paar scheinen nachdenklich. Älteres Publikum signalisiert öfter Empörung, wenn sie hören, dass die Camps aus kommerzieller Sicht Testlabore in einem so großen Maßstab sind, dass das Produkt im Anschluss optimiert und erst recht weltweit vermarktet werden kann: Bezahlen ohne PIN, TAN oder PUK. Das Produkt wird erstmal kostenlos angeboten, der Einsatz dient aber einerseits der Werbung und Sichtbarkeit, zudem verdient das Unternehmen nachher pro Transaktion prozentual mit – hier muss es allerdings zunächst billiger sein als sonst involvierte Banken. Und wie soll die Zukunft aussehen? Nach Wunsch des Herstellers nutzen, was mittels Geflüchteter marktreif wurde, Kund:innen und Kunden rund um den Globus fürs private Banking zuhause.


[1] Siehe hierzu und für eine umfassende, kritische Einordnung des IrisGuard-Projekts auch: Christina zur Nedden / Ariana Dongus: Getestet an Millionen Unfreiwilligen, ZEIT online, 17. Dezember 2017.

[2] Siehe A Conversation with our Founder Imad Malhas:  Innovation, Financial Inclusion & eKYC Compliance, IrisGuard.com, 12. März 2025.

[3] Siehe zu diesem und anderen Beispielen Kerrie Holloway / Oliver Lough: Although shocking, the Rohingya biometrics scandal is not surprising and could have been prevented, ODI Insights.com, 28. Juni 2021.

[4] Siehe Jürgen Lillteicher; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Zusammenarbeit mit dem Fonds „Erinnerung und Zukunft“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Hrsg.): Profiteure des NS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte Reich“, Berlin 2006; Nikolaus Wachsmann: KL – Die Geschichte der deutschen Konzentrationslager, München 2015, S. 425ff. Für eine Geschichte von Verwaltung und Biometrie von kolonialer bis in die moderne Zeit siehe Keith Breckenride: Biometric State: the global politics of identification and surveillance in South Africa, 1850 to the present, New York 2014.

[5] Siehe Sophia Hoffmann: Refugee Rights Hit the Wall, Middle East Report (MER) 286 (Spring 2018).

[6] Siehe Nina Amelung: Crimmigration Control“ across Borders: The Convergence of Migration and Crime Control through Transnational Biometric Databases, Historical Social Research, Vol. 46 (2021), Issue 3, S. 151-177 (https://doi.org/10.12759/hsr.46.2021.3.151-177); Matthias Wienroth /Nina Amelung: ‚Crisis‘, control and circulation: Biometric surveillance in the policing of the ‚crimmigrant other‘, International Journal of Police Science & Management, Volume 25 (2023), Issue 3.

[7] Siehe Marc Duffield: Post-Humanitarianism: Governing Precarity in the Digital World, Cambridge 2018.

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NGI Taler und die Zukunft des digitalen Bezahlens

NGI Taler und die Zukunft des digitalen Bezahlens

Leo Wittmann im Interview mit Eneia Dragomir

23. Oktober 2024

Bezahlvorgänge finden zunehmend online bzw. digital statt. Das Taler Bezahlsystem ist mit dem Anspruch angetreten, Eigenschaften des Bargelds, wie anonymes Bezahlen, im digitalen Raum zu ermöglichen. Mit dem NGI Taler möchte die GLS Gemeinschaftsbank mit zehn weiteren Partnern dieses Bezahlsystem allgemein zugänglich machen. Wir haben mit Leo Wittmann von der GLS Bank über das Projekt, über die Einbindung der Zivilgesellschaft sowie über Micropayments gesprochen.

Herr Wittmann, warum interessiert sich die GLS Bank für das Taler-Bezahlsystem?

Wir sehen in GNU Taler ein Mittel, um selbstbestimmt online zu bezahlen. Und das ist beim digitalen Bezahlen vor allem eine Frage der informationellen Selbstbestimmung. Wir begreifen die Privatsphäre nicht als Hindernis, sondern als etwas Schützenswertes. Das Taler-System ermöglicht, in Echtzeit kostengünstig online zu bezahlen, während die Anonymität der Zahlenden wie beim Bargeld gewahrt bleibt. So möchten wir zur Zukunftssicherheit unserer Zahlungsinfrastruktur beitragen.

Was meinen Sie mit „Zukunftssicherheit“?

Das Bargeld ist die Basisinfrastruktur, die die EZB bereitstellt. Mit Bargeld kann man bislang aber nur im physischen Raum bezahlen – im Supermarkt oder am Kiosk zum Beispiel. Aber immer mehr Kaufvorgänge verschieben sich in den digitalen Raum. Genauso sollten wir die Qualitäten des Bargelds, wie Anonymität, in den digitalen Raum übertragen. Taler garantiert den Nutzer:innen technische Anonymität. Und wenn man auf die bisherigen Angebote am Markt schaut, dann steht das Taler-System mit dieser Eigenschaft ziemlich allein da.

GNU Taler, auf dem NGI Taler aufbaut, wurde schon als Grundlage für die Umsetzung einer digitalen Zentralbankwährung ins Spiel gebracht und auch die NGI Taler-Webseite thematisiert die Diskussionen um den Digitalen Euro. Das NGI-Taler-Projekt hat damit aber erstmal nichts zu tun, oder?

Genau. GNU Taler als Technologie kann auf verschiedene Weise verwendet werden: zur Umsetzung einer CBDC durch eine Zentralbank, zur Digitalisierung von Giralgeld oder als klassisches Zahlverfahren für den Privatsektor, wie wir das mit unserem Projekt vorhaben.

Wir haben grundsätzlich keine Aversion gegen den Digitalen Euro. Wir haben einen anderen Ansatz, aber GNU Taler und der Digitale Euro nehmen sich die Digitalisierung des Bargelds vor und sind deswegen eher als parallele Ansätze zu betrachten.

Ein Smartphone, auf dessen Display Münzen zu sehen sind - wie sieht die Zukunft des digitalen Bezahlens aus?
Wie sieht die Zukunft des digitalen Bezahlens aus? Bild: Erstellt mit Adobe Firefly.

Dennoch wird auf der Webseite das Taler-System als eine „privacy-respecting“ Alternative zu CBDCs in Spiel gebracht, die keiner „invasive practices“ bedürfe …

Die Schaffung anonymer Zahlungsmethoden im digitalen Raum halten wir für absolut notwendig. Wir schauen daher positiv auf alle Versuche, eine digitale Zentralbankwährung zu entwickeln, die diese Qualität des Bargelds online ermöglicht. Wenn wir uns aber die Zahlungsinfrastrukturen anschauen, die nach dem Bargeld gekommen sind, sehen wir einen beständigen Abbau der Privatsphäre. Es ist daher wichtig, dass die EZB ihre Aufgabe hinsichtlich dieser Basisstruktur erkennt und nicht den Status quo reproduziert, mit einer Art EZB-PayPal, das die Privatsphäre der Nutzer:innen ebenso exponiert wie Privatunternehmen. Das ist aber leider nicht die Entwicklung, die wir wahrnehmen. Die vorgestellten Konzepte für den Digitalen Euro gewährleisten keine technische Sicherung der Anonymität.

Weil wir diese Entwicklungen so wahrnehmen, ist NGI Taler nicht nur das Umsetzungsprojekt, um GNU Taler für alle verfügbar zu machen. Das Projekt soll auch die Diskussion um das digitale Bezahlen mitgestalten. Wir haben den Anspruch, eine der Stimmen zu sein, die die EZB daran erinnert, welche Eigenschaften des Bargelds beizubehalten sind.

Inwiefern wird die EZB dem nicht gerecht?

Das zeigt sich darin, dass die Anonymität zu einer Frage der politischen Ausgestaltung gemacht wird, statt sie durch das technische Design des Digitalen Euro zu garantieren. Wenn man auf andere Bereiche der Politik der EU-Kommission schaut, dann sehen wir, dass die Wahrung der Anonymität auch infrage gestellt wird, Stichwort: Chatkontrolle. Wenn es um das Zahlungssystem geht, das 400 Millionen Menschen nutzen sollen, sollte die Anonymität nicht nur von einer Absichtserklärung abhängen, sondern auch technisch garantiert sein. Das ist eine Frage der Resilienz der Zahlungsinfrastruktur. Das Taler-System würde Anonymität auch dann gewährleisten, wenn sich politische Strömungen durchsetzten, die die Anonymität der Zahlungen aufheben wollen.

Wenn Sie von „Resilienz“ sprechen, meinen Sie nicht die Möglichkeit einer Naturkatastrophe oder einen technischen Ausfall, sondern gewissermaßen eine politische Katastrophe?

Die technische Resilienz ist auch ein relevanter Faktor bei digitalen Formen des Bezahlens: Was ist, wenn der Strom ausfällt oder das Internet? Solche Überlegungen unterstreichen die Existenzberechtigung des Bargelds. Aber, insoweit es um die Sicherung der Anonymität geht, geht es einerseits um Persönlichkeitsrechte und mit Blick auf die aktuelle politische Entwicklung auch um einen Schutz vor autoritären Regierungen.

Auch so genannte Kryptowährungen werden auf der NGI Taler-Webseite genannt. Zu den Versprechen von blockchain-basierten Systemen wie Bitcoin gehört die Sicherung der Anonymität. Warum halten Sie diese Systeme nicht für zufriedenstellende Lösungen?

Da stellen sich verschiedene Probleme: Erstens gewährleisten Bitcoin und andere Kryptowährungen keine Anonymität, sondern allenfalls eine Pseudonymisierung. Wenn man die pseudonymisierten Transaktionen nur lange genug verfolgt, die ja alle öffentlich auf der Blockchain abgelegt sind, und die Zahlungsflüsse das Bitcoin-System wieder verlassen und in das klassische Geldsystem übergehen, dann findet dort wieder die Feststellung der Identität statt – und spätestens dann wird die Anonymität aufgehoben.

Zweitens streben wir als GLS Bank ökologische Nachhaltigkeit an. Kryptowährungen, zumindest die prominenten Beispiele, sind jedoch nicht ökologisch nachhaltig. Drittens stellen Kryptowährungen in Hinblick auf die Transaktionskosten und die Transaktionsraten, also die Geschwindigkeit von Zahlungen, keine guten Lösungen dar. Bitcoin eignet sich beispielsweise nur für größere Summen, da die Transaktionskosten für kleine Zahlungen viel zu hoch sind. Auch der so genannte hard cap, also die Festlegung, dass es nicht mehr als 21. Mio. Bitcoin geben darf, schränkt die Eignung von Bitcoin als Zahlungssystem erheblich ein, weil dem System die für den Zahlungsverkehr nötige Elastizität fehlt.

Ein weiteres Problem solcher Systeme besteht darin, dass wir im regulierten Finanzumfeld ganz konkrete Verantwortlichkeiten haben, die sich auf verteilte, also dezentrale Systeme nicht einfach übertragen und umverteilen lassen. Selbst wenn im regulierten Finanzbereich die Blockchain zur Anwendung kommt, fährt man häufig doppelspurig: Man hat eine Blockchain, aber man hat zugleich Systeme, mit denen man den regulatorischen Verantwortlichkeiten nachkommt.

NGI Taler soll vor allem im Micropayment-Bereich eine Rolle spielen. In einem anderen Interview haben Sie Verlagswesen, Presse und Gesundheitswesen genannt. Wie haben Sie diesen Bedarf festgestellt? Ist er an Sie herangetragen worden? Und warum sind gerade diese Bereiche interessant?

Der Bedarf ist uns aus der Community gemeldet worden, aus der sich das NGI Taler-Konsortium gebildet hat. Das Taler-System ist für Micropayments besonders geeignet, weil es in der Abwicklung sehr wirtschaftlich ist. Die technische Infrastruktur ist so anspruchslos, so schlank, dass wir Transaktionsraten, also eine Geschwindigkeit und Menge von Zahlungen, erreichen, die weit über dem liegen, was mit klassischen Systemen möglich ist. So können wir ganz neue Marktsegmente erschließen. Micropayments sind mit klassischen Zahlverfahren, aber auch mit PayPal nicht wirtschaftlich möglich, mit Kryptowährungen schon gar nicht. Wenn ich zum Beispiel eine App für 50 Cent verkaufen möchte, dann ist das wirtschaftlich kaum möglich, wenn ich Verfahren verwende, bei denen ich 10 Cent an Gebühren zahlen muss. Das verschlimmert sich, wenn eine Plattform zwischengeschaltet ist, die weitere Gebühren verlangt.

Wir glauben, dass wir mit dem Projekt die Finanzierungsmöglichkeiten von Künstler:innen, Kreativschaffenden, aber auch von Presseerzeugnissen und Journalist:innen erweitern können: Sie müssen ihre kreativen Erzeugnisse nicht mehr hinter einem Abo-Modell verstecken oder auf freie, dafür aber werbefinanzierte Modelle setzen, die dann wieder Probleme, wie Tracking, aufwerfen. Stattdessen können sie auf kleine Spenden setzen oder jeden Artikel direkt monetarisieren. Und das kommt auch den Konsument:innen zugute, denn die sind vielleicht auch daran interessiert, verschiedene Artikel von verschiedenen Zeitungen zu lesen. So möchten wir den Möglichkeitsraum in einer Weise erweitern, die nicht zu Lasten der Anbietenden geht, die sonst häufig allein die Gebühren schultern müssen.

Haben auch Privatkund:innen den Wunsch an Sie herangetragen, anonym digital bezahlen zu können?

Ja, dieser Bedarf wurde uns schon vor dem Start des Projekts gemeldet, schon 2019, als es noch um ganz andere Fragen ging. Schon damals haben wir zum Taler-Projekt Kontakt aufgenommen und uns angesehen, wie das System funktioniert. Den ersten Piloten haben wir 2021/22 getestet. Und wir sind da schon im Rahmen von quantitativen und qualitativen Interviews und mit Umfragen mit unseren Kund:innen in den Austausch gegangen. In diesen Umfragen hatte sich abgezeichnet, dass Privatsphäre und Anonymität gerade in unserer Kundschaft besonders hoch gewertet werden. Dass Privatsphäre und Anonymität den Menschen wichtig sind, haben auch die Umfragen der EZB bestätigt. Und das NGI Taler-Projekt erfährt immer noch sehr hohen Zuspruch.

Sie sagten in einem Interview in Bezug zur Gestaltung des Digitalen Euro, man sehe die Zivilgesellschaft nicht. Inwiefern ist das der Fall? Und wie kommt die Zivilgesellschaft in Ihrem Projekt ins Spiel?

Die EZB hat zwar Umfragen durchgeführt, aber man kann sich schon fragen, inwieweit solche Umfragen einen Austausch mit der Zivilgesellschaft darstellen. Auch die Workshops, die die Bundesbank ausgerichtet hat, hatten einen beschränkten Umfang.

Unser Projekt ist ganz anders angelegt. Die elf Mitglieder unseres Konsortiums sind sehr heterogen: Nur zwei Mitglieder sind Banken, neben der GLS Bank ist das die ungarische MagNet Bank. Unter den anderen Mitgliedern sind zwei Universitäten, verschiedene Unternehmen sowie Akteure aus der Zivilgesellschaft, auch aus dem netzpolitischen bzw. netzaktivistischen Bereich. Zum Beispiel Homo Digitales aus Griechenland, die Mitglied im Netzwerk European Digital Rights sind, oder die E-Seniors Association. Diese Stimmen fließen bei NGI Taler nicht erst nachträglich ein, sondern haben das Projekt und seine Strategie von Anfang an mitgestaltet.

Wie hat sich dieses heterogene Konsortium zusammengefunden? Gab es schon vor dem NGI Taler-Projekt Verbindungen?

Das waren tatsächlich Verbindungen, die bereits zuvor bestanden haben, und die für das Projekt aktiviert oder reaktiviert wurden. Dazu kam Taler Systems, das Schweizer Unternehmen, das das GNU Taler-System maßgeblich entwickelt. Mit Code Blau aus Berlin haben wir zuvor schon zusammengearbeitet. Auch mit der Berner Fachhochschule hatten wir schon Verbindungen und unsere Beziehungen zu den Akteur:innen aus der Finanzindustrie oder dem Bankenwesen haben wir als GLS Bank eingebracht. Das Konsortium hat sich also sehr organisch aus bestehenden Netzwerken zusammengesetzt.

NGI steht für Next Generation Internet – was ist das für ein Projekt und wie fügt sich das Taler-Bezahlsystem da ein?

Next Generation Internet ist eine Initiative der Europäischen Union im Rahmen des Horizon Europe-Projekts. Ziel der Initiative ist es, die Entwicklung eines menschenzentrierten Internets basierend auf Open-Source-Software voranzutreiben. Und was sowohl die EU als auch wir glauben – und was in der Förderung unseres Projekts zum Ausdruck kommt: faire Möglichkeiten des Bezahlens, die die Privatsphäre der Menschen schützen, müssen Teil dieses Internets der nächsten Generation sein.

Schlagworte, die im Zusammenhang mit dem NGI-Projekt immer wieder fallen, sind, „menschenzentriert“ und „demokratisch“. Was meint „menschenzentriert“ und inwiefern kommen Demokratiefragen ins Spiel?

Open Source oder freie Software wie Taler hat meines Erachtens etwas mit Demokratie zu tun, insofern als solche Eigentumsmodelle es ermöglichen, die Software anzuschauen, die unser tägliches Leben antreibt und am Laufen hält – vielleicht nicht Einzelpersonen, aber der Zivilgesellschaft. Es können Audits durchgeführt werden, die Software kann verändert und an bestimmte Bedürfnisse angepasst werden und sie kann vervielfältigt und breit zugänglich gemacht werden. Im Kontrast zu proprietären Anwendungen, also Software, die sich im Eigentum bestimmter Unternehmen befindet, ergibt sich daraus ein demokratisches Momentum.

Und was ist mit „menschenzentriert“ gemeint?

Es geht uns darum, zu fragen: Was sind die Bedürfnisse der Menschen? Und im Bereich des Bezahlens sehen wir das Bedürfnis, nicht als getracktes Individuum behandelt zu werden, das über gezielte Werbung gut monetarisiert werden kann. Ich möchte online bezahlen können, ohne dafür meine Privatsphäre offenlegen zu müssen. Menschenzentriert ist NGI Taler dann in dem Sinne, dass das die gestaltenden Merkmale der Anwendung sind.

Wann soll es Ihren Kund:innen möglich sein, das Taler-System für Zahlungen zu nutzen?

Das Projekt ist auf 36 Monate angelegt und das Ziel ist, Taler business ready zu bekommen, sodass das Verfahren im regulierten Finanzumfeld eingesetzt werden kann. Das ist die Aufgabe des ersten Jahres. Sobald wir dieses Ziel erreicht haben, wollen wir Taler in einem öffentlichen Piloten testen. Und Mitte 2025 möchten wir eine größere Öffentlichkeit ansprechen und Taler in die Hände europäischer Nutzer:innen geben.

Herr Wittmann, vielen Dank für das Gespräch!

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