„Wir brauchen ein, zwei, viele Tausende Mastodons“
„Extinction Internet“ hat der Netztheoretiker und -aktivist Geert Lovink seine Antrittsvorlesung betitelt. Droht dem Internet also die Auslöschung? Und was ist das überhaupt, das Internet – in Zeiten der großen Plattformen und großer nationaler Firewalls? Ist das Ende des Internets noch eher vorstellbar als dessen grundlegende Veränderung?
Von Geert Lovink | 09.05.2025

Verantwortungsblog: Herr Lovink, Sie wurden 2021 zum Professor of Art and Network Cultures an der Universität Amsterdam berufen. Ihre Antrittsvorlesung trägt den Titel „Extinction Internet“. Inwiefern drohte die Auslöschung des Internets?
Geert Lovink: Der Vergleich zum Artensterben ist jedenfalls nicht angesagt. Wenn wir über Extinction Internet reden, dann reden wir über das Internet als etwas, das mehr und mehr im Hintergrund verschwindet. Um eine Auslöschung des Internets geht es insofern, dass wir nicht mehr in der Lage sind, das Internet als eigenständiges Objekt zu sehen. Es wird nicht mehr darüber geredet, dass das Internet sich in diese oder jene Richtung entwickeln soll. Und da liegt das Problem, das ich versucht habe, zu thematisieren und zu theoretisieren.
Man kann sagen, das Internet war immer abstrakt, war immer nur eine ganz bestimmte und begrenzte Sammlung von Protokollen. Das ist eine Lesart. Für Firmen und Benutzer war es immer etwas anderes. Es ist eine Oberfläche, eine Webseite, eine Sammlung von Apps, etwas, was man auf dem Smartphone installiert und benutzt und so weiter. Wahrscheinlich ist das Internet für die fünf Milliarden Menschen, die es derzeit benutzen, vor allem das, eine Sammlung von Apps auf ihrem Handy.
V-Blog: Die Auslöschung betrifft die Diskussion um die Protokolle?
GL: Ja, die Auslöschung betrifft die Protokollseite, also die Ebene, auf der das Internet als Ganzes noch Gegenstand von Diskussionen um Entwicklungsrichtungen ist. Da passiert immer weniger. Vielleicht passiert sehr viel, aber wir kriegen es nicht mehr mit, es ist nicht mehr Teil der öffentlichen Aushandlung. Und das hat auch damit zu tun, dass das Internet immer stärker plattformisiert wurde. Die großen Player dieser Plattformisierung haben wichtige Positionen in den entscheidenden Internetgremien eingenommen. Google ist da der wichtigste Player. Google hat vor 20 Jahren damit angefangen, systematisch sehr wichtige Positionen einzunehmen, in der Internet Society (ISOC), in der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), in der Internet Engineering Task Force (IETF) und so weiter. Die Anzahl dieser Gremien, die bestimmen, wie das Internet sich weiterentwickelt, ist ja begrenzt. Und es gab eine Phase, in der die Zivilgesellschaft und NGOs versucht haben, da mitzuspielen. Diese Versuche wurden aufgegeben.
Gleichzeitig gibt es Länder wie Russland, China und andere, die dafür sorgen, dass das globale Internet nicht mehr so global ist. Das ist die Geopolitik des Internets und die ist ziemlich festgefahren. Auch da hat Stagnation eingesetzt. Wer ist zum Beispiel in der Lage, China zu irgendwas zu bewegen? Dazu ist das Land zu groß und zu mächtig. China hat eine große Firewall errichtet und verkauft diese Technologie weltweit. Damit ist die Abschottung zu einem Produkt geworden, das China in Afrika und in anderen Teilen der Welt verkauft.
V-Blog: Das Internet löst sich also in geopolitische Blöcke auf und in diesen abgeriegelten Blöcken gelten Sonderregeln?
GL: Ja. Aber was dabei wichtig ist, ist, dass die Diskussion über die Visionen für das Internet lahmgelegt ist. Vorher ging es noch darum, wie kann es sich weiterentwickeln? Mit Extinction Internet meine ich die Implosion dieses Möglichkeitsraums.
V-Blog: Entscheidend sind also die Protokolle, aber die Diskussion um diese Protokolle findet nicht mehr in der Öffentlichkeit statt? Und währenddessen berühren die Diskussionen, die in der Öffentlichkeit stattfinden eher eine oberflächliche Designebene?
GL: Ja, die Diskussionen berühren nicht mehr den visionären Bereich.
V-Blog: Man sieht also den Wald vor lauter Bäumen nicht, die Vielzahl der Apps verstellt den Blick darauf, dass sich auf dieser grundlegenden Ebene nicht mehr viel tut.
GL: Ja, und wir wissen alle, dass die Apps nicht mehr offen sind, die kann man nicht verändern. Man kann sie nur benutzen. Douglas Rushkoff hat mal gesagt, „program or be programmed“. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, diese Umgebungen selbst zu programmieren, werden wir programmiert. Und da sind wir angelangt.
Es kann sein, dass ich eine idealistische Sozialisierung erfahren habe, vor allem in den 1990er Jahren. Und da ist auch ein Stück weit eine Enttäuschung dieser Generation im Spiel, der ich angehöre. Extinction Internet ist sozusagen auch meine eigene Extinction, also die Auslöschung eines Diskurszusammenhangs, einer Art, über das Internet zu diskutieren. Was auch ausgelöscht zu werden droht, ist die Annahme, dass es dabei um Demokratie geht, um eine participatory culture, in der man sich nicht als Konsument betrachtet, sondern als aktiver Teilnehmer. Es dominiert längst etwas anderes. Man kann nur noch Liken, Swipen und vielleicht einen Kommentar hinterlassen.
V-Blog: Sie schreiben die unendlichen Möglichkeiten des Internets seien in einen „Plattform-Realismus“ gemündet. Was ist damit gemeint? Wodurch zeichnet sich dieser Plattform-Realismus aus?
GL: Die Plattform-Logik ist aus der Vernetzung entstanden. Was das bedeutet, müssen wir erstmal festhalten. Es gab soziale Netze, soziale Vernetzung und den Begriff der Netzgesellschaft. Diese Vernetzung hat man sich als horizontale gedacht, als eine Vernetzung von Netzen. Es gab zwar auch damals größere Knoten und kleinere, aber die Idee war, dass ein loser Zusammenhang von größeren und kleineren Netzen sich ergeben hat und sich dynamisch weiterentwickelt.
Die Plattform-Logik ist damit unvereinbar, sie ist viel stärker zentralisiert und im hegelschen Sinne eine Totalität, die auch so erfahren wird. Innerhalb einer Plattform gibt es eigentlich alle und alles. Alle sind da und alles, was gemacht werden kann, verhandelt werden kann, gesagt werden kann, produziert werden kann, findet innerhalb dieser zentralisierten Plattform statt. Das ist die Totalität der Plattformen. Die Plattform kann eigentlich im Grunde alles, was wir wünschen. Alles, was wir suchen, ist auf der Plattform und wenn es nicht da ist, wird es morgen entwickelt und angeboten, alles spielt sich innerhalb der Grenzen der Plattform ab. Das heißt, es soll keinen Anlass geben, von den Plattformen wegzugehen. Die Idee der Verbindung hat darin keinen Platz. Die Idee, dass man einen Link nach außen setzt, damit ich von System A zu System B komme, wird aktiv bekämpft. Ziel ist, die Menschen auf der Plattform zu halten.
Man kann sagen, gut, es gibt aber noch verschiedene Plattformen und das stimmt. Aber das hat damit zu tun, dass die Plattformen bestimmte Segmente des Internets geradezu monopolisiert und unter sich aufgeteilt haben. Amazon als größte Plattform bietet vor allem Produkte und Services an, Meta dominiert den Bereich des sozialen Austauschs und Google den der Wissens- und Informationsbeschaffung. Ich skizziere das jetzt nur sehr grob. Diese großen Plattformen stehen miteinander nicht im Wettbewerb. Zwischen ihnen gibt es keine Konkurrenz mehr. Konkurrenz findet innerhalb der Plattformen statt. Wenn ich auf Amazon gehe, um ein Buch zu kaufen, dann kann ich ein Buch von Suhrkamp kaufen oder eins, das im Fischer Verlag erschienen ist. Da gibt es die Konkurrenz Suhrkamp gegen Fischer, aber die findet auf Amazon statt.
V-Blog: Also das Internet als Network of Networks fällt auseinander in geopolitische Blöcke. Und diese Blockbildung findet auch mit den Plattformen statt. Also das Network of Networks zerfällt auch in verschiedene Plattformen.
GL: Ja, stimmt.
V-Blog: Sie haben den Begriff platform realism in Anlehnung an Mark Fishers Begriff des „capitalist realism“ geprägt, oder?
GL: Ja, denn beides hängt zusammen. Was Mark Fisher als kapitalistischen Realismus beschrieben hat, hat auch mit der Implosion des Vorstellbaren zu tun. Fisher beschreibt ein geschlossenes Universum, aus dem es keine Ausstiegsperspektive mehr gibt. Es gibt keine Perspektive für eine grundlegende Veränderung mehr. Und das hat mentale, gesundheitliche Auswirkungen, die sich bei jungen Menschen immer mehr zeigen. Seit „Sad by Design“, das Buch ist 2019 erschienen, dreht sich meine Arbeit sehr darum, diese mentalen Implosionseffekte des „platform realism“ zu beschreiben. In der Tat in Annäherung an Mark Fishers Buch, der darin den mentalen Kollaps sehr gut beschrieben hat, der eintritt, wenn eine Alternative nicht mehr vorstellbar ist.
V-Blog: Im Zusammenhang mit Mark Fisher fällt oft auch der Satz, es ist leichter, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Gilt das auch für das Internet? Ist es leichter, sich die Auslöschung des Internets vorzustellen als ein grundlegend anderes Internet?
GL: Ja, es ist leichter. Und vielleicht kommt Extinction Internet auch da her. Wenn es keine Möglichkeiten mehr gibt, sich andere Modelle vorzustellen, stürzt das ganze Gebäude ein. Und solche Ideen sind nicht in Sicht. Ich glaube an die kollektive Vorstellungskraft und wenn die nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr in der Lage ist, sich zu organisieren, zu äußern und Alternativen aufzubauen, kommen wir in eine Phase der Stagnation und Regressionen. Dann läuft sich alles fest.
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich das Ende des Internets vorzustellen: Einerseits als schnellen Absturz, als einen Prozess, der sehr schnell verläuft. Das ist die Vorstellung vor allem der jungen Generation. Das zweite Szenario ist, dass dieser Absturz ein ganz, ganz langsamer und schmerzhafter Prozess ist. Und die Aufgabe meiner Generation ist, zu zeigen, dass die Stagnation jahrzehntelang dauern wird.
V-Blog: „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit, 1977/78 erschienen, und „Masse und Macht“ von Elias Canetti, erschienen 1960, sind zwei für Sie wichtige Werke. Inwiefern können uns diese Werke helfen, die heutige Lage des Internets zu verstehen?
GL: Beide Werke sind nach wie vor wichtig. Ich habe es immer als meine Aufgabe angesehen, diese Analysen für die digitale Welt nutzbar zu machen, denn für Canetti und für Theweleit war die Medienfrage noch die klassische Frage von Massenmedien und von Repräsentation. Aber mit den sozialen Medien ist die Medienfrage eine sehr, sehr intime Frage geworden. Es reicht nicht mehr, Massenmedien wie Zeitungen zu analysieren und beispielsweise aufzuzeigen, welche Deutungen die Springerpresse verbreitet. Mit den sozialen Medien geht es nicht nur um Öffentlichkeit, sondern um den alltäglichen und intimen Austausch der Menschen, um ihr direktes soziales Umfeld, um Freunde und Familie. Da wird es sehr persönlich und das Medium wird buchstäblich auf der Haut getragen, wenn wir an das Smartphone in der Tasche denken. Und das ist ein Aspekt, den ich in eine Theorie des späten 20. Jahrhunderts einbauen möchte, um Theorien wie die von Canetti und Theweleit zu aktualisieren.
Vor allem bei Theweleit sieht man, dass er unter dem Einfluss der französischen Philosophie und Psychoanalyse die Verführungsprozesse der Macht als etwas versteht, was innerhalb des Körpers, in seinem Fall des männlichen Körpers, vor sich geht. Und das ist auch heute der Fall. Seit 2016, diesem wichtigen Umschlagpunkt mit dem Brexit, mit Trump und mit dem Erstarken des Rechtspopulismus, sieht man, dass wir eine neue Fassung der Männerphantasien brauchen, in der zum Beispiel Jordan Peterson, Nick Land und viele andere im rechten Spektrum eine wichtige Rolle als Ideengeber für junge Männer spielen.
V-Blog: In einer Meldung von Mark Zuckerberg, die vor Kurzem auf Social Media zirkulierte, ging es darum, dass Meta dem Beispiel von Elon Musk folgt und die Moderation der Inhalte einstellt. Könnte das dazu führen, dass X, Facebook und Co immer mehr zu Kanälen werden, auf denen Männerphantasien im schlimmsten Sinne zirkulieren?
GL: Das sind sie schon. Und dazu werden sie mehr und mehr. Da nehmen ganz regressive Tendenzen zu. Das liegt daran, dass diese Männer mittlerweile das Geld haben, die sozialen Netzwerke so zu gestalten. Denn aufgrund der Plattformlogik konnten sie die dazu nötige Macht und das Kapital anhäufen. Und jetzt fangen sie an, diese Ressourcen strategisch für ihre Zwecke einzusetzen.
V-Blog: Sie meinen, dass eine aktualisierte Version der Psychoanalyse ein Baustein der Kritik an der derzeitigen technisch-sozialen Lage sein müsse. Inwiefern hilft uns eine psychoanalytisch informierte Kritik zu verstehen, was in den Netzkulturen vor sich geht?
GL: Mein Sohn wird bald 23 Jahre alt. Ich habe seine Generation aufwachsen sehen und bemerkt, wie offen, im naiven Sinne offen sie Verschwörungstheorien gegenübersteht. Diese Generation ist nicht rassistisch oder sexistisch, das glaube ich nicht, aber sie ist sehr offen für Verschwörungserzählungen. Und sie erfahren, dass sie in diesem Plattformknast sitzen und keine richtige Wahl haben, weil sie abhängig davon geworden sind. Sie sind nicht im medizinischen Sinne süchtig, aber sie sind mental und sozial davon abhängig. Mit negativen Folgen. Deswegen ist „brain rot“ auch das Wort des Jahres 2024 geworden. Diese mentalen Abhängigkeitsprozesse führen dazu, dass es vor allem für diese Generation nicht so einfach ist, auszusteigen. Und die Frage ist, was passiert mit der Kritik, der Erschöpfung und mit der Wut, wenn es keine Möglichkeit für eine grundlegende Veränderung gibt? Das ist ein Problem.
Ich sage nicht, dass die Beschreibung dieser Prozesse dazu führt, dass wir eine Alternative entwickeln können. Leider ist das nicht so. Das habe ich feststellen müssen und es war schmerzhaft, die Gewissheit aufzugeben, dass mit der richtigen Theorie schon der Schlüssel gefunden oder erfunden ist, um zu Veränderungen zu kommen. Meine Forschung in diesem dunklen Raum führt eigentlich zu nichts. Und das ist das eigentliche Ergebnis: die Stagnation. Sie ist das Problem. Aber es ist nicht so, dass uns die richtige Analyse aus der Stagnation herausführen wird. Und es fühlt sich manchmal ein bisschen schizophren an, dass ich mich immer noch der Analyse und der theoretischen Durchdringung der Netzkulturen widme. Aber die Hälfte meiner Zeit verwende ich für den Aufbau von Alternativen.
V-Blog: Es gibt also Alternativen?
GL: Ja, und das ist die positive Nachricht: Es gibt sehr viele Alternativen. Es gibt sehr viele Versuche, sich anders zu organisieren. Zum Teil sind das Projekte, die vor 20, 30 Jahren begonnen wurden und mittlerweile in Vergessenheit geraten sind. Es gibt alternative Projekte, an denen Leute Jahrzehnte gearbeitet haben und die jetzt so weit sind, dass sie von vielen Menschen benutzt werden könnten.
Es gibt auch ganz neue Ansätze und darunter zähle ich den ganzen Krypto-Bereich, der in dieser Form vor 30 oder 40 Jahren nicht vorhanden war. Die Idee alternativer Wirtschaftsformen gab es schon, aber die Idee alternativer Währungen oder das Nachdenken über neue Geldformen halte ich nach wie vor für revolutionär und neu.
V-Blog: Meinen Sie auch Ansätze wie Mastodon oder das GNUnet?
GL: Ja, es gibt unendlich viele größere und kleinere Beispiele. Mastodon ist nur eines, aber Mastodon ist eigentlich selbst ein Netz von Netzen, ein Protokoll. Viele begrüßen die Interoperabilität, ich auch. Denn Interoperabilität bedeutet, dass man die virtuellen Mauern der Plattformen einreißt.
Wichtig ist jetzt aber vor allem, dass solche Alternativen gelebt und belebt werden. Wir haben genug Entwürfe, die sind nicht das Problem.
V-Blog: Gibt es also die Perspektive, dass man aus X wieder einen nicht eingemauerten Garten machen kann? Oder gibt es nur die Möglichkeit, die Plattform zu verlassen?
GL: Die Möglichkeit gibt es durchaus. Aber man sollte zuerst darüber diskutieren, ob diese Systeme mit oder ohne Algorithmen funktionieren sollten oder funktionieren können. Kann man sich Alternativen vorstellen, die nicht mehr von Algorithmen bestimmt werden? Oder gibt es alternative Algorithmen? Darüber erfahren wir nicht viel. Kann man in dieser enormen Informationswüste, die wir jeden Tag erzeugen, überhaupt noch ohne Algorithmen navigieren? Ich möchte, dass wir diese Diskussion beginnen. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach.
Deswegen brauchen wir viele neue Experimente. Wir brauchen ein, zwei, viele Tausende Mastodons. Es geht nicht darum, dass die Leute von Facebook zu Mastodon wechseln. Es geht darum, dass wir viele Experimente starten, damit wir beobachten können, wie die Beantwortung dieser Algorithmen-Frage aussehen kann. Natürlich gibt es einen Wunsch aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, ganz ohne Algorithmen auszukommen. Aber was heißt das? Zum Beispiel, wenn es um Suchmaschinen geht – geht das überhaupt? Ich denke eher nicht. Möchten wir im Netz personalisierte Umgebung haben? Oder wollen wir personalisierte Umgebungen bekämpfen?
V-Blog: Mit Bitcoin und Blockchain ist auch das Versprechen verbunden, das Internet wieder zu demokratisieren. „Web 3.0“ ist da das Stichwort: Das Internet soll wieder den Nutzer:innen gehören. War das ein falsches Versprechen oder ist da noch was dran?
GL: Das alles liegt noch vor uns. Aber man kann sich fragen, warum die Implementierung aufgegeben worden ist. Warum gibt es keine Experimente in diese Richtung? Das wundert mich. Im realexistierenden Kapitalismus kommen manche Innovationen nur sehr schleppend voran. Wir verbinden Innovation mit Geschwindigkeit, aber die ist in diesem Bereich nicht bemerkbar. Es wurde sehr viel entwickelt, aber nichts implementiert.
Was da aufgebaut wird, ist eigentlich eine Parallelwelt. Auch da ist der Glaube stark, dass das alte System einfach nicht von innen innoviert und erneuert werden kann, sondern zuvor einstürzen muss. Der Krypto-Sektor wird als Parallel-Wirtschaft für den Fall aufgebaut, dass das globale Wirtschafts- und Finanzsystem einstürzt. Das ist eigentlich das Szenario. Aber die Idee, dass neue Ansätze ganz langsam über eine experimentelle Implementierungsphase zum Mainstream werden, sehe ich nicht. Das habe ich so nicht erwartet. Ich habe mit einer anderen Dynamik gerechnet.
V-Blog: Mit der Free and Open-Source Software oder FOSS-Bewegung verbinden viele die Hoffnung auf ein anderes Internet. In Ihrer Antrittsvorlesung meinen Sie, dass diese Bewegung moralisch bankrott sei. Warum?
GL: Der Plattform-Kapitalismus läuft auf Free and Open-Source Software. Dass muss sich diese Szene erstmal eingestehen. Das ist aber tabu. Es gibt da wenige, die sich eingestehen, dass alle, Google, Microsoft, Amazon, nur wegen Free and Open-Source Software groß werden konnten. Und das heißt, dass die FOSS-Bewegung mitverantwortlich ist für die Lage, in der wir uns befinden. Sie hat die Zentralisierung und die Monopole aktiv mitaufgebaut.
Natürlich gibt es auch viele Leute, die sich dagegen gewehrt haben. Ich sage nicht, dass alle moralisch bankrott sind. Aber die öffentliche Diskussion über diese Verstrickung hat noch nicht stattgefunden. Solange das der Fall ist, glaubt man einfach, dass die kleinen, netten Initiativen irgendwann doch die Überhand bekommen. Aber das ist in den letzten 20, 25 Jahren nicht passiert. Das Gegenteil ist passiert. Und das müssen wir diskutieren und reflektieren, bevor wir weiterkommen. Man kann das nicht einfach ignorieren und weiterhin auf Free and Open-Source Software setzen. Man muss reflektieren und neue Ansätze finden, denn im Moment ist die FOSS-Bewegung moralisch bankrott. Die Prinzipien vielleicht nicht, aber es geht nicht um Prinzipien. Es geht um die schmutzige Wirklichkeit.
V-Blog: Ist soziale Vernetzung jenseits der Plattformen und ihrer Logik überhaupt noch möglich?
GL: Ja, ich bleibe da optimistisch, weil ich hier am Institut erlebe, was es heißt, wenn man über 20 Jahre die Zeit hat, sowas richtig aufzubauen. Und die vielen Leute, die direkt oder indirekt mit unserem Institute for Network Culture daran arbeiten, die erfahren das auch so.
Hannah Arendt hat betont, dass es immer die Möglichkeit gibt, neu anzufangen. Sie beschreibt sehr schön die Kraft neu anzufangen und ich denke, dass vor allem viele junge Leute das so erfahren werden. Wenn man, so wie ältere Menschen und Influencer, sehr lange daran gearbeitet hat, seine Reputation auf den existierenden Plattformen aufzubauen, dann fällt es einem schwer, sich radikal davon zu verabschieden. Für junge Leute gilt das aber nicht so. Und deswegen glaube ich, dass wir vor allem auf diese Generation achten und beobachten sollten, wie sie damit umgehen. Sie werden zwar von den mentalen Abhängigkeiten und Problemen belastet, aber ich glaube, die jungen Menschen haben die Möglichkeit, das zu überwinden.
Und das kann nur gemeinsam gelingen, als eine kollektive Anstrengung. Ich glaube nicht, dass es individuell geht. Dafür sind die zentripetalen Kräfte, um auf diesen Plattformen zu bleiben, viel zu groß.
V-Blog: Herr Lovink, vielen Dank für das Gespräch.■
Das Gespräch wurde am 10.01.2025 geführt.
Zitiervorschlag
Lovink, Geert (2025): „Wir brauchen ein, zwei, viele Tausende Mastodons“. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/wir-brauchen-ein-zwei-viele-tausende-mastodons/ [09.05.2025]. https://doi.org/10.60805/dmqt-cw72.