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    Akzentfarbe: blau Autor: Annekathrin Kohout Verantwortungsblog

    Wir User – Über Verantwortlichkeit in der Reaktionskultur

    Like, share, comment – die meisten Nutzer Sozialer Medien bemühen sich gar nicht darum, viralen oder irgendwelchen anderen Content zu produzieren, doch es braucht sie dennoch: die einfachen User, die durch ihr bloßes Reagieren Algorithmen beeinflussen, Aufmerksamkeit stiften oder verwehren und damit Diskurse und Debatten mitgestalten. Solche Reaktionen und die sich daraus ergebende Reaktionskultur trägt auch zu dem bei, was als „Verrohung“ der Onlinedebatten beobachtet wird. Es stellt sich die Frage nach Verantwortung.

    Wir User –
    Über Verantwortlichkeit in der Reaktionskultur

    Like, share, comment – die meisten Nutzer Sozialer Medien bemühen sich gar nicht darum, viralen oder irgendwelchen anderen Content zu produzieren, doch es braucht sie dennoch: die einfachen User, die durch ihr bloßes Reagieren Algorithmen beeinflussen, Aufmerksamkeit stiften oder verwehren und damit Diskurse und Debatten mitgestalten. Solche Reaktionen und die sich daraus ergebende Reaktionskultur trägt auch zu dem bei, was als „Verrohung“ der Onlinedebatten beobachtet wird. Es stellt sich die Frage nach Verantwortung.

    Von Annekathrin Kohout | 21.11.2024

    Titelbild Daumen nach oben
    Erstellt mit Adobe Firefly, Prompt: „create a cubistic image of interaction symbols in the web, like share, like and thumbs up“

    In kulturkritischen Texten und Debatten, insbesondere im Zusammenhang mit den Auswirkungen von Sozialen Medien, lassen sich zwei gegensätzliche Vorstellungen von Usern ausmachen. Zum einen gibt es die User als passive, leicht beeinflussbare Masse, „ähnlich unterkomplex wie Schwärme oder Horden“. (Türcke 2019, 13) Dieses Bild stellt User als empfängliche Konsumenten dar, die willenlos Informationen und Inhalte aufnehmen und durch Algorithmen, Werbung oder Desinformation sowie durch emotionale oder reißerische Inhalte leicht gelenkt werden können. Zum anderen existiert die Vorstellung des Users als manipulativem Akteur. Hier wird das gegenteilige Szenario gezeichnet, in dem User bewusst und gezielt Handlungen ausführen, um andere zu täuschen. Sie werden nicht als reaktive „Schwärme“ dargestellt, sondern als proaktive Anführer, die absichtlich Desinformation verbreiten, Verschwörungstheorien vorantreiben oder gezielt Einfluss auf politische und gesellschaftliche Diskurse nehmen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Diese Vorstellung ist häufig mit Debatten über Fake News, Trolle oder Rechtspopulismus in den Sozialen Medien verbunden.

    Die meisten Menschen, die tagtäglich ihre Instagram-, X- oder TikTok-Feeds durchforsten oder eigene Inhalte erstellen, würden sich wohl keinem dieser beiden Extreme zuordnen. Betrachtet man Kommentare und Berichte darüber, wie Soziale Medien erlebt werden, stößt man vielmehr auf durchaus reflektierte und kritische Auseinandersetzungen mit dem Einfluss von Algorithmen, Werbung und Falschnachrichten. Eine solide Medienkompetenz lässt sich zudem leicht an alltäglichem Content von reichweitenstarken Influencern erkennen. Diese setzen Fake-Informationen oft spielerisch ein, um sie bewusst als Täuschung zu entlarven, statt sie als Wahrheit zu tarnen. So werden beispielsweise Inhalte zu ‚Trigger‘-Themen wie Schönheitsoperationen oder eine Beziehung mit großem Altersunterschied genutzt, um Empörung zu provozieren. Doch bei genauer Betrachtung entpuppen sich diese Inhalte oft als humorvolle, mit Filtern oder Behauptungen verzerrte Darstellungen. Solche strategischen Fakes zeugen von einem relativ aufgeklärten Umgang mit Falschinformationen – zumindest dann, wenn die User bereit sind, sich die nötige Zeit für die Entlarvung zu nehmen und die anfängliche Empörung kritisch zu hinterfragen.

    Während die Produktionen anderer also insgesamt recht gut beurteilt und auch kritisch hinterfragt werden können, bleibt eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als aktive User oftmals noch aus. Die stereotypen Charakterisierungen von passiven Usern einerseits und manipulativen Usern andererseits berühren aber eine zentrale Frage: Wie verantwortlich sind wir für die Inhalte, die wir in den Sozialen Medien konsumieren und verbreiten? Im Fall der passiven User wird deutlich, wann wir es versäumen, Verantwortung zu übernehmen. Im Fall der manipulativen User zeigt sich, wie Verantwortung bewusst abgelehnt oder sogar absichtlich verweigert wird. Für diejenigen, die sich keinem dieser Typen zugehörig fühlen, stellt sich die Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit jedoch kaum – zu Unrecht. Denn nicht nur geldgierige Unternehmen oder machtgierige Parteien; nicht nur PR-Leute, Troll-Armeen oder Bots sind mitverantwortlich für die „Verrohung“ (Ingrid Brodnig 2024) der Debattenkultur, für die „große Gereiztheit“ (Pörksen 2021) und „große Vertrauenskrise“ (Lobo 2023), ja für die „polarisierte Gesellschaft“ (Münch 2023). Auch wir User sind verantwortlich. Wir müssen uns dieser Verantwortung aber noch bewusster werden.

    Die Infrastrukturen der Sozialen Medien sind so gestaltet, dass sie uns User permanent zu Reaktionen in Form von Likes, Shares und Kommentaren auffordern. Und auch die Inhalte werden „algorithmisch aufbereitet“, sodass sie Sensationelles, Zugespitztes oder Radikales bevorzugen (Lobo 2016) – sprich, sie sind darauf ausgelegt, starke Emotionen zu wecken und dadurch möglichst viele Reaktionen zu erzeugen. So entsteht eine Diskursöffentlichkeit, die Bernhard Pörksen als „Empörungsdemokratie“ (Pörksen 2021, 65) bezeichnet hat. Ausschlaggebend für diese Empörungsdemokratie ist zudem, dass sich User in ihren persönlichen Feeds oft direkt angesprochen fühlen – oder wie Wolfgang Ullrich es formuliert: „Da man sich in den Sozialen Medien jeweils an seine Follower wendet, beziehen diese die Postings auch direkt auf sich; sie sehen von vornherein ein Identifikationsangebot darin“ (Ullrich 2024). Meistens handelt es sich dabei aber in gewisser Weise um ein Missverständnis, da viele Inhalte – insbesondere von reichweitenstärkeren Profilen – nicht an einen überschaubaren Personenkreis und schon gar nicht an individuelle Menschen gerichtet sind, sondern an eine nicht genauer zu bestimmende Öffentlichkeit. (Kohout 2019, 67) Und selbst dann, wenn sich Influencer um eine genaue Adressierung – etwa mittels Ansprachen oder mit Hashtags – bemühen, werden sich jene Follower, die damit nicht gemeint sind, trotzdem angesprochen fühlen. Und wer angesprochen wird, der hat auch das Recht zu reagieren, fühlt sich vielleicht sogar dazu eingeladen oder aufgefordert.

    Die Sozialen Medien haben eine ausgeprägte „Reaktionskultur“ hervorgebracht: „Eine Kultur, in der die Reaktion auf kulturelle Artefakte nicht mehr zweitrangig oder ihnen nachgestellt ist, sondern zum eigentlichen Zentrum wird. Die kulturellen Artefakte sind – zugespitzt formuliert – nur noch der Kick-Off für die Reaktionen darauf. Es ist eine Kultur, die nicht nur permanent Reaktionen zulässt, sondern die regelrecht dazu auffordert, sie provoziert.“ (Kohout 2024, 212f) Reaktionen sind spezifische Handlungen, die auf äußere Reize antworten – sie gelten in der Regel als weniger autonom im Vergleich zu proaktiven Handlungen, die aus innerer Initiative hervorgehen. In manchen Fällen geben User Verantwortung für das Gesagte einerseits und für das Sagen selbst, das Stimme-Erheben und sich Positionieren andererseits ab, insofern sie sich so darstellen, als würden sie „nur“ reagieren.

    In der Anfangszeit der Sozialen Medien wurde das Teilen von Meinungen schnell als narzisstisch wahrgenommen. Es gibt unzählige Bücher und Texte, die thematisieren, wie Social-Media-Plattformen Narzissmus fördern oder verstärken. (Bspw. Twenge 2012; Storr 2017) Kein Wunder also, dass das Veröffentlichen im Social Web auch mit einigen sozialen Hemmungen verbunden war und bis heute ist. Reaktionen hingegen bieten eine Möglichkeit, die eigene Stimme in die Öffentlichkeit zu tragen, ohne narzisstisch oder aufdringlich zu erscheinen. Anstatt etwas selbst anzusprechen, ist die Reaktion eine Möglichkeit, annehmbare Gründe für das eigene Publizieren mitzuliefern, sich zum Sprechen berechtigt zu fühlen. Durch Reaktionen kann man sich außerdem verorten, Verknüpfungen herstellen und dem eigenen Anliegen eine größere Dringlichkeit verleihen. Reaktionen sind also oft inszeniert. Sie „nehmen teilweise sogar Werkcharakter an, […] und machen sich verschiedene Stilmittel zunutze. Man denke an das Format der Reaction Videos: Sie stellen nicht einfach eine emotionale Reaktion dar, sondern es sind visuell aufwendig inszenierte, ‚gestaltete Emotionen‘.“ (Kohout 2024, 213) Man gibt sich reaktiv, handelt aber eigentlich proaktiv.

    Das heißt: Nicht alle Reaktionen im Social Web sind impulsive Reaktionen, bei denen die User nur wenig oder gar keine Zeit zur bewussten Reflexion haben und die typischerweise affektgesteuert sind und in stressigen oder emotional aufgeladenen Situationen auftreten. Sondern zunehmend lassen sich instrumentelle Reaktionen beobachten, die strategisch und zielgerichtet sind.

    Instrumentelle Reaktionen sind häufig inszeniert und zielen darauf ab, die Emotionen der Lesenden oder Zuschauenden zu steuern und Handlungsimpulse auszulösen. In der Diskurskultur ist es üblich, Positionen als Reaktionen auf bestehende Standpunkte zu präsentieren, wie etwa in den Diskussionen um den Nahost-Konflikt: Diejenigen, die sich im Krieg zwischen Israel und den Palästinensern mit Israel solidarisieren, stärken ihre Position dadurch, dass sie sie als Reaktion auf das vermeintliche Kleinreden des terroristischen Angriffs vom 7. Oktober 2023 ausweisen, während diejenigen, die sich mit den Palästinensern solidarisieren, ihre Position als Reaktion auf das vermeintliche Kleinreden der darauf folgenden Angriffe in Gaza präsentieren. In der Reaktionskultur scheint es schwer bis unmöglich geworden zu sein, Mitgefühl und Solidarität auszudrücken, ohne gleichzeitig die gegenteilige Position anzugreifen. Sich die teilweise schon genannten Gründe dafür genauer anzuschauen – inwiefern User nach einem Anlass suchen, um die eigene Meinung zu teilen (v.a., wenn sie keine ausgewiesene Expertise besitzen), oder sie ihrerseits Reaktionen provozieren wollen usw. – ist ein noch offenes Unterfangen, das zu einer bewussteren Mediennutzung beitragen könnte. Denn der Nebeneffekt dieser Reaktions-Mechanismen ist, dass die Gegnerschaft im Netz verstärkt wird. Reaktionen werden zum performativen Akt, zum öffentlich inszenierten Widerstand gegen das „Andere“, das als Bedrohung für die eigene Identität oder Meinung empfunden wird.

    Die Reaktionskultur, in der wir uns heute bewegen, verlangt nach einem tieferen Verständnis unserer Rolle als User. Wir agieren längst nicht mehr nur passiv, sondern sind oft aktiv Gestaltende des Diskurses, ob bewusst oder unbewusst. Jede Reaktion – sei es ein Like, Share oder Kommentar – trägt dazu bei, welche Themen an Sichtbarkeit gewinnen und welche verdrängt werden. Wir können nicht länger davon ausgehen, dass unsere Reaktionen keine Folgen haben, dass sie in der Masse untergehen. Denn in der Summe formen sie die digitale Öffentlichkeit. Wenn wir also die Verantwortung für die „Verrohung“ der Debattenkultur und die Polarisierung in Sozialen Netzwerken nicht ausschließlich auf Algorithmen, Trolle oder Falschnachrichten schieben wollen, dann müssen wir uns fragen, wie wir selbst durch unsere Reaktionen zur Diskursverschiebung beitragen. Es liegt in unserer Verantwortung, die Mechanismen der Reaktionskultur zu durchschauen und uns unserer Handlungsmacht bewusst zu werden und sie bewusster und reflektierter zu gestalten. 

    Letztlich sind Aktionen und Reaktionen eng miteinander verbunden, und jede Reaktion ist ein aktiver Teil des Prozesses der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Unsere Reaktionen in den Sozialen Medien beeinflussen nicht nur die Algorithmen, sondern auch die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft miteinander kommunizieren. Die Verantwortung dafür tragen wir – wir User.

    Brodnig, Ingrid: Wider die Verrohung. Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten: Strategien & Tipps, um auf Emotionalisierung und Fake News besser antworten zu können, Wien: Brandstätter Verlag 2024.

    Kohout, Annekathrin: Hyperinterpretation und das Problem der hermeneutischen Willkür, in: Birte Kleine-Benne (Hg.): Eine Kunstgeschichte ist keine Kunstgeschichte. Kunstwissenschaftliche Perspektiven in Text und Bild, Berlin: Logos Verlag 2024, S. 203-225. 

    Kohout, Annekathrin: Netzfeminismus, Berlin: Klaus Wagenbach 2019.

    Lobo, Sascha: Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023.

    Lobo, Sascha (2016): Das Ende der Gesellschaft. Digitaler Furor und das Erblühen der Verschwörungstheorien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10, S. 59-74.

    Münch, Richard: Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2023.

    Pörksen, Bernhard: Die Große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München: Goldmann Verlag 2021.

    Storr, Will: Selfie: How We Became So Self-Obsessed and What It’s Doing to Us, Hampshire 2017.

    Türcke, Christoph: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, München: C.H. Beck 2019.

    Twenge, Jean M.: The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement, New York 2012.

    Ullrich, Wolfgang: Identifikation und Empowerment. Kunst für den Ernst des Lebens, Berlin 2024.

    Kohout, Annekathrin (2024): Wir User – Über Verantwortlichkeit in der Reaktionskultur. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/wir-user-ueber-verantwortlichkeit-in-der-reaktionskultur/ [21.11.2024]. https://doi.org/10.60805/etvc-6b74.


    Annekathrin Kohout 
    ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin. Bis 2015 arbeitete sie am ZKM – Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Von 2016 bis 2022 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Siegen, wo sie über den Nerd als Sozialfigur promovierte. Als Gastdozentin unterrichtet sie regelmäßig an verschiedenen Hochschulen und Universitäten und als freie Autorin schreibt sie über Popkultur, Internetphänomene und Kunst. Derzeit ist sie Gasprofessoren an der UdK Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik sowie der Buchreihe „Digitale Bildkulturen“ im Verlag Klaus Wagenbach.

  • Über den Blog
    Der ZEVEDI-Verantwortungsblog hat die Frage zum Gegenstand, wie gut es uns im Zusammenleben mit Digitaltechnologien geht. Er kommentiert die Ambivalenzen, die Steuerungsprobleme und die Vertretbarkeit des digitalen Wandels. Was an möglicherweise kritischen Technikfolgen (und Markteffekten) sollte man in den Blick nehmen und diskutieren? Wo sind Sorgen angebracht? Wie passt Digitalisierung zu Freiheit und Demokratie? Welche Regeln braucht eine digitale Gesellschaft? Wovon sollte – weil es kritisch werden könnte – die Rede sein?

    Es schreiben Autor:innen aus dem ZEVEDI-Netzwerk sowie Gäste darüber, was sie lernen und erforschen, was sie beunruhigt und was sie fasziniert.

    DOI: 10.60805/5c9w-7n74
    ISSN:  2943-9124