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    Akzentfarbe: orange Autoren: Davor Löffler & Oliver Schlaudt Verantwortungsblog

    Was bedeutet der digitale Wandel menschheitsgeschichtlich betrachtet

    Wandel ist nicht gleich Wandel, misst man ihn wirklich an seinen Folgen. Zuletzt haben die Sprünge in der Leistungsfähigkeit von KI-Systemen zu Spekulationen Anlass gegeben: Wie ist das einzuordnen, was sich vor unseren Augen abspielt? Handelt es sich um ein neues Zeitalter, wie das industrielle? Um eine anthropologische Revolution, wie die neolithische? Entsteht gar vor unseren Augen eine neue, nicht-menschliche Intelligenz? In den Blicken in die Zukunft kann der Phantasie weitgehend freier Lauf gelassen werden. Aber wie erscheinen KI und Digitalisierung, wenn man sie in die Perspektive der Deep History einordnet?

    Was bedeutet der digitale Wandel menschheitsgeschichtlich betrachtet? Ein Blick aus der Deep History in eine ungewisse Zukunft

    Wandel ist nicht gleich Wandel, misst man ihn wirklich an seinen Folgen. Zuletzt haben die Sprünge in der Leistungsfähigkeit von KI-Systemen zu Spekulationen Anlass gegeben: Wie ist das einzuordnen, was sich vor unseren Augen abspielt? Handelt es sich um ein neues Zeitalter, wie das industrielle? Um eine anthropologische Revolution, wie die neolithische? Entsteht gar vor unseren Augen eine neue, nicht-menschliche Intelligenz? In den Blicken in die Zukunft kann der Phantasie weitgehend freier Lauf gelassen werden. Aber wie erscheinen KI und Digitalisierung, wenn man sie in die Perspektive der Deep History einordnet?

    Von Davor Löffler & Oliver Schlaudt | 12.06.2024

    Ein Netzwerk zwischen Punkten.
    Erstellt mit Adobe Firefly. Prompt: „painting in the style of expressionism: a geometric network; colors: black, yellow, orange“

    Künstliche Intelligenz konnte man vor kurzer Zeit für eine reine Laborphantasie halten. Plötzlich ist sie da und in unserem Alltag präsent – mal spielerisch, wie etwa bei ChatGPT, mal durchaus ernst, etwa wenn Übersetzungsprogramme unsere Arbeitsroutinen verändern, mal sogar in beängstigender Weise, etwa wenn wir von ihrer Verwendung in militärischen Drohnen lesen. Konnte die damalige Kanzlerin Angela Merkel 2013 – freilich zum Spott der community – das Internet als „Neuland“ bezeichnen, ist heute allen klar, wie dramatisch die Digitalisierung das Leben verändert, und dies in allen Bereichen: Arbeit, Privatleben, aber auch politische Verfasstheit unseres Gemeinwesens. Wobei noch niemand weiß, welche Auswirkungen die neuen Technologien auf die Demokratie haben werden. Die Dramatik der aktuellen Entwicklungen liegt somit auf der Hand. Und trotzdem kann es sein, dass wir sie immer noch gehörig unterschätzen. Tatsächlich stellen sich weitreichende Fragen, wenn wir die aktuelle technologische Revolution aus der Perspektive der „Deep History“, also der gesamten Menschheitsgeschichte betrachten.

    Wir wissen heute, dass Menschheitsgeschichte auch immer — und in einem wesentlichen Sinne — Technikgeschichte ist. Schon vor mindestens 3,5 Millionen Jahren haben unsere Vorfahren Werkzeuge hergestellt. Die Technik hat tatsächlich unsere Gattung nicht nur schon immer begleitet, sondern war bereits ihr Geburtshelfer, denn man muss das Entstehen unserer Spezies als das Ergebnis einer verschränkten biologischen und kulturell-technologischen Evolution begreifen. Die Technik hat unsere Spezies regelrecht geformt. Der Werkzeuggebrauch eröffnete den Zugang zu neuen Ressourcen und Nischen, die wiederum neue Anpassungsleistungen erforderten und Entwicklungsräume boten. Zum Beispiel erschlossen sich durch Schlag- und Schneidewerkzeuge, später dann Wurfwaffen oder den Feuergebrauch neue Nahrungsquellen, was nicht nur zu einer Veränderung unseres Skeletts, des Muskelapparats und des Verdauungssystems führte, sondern auch erst die Energien bereitstellte, die für die Entwicklung des großen menschlichen Gehirns notwendig waren. Die frühe Technik beginnt mithin zwar als Hilfswerkzeug der Hand, führt dann aber darüber hinaus und wird zunehmend selbst zum Gehäuse und Habitat, an das sich unsere Körper anpassten. Es entsteht ein künstlicher Kokon, oder anders ausgedrückt: eine in die Biosphäre hineinverschachtelte „Technosphäre“.

    In diesem Zusammenhang wurde auch die menschliche Kooperation zu einem Hauptschauplatz der weiteren Entwicklung: Mit der technischen Bearbeitung der Natur bildeten sich auch genuine Techniken des sozialen Miteinanders heraus.Denn die zunehmend komplexen Instrumente und neuen Lebenswelten waren nur noch durch gezielte Koordination der menschlichen Handlungen zu handhaben, also durch Arbeitsteilung. Die in der Technisierung wurzelnde Notwendigkeit zur Koordination und Arbeitsteilung beförderte auch die Ausweitung und Verfeinerung der Kommunikationsfähigkeiten. Es bildeten sich Medien heraus: Sprache, Kunst, Symbole, Zeichen sind selbst als Werkzeuge zu verstehen, die es erlauben, die soziale Koordination zu verbessern, effizienter zu machen und auszubauen. Sprache erlaubt die Kommunikation über Abwesendes, Zeichen die Kommunikation mit Abwesenden. Beide erweitern die Sinne über die Raumzeit hinweg. Zunehmend werden Medien auch Hilfswerkzeuge des Denkens, da sie das Gedächtnis entlasten und eine Stütze für die Erkenntnis werden, wie etwa die frühe Entstehung von Zahlzeichen oder Aufzeichnungen von Himmelsbeobachtungen belegt.

    Die kurze Skizze zeigt: wir sind durch und durch „technische Wesen“. Körper, Geist, Subjektivität und Sozialität sind technisch geformt. Und am Prozess dieser Formung hat eine Entwicklung ihren Anteil, die als „kulturelle Evolution“ bezeichnet wird. Kultur meint dabei jedes erlernte Verhalten, das nicht lediglich genetisch (oder als „Instinkt“) angelegt ist. Auch kulturelles Verhalten entwickelt sich und evolviert: Erfindungen und Wissen werden untereinander weitergegeben, neue Erfindungen und neues Wissen bauen auf dem alten auf (kumulativ oder „exaptiv“, d.h. zweckentfremdend, s. dazu Henrich 2016; Schlaudt 2022). Zu solchen Erfindungsketten zählen nicht nur die Weisen der technischen Umweltbeherrschung (etwa vom Faustkeil zum Automobil), sondern auch die Arten der sozialen Organisation, politische Institutionen, Normen und Weltbilder (etwa von Häuptlings- oder Clangesellschaften hin zur Institution der Vereinten Nationen; animistisches oder naturalistisches Weltbild). So, wie wir zunehmend lernten, durch Technologie in die Naturumwelten einzugreifen und sie zu gestalten, so mussten wir zugleich auch lernen, in uns selbst „einzugreifen“ (Selbstdomestikation) und unsere Gesellschaften zu organisieren (Sozialevolution). Im Kern menschlich-kultureller Entwicklung steht also die Fähigkeit lernen zu können und gelernt zu haben, wie sich Werkzeuge herstellen und verwenden, Handlungen und Handelnde koordinieren lassen, gegenüber der Naturumwelt und untereinander. Drei grundlegende Aspekte dieser kulturellen Evolution lassen sich auf diese Weise identifizieren: die Auslagerung von Handlungsfähigkeit (agency) in das Werkzeug, die Auslagerung von Gedächtnis-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten in die Medien (Exogramme, externalized knowledge representations, extended mind) und die Kooperation basierend auf der flexiblen Koordination von Akteuren aller Art (die auch als „Ultrasozialität“ bezeichnet wird). Die drei Aspekte beeinflussen sich in der Entwicklung gegenseitig. Es gibt also eine Koevolution von technischer Umweltbeherrschung, Gesellschaftsorganisation und Denken (für die Frühgeschichte siehe Haidle et al. 2015: 46ff).

    Damit zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Beides erscheint uns heute als etwas ganz Neuartiges und Hypermodernes. Aus einer kulturevolutionären und anthropologischen Perspektive verhält sich das nicht ohne Weiteres so. Einerseits erkennen wir auch in derartig modernen Phänomenen eine bloße Fortführung und neueste Etappe einer allgemeinen Auslagerungstendenz, die die gesamte Geschichte unserer Gattung charakterisiert – dass Technik immer komplexere Leistungen in automatisierter Form übernimmt, ist nichts grundsätzlich Neues. Andererseits handelt es sich bei der Gattungsgeschichte aber um eine Geschichte, die neben solchen Kontinuitäten eben auch durch Revolutionen gekennzeichnet ist, die aus den kontinuierlichen, kumulativen Entwicklungen resultierten. Wir haben auch schon andeutungsweise gesehen, wie tief diese Revolutionen in das Menschenleben eingreifen, nämlich nicht nur in unsere Technologie, sondern auch die Formen unseres Zusammenlebens und unseres Denkens. Man denke an Waffentechnik, an Medizintechnik, an den Buchdruck. Die Frage, die sich uns heute stellt, ist die, auf welcher Skala die digitale Revolution einzuordnen sein wird. Welches werden ihre sozialen und institutionellen Folgen sein? Erleben wir gerade eine der „großen“ Revolutionen der Menschheitsgeschichte?

    Um diese Fragen zu beantworten, mag ein vergleichender Blick auf frühere Revolutionen hilfreich sein. Das prominenteste Beispiel ist das epochale Ereignis der Sesshaftwerdung, die sogenannte „Neolithische Revolution“, die vor etwa 10.000 Jahren geschah (auch wenn diese in Wahrheit weder abrupt noch bloß an einem Ort auftrat, sondern sich vielmehr in verschiedenen Weltregionen parallel und unabhängig voneinander über mehrere Tausend Jahre hin entwickelte – ein Beispiel für „konvergente Evolution“ in der Zivilisationsentwicklung (Morris 2003; McGhee 2011)). Diese Zäsur der Geschichte ist jüngst verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt (s. zur Übersicht Paul 2023; IGZA 2023), allerdings oftmals in einer pessimistischen bis apokalyptischen Tonlage: Wann ist der Mensch falsch abgebogen – in Richtung Ungleichheit, Ausbeutung und Naturzerstörung (Scott 2017: 1ff)? Wir werden hier hingegen danach fragen, was sich an dem Übergang zur Sesshaftigkeit – und im Folgenden an einigen weiteren solcher Zäsuren – für die digitale Transformation lernen lässt.

    Entgegen der Intuition zeigen Berechnungen, dass auch das Leben von Wildbeutern keinesfalls karg ist: Sammeln und Jagen weisen tatsächlich eine deutlich höhere Produktivität pro Arbeitsstunde auf als die Agrikultur der Sesshaften (erst mit der Verbreitung von Eisenwerkzeugen nach 1300 v.u.Z. zuerst in Indien und etwas später in Griechenland und China überstieg die landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität pro Stunde die der Wildbeuterei). Jedoch liegt die Produktivität pro Fläche in der agrikulturellen Bodenbewirtschaftung 1000-mal höher (IGZA 2023: 73f). Dies ist der wesentliche Grund für die allmähliche Verstetigung der Sesshaftigkeit. Denn so hervorgebrachte Überschüsse sorgten für ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum, womit sesshafte Kulturen in dieser Lebensweise quasi einrasteten und rein zahlenmäßig die Wildbeuter verdrängten und ablösten (darum kam es global auch so gut wie nie zu einer Rückkehr zur Wildbeuterei). Befördert wurde die Produktivität von mitlaufenden technologischen Innovationen, etwa allerlei Werkzeugen zur Bodenbearbeitung, Gefäßen, Zäunen, Kornspeichern oder Bewässerungsanlagen. Zur selben Zeit entstanden auch die ersten festen Wohnsiedlungen. Die Sesshaftigkeit bot auf lange Sicht mehr Nahrung und Nahrungssicherheit, mehr Schutz gegen natürliche Gefahren und Feinde sowie weniger Risiko.

    Allerdings hatten diese Vorzüge ihren Preis, denn die zunehmende Abkapselung von natürlichen Umwelten und die Notwendigkeit zur arbeitsteiligen Bodenbewirtschaftung erzeugte Gefahren und neuartige Zwänge. Sehr folgenreich war die vermehrte Anfälligkeit für Krankheitserreger, die sich besonders aufgrund der verdichteten Tierhaltung verstärkt bildeten, also wortwörtlich für „Zivilisationskrankheiten“. In der Folge entwickelten sich Hygienemaßnahmen, die sich auch in rigiden Verhaltensnormen niederschlugen, die in vielen Kulturen auch heute noch praktiziert werden oder gar sakralen Status haben (viele Teile der Bibel und kanonischer Werke anderer Religionen lassen sich unter diesem Aspekt lesen (van Shaik/Michel 2016)). Darüber hinaus musste die grundsätzlich arbeitsteilige Lebensweise auch durch moralische, politische und ökonomische Strukturen gestützt werden, die wie unsichtbare Gehäuse unsere Verhaltensräume umzirkeln und Interaktionen regulieren. In diesem Zusammenhang dürfte die soziale Zuschreibung von Eigentum entstanden sein, d.h. die Verfügungsmacht über Produkte, Boden und Überschüsse, und damit einhergehend die Mittel der Landeinteilung und -verteilung, Erbschaftsregelungen, Arbeitsrollen und deren Organisation, die Trennung von häuslicher und öffentlicher Ökonomie, Geschlechterrollen (Patriarchat, Matriarchat), ortsgebundene und zeitüberdauernde Gruppenidentitäten – also ganz allgemein entsprechende kodifizierte Rechtsordnungen, Machthierarchien und politische Funktionen sowie soziale Differenzierung.

    Dies alles hat medialer Hilfsmittel bedurft: Statussymbole, Rollen- und Identitätskennzeichen, rituelle und religiöse Kunst auf der Seite sozialpsychischer Organisation. Auf der verwaltungstechnischen Seite sind es (vorschriftliche) Zeichensysteme, darunter vor allem Zahlen, Maßeinheiten und Messysteme, später auch symbolische Tauschmittel, also Währungen. Da Saat- und Erntezeiten bestimmt, Speicherung und Verteilung der Erträge geplant werden müssen, erlangten Modellierungen und Prognosen von Naturzyklen wesentliche Bedeutung. So entstanden bereits früh Vorrichtungen zur Himmelsbeobachtung, in denen die regelmäßigen Bewegungen der Gestirne verzeichnet und in Modellen nachgebildet werden konnten, prominent etwa in der Megalithstätte Stonehenge. Dies führte nicht nur zu Kalendern, die als Taktgeber für Arbeits-, Fest- und Rituszeiten dienten, sondern auch zum weiteren Ausbau der Mathematik, die zunehmend auch in anderen Bereichen Anwendung fand (allgemein hierzu Renn 2022). Immer mehr Dinge, Ereignisse und Vorgänge in der Wirklichkeit werden also in mathematisch-geometrischen Rastern einfassbar, die von der Gesellschaft aus auf die Welt projiziert werden. Diese Raster dienen der Koordination kollektiver Handlung in zunehmend komplexen sozialen Strukturen (Löffler 2019: 320ff). Komplexe Zivilisationen aller Art sind ohne diese Koordination von Handlungssequenzen und der hierfür notwendigen Mittel nicht zu denken. Und je komplexer Gesellschaften, ihre Technologien und Formen der Arbeitsteilung sind, desto mehr muss sich auch die zeitliche und räumliche Organisationstiefe des integrierenden Rasters ausweiten – und dies bis heute.

    Die Zäsur der Sesshaftwerdung illustriert zwei Umstände mit Bedeutung für unsere Frage nach der Digitalen Transformation. Zum einen verdeutlicht sie das Prinzip der Koevolution: Technologiestrukturen, Produktionsketten, Medienarten, politische Institutionen, Erkenntnis- und Denkfähigkeiten entwickeln sich im Wechselspiel und stehen in einem inneren Zusammenhang miteinander. Solche Wechselseitigkeiten und strukturellen Zusammenhänge – wir sprechen von „Formzusammenhängen“ (Bammé 2011: 52-76; Löffler 2019: 376; Pahl 2021: 102ff) – in den Blick zu nehmen ist auch für Diagnosen und Prognosen aktueller Entwicklungsprozesse unabdingbar: Kein Bereich kann isoliert betrachtet werden, tiefe Veränderungen in einer Domäne lassen andere nicht unberührt. Zum anderen erkennt man, dass sich schon in den frühen sesshaften Kulturen ohne Abstriche von der Entstehung von „Datenpunkten“ sprechen lässt. Die mit den neolithischen Gesellschaften einsetzende Arbeitsteilung bedarf zur Steuerung und Koordination einer relativ exakten medialen Nachbildung von Ereignissen, Vorgängen und Kausalitäten in der Natur sowie auch der Gesellschaft. Die Mathematisierung dieser Modelle macht Wirklichkeiten berechenbar und ermöglicht es, Handlungen einzelner Akteure oder ganzer Kollektive zu planen und punktgenau zu setzen. Eine Rasterung der Welt in Datenpunkte, Polaritäten, Metriken, diskrete Skalen und abstrakte Koordinatensysteme nimmt hier ihren Anfang. Sie entsteht koevolutionär zur Notwendigkeit, Sequenzen von Handlungen und Kausalitäten miteinander zu koordinieren. Auch Digitalisierung und künstliche Intelligenz dienen nichts anderem: Phänomene in Symbole fassen (Datenerfassung), Vorgänge modellieren, Muster erkennen, Kausalitäten berechenbar machen, Diagnosen stellen, Prognosen treffen, und schließlich: Handlungen informieren.

    Kulturevolutionäre Phasen und Zäsuren (v.u.Z.)Struktur der Wissensproduktion und Modellbildung  Medienformen und Kulturtechniken der Rasterung
    Entwicklung visueller Kultur (-130.00-40.000)Entkörperung des WissensMedien: Symbole, Zeichen, Mengenmarkierungen  
    Neolithische Revolution (~ -8.000)Modellierung des WissensKosmosmodelle (Kalenderarchitekturen), Anzahlmodelle (Zahlzeichen)
    Hochkulturen / hierarchisch-imperiale Staaten / Bronzezeit (~ -3000)Verschriftlichung des Wissens  Schrift, formale Zahlensysteme, Operationszeichen, Formeln, Geometrie, kategoriale Listen  
    Axialkulturen / Eisenzeit (Griechenland, China, Indien) (~ -800)Formalisierung des Wissens, Methodologisierung der Wissensproduktion  Alphanumerische Zeichen, Logik, Schlussregeln, Argument, Beweis, Universalienbestimmung  
    Neuzeit / Maschinenkulturen (Europa) (~ 1400)Mathematisierung des Wissens, Mechanisierung der WissensproduktionEmpirisierung, Experiment, wissenschaftlich Methode, euklidisches Modellierungsraster, 
    Quantifizierung, Geometrisierung, Buchdruck  
    Globale, elektrifizierte Industrienationen (~ 1940)Automatisierung und Autonomisierung der WissensproduktionBit, automatisierte Datenverarbeitung, Mustererkennung und Modellbildung
    Tab. 1 Etappen der Wissens- und Medienevolution

    Digitalisierung, Kybernetik und KI sind, wie wir nun erkennen, keineswegs nur das neueste Mittel zur Steigerung kapitalistischer Ausbeutung, wie derzeit oft argumentiert wird (Zuboff 2018; Pasquinelli 2023). Vielmehr schreiben diese neuen Technologien zugleich die sehr alte Geschichte der immer feinkörnigeren Rasterung der Welt in Daten- und Koordinationspunkte fort. Die Digitalisierung stellt eindeutig eine eigene Etappe der Medienevolution und Auslagerung von Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs- und Steuerungsprozessen dar: In einem weiteren Abstraktionsschritt werden bisher „von Hand“ (bzw. intellektuell) auszuführende Kulturtechniken der Rasterung nun automatisiert durchgeführt, reichen dabei in neue Tiefen der Raumzeit und übersteigen darin das bisher Menschenmögliche (zu dieser Phase siehe Löffler 2019: 559-599). Gehen wir davon aus, dass Etappen der Technikentwicklung immer mit der Entstehung neuartiger sozialer Strukturen einhergingen, dann ist zu erwarten: Auch die Geschichte der Koevolution schreibt sich fort.

    Die Einsichten der Kulturevolutionsforschung rufen somit dazu auf, sowohl historisch als auch über klassische Theorieangebote hinaus den Blick auf Digitalität zu weiten. Möglich ist es so auch, neuartige Richtungen kritischer und gestalterischer Reflexionen über die Digitalisierung und ihre möglichen Folgen aufzuzeigen. Wir nennen exemplarisch zwei solcher Richtungen:

    1. Jede Medientechnologie ging immer auch mit der Ausbildung neuer sozialer Einheiten einher. Zum einen entstehen neue Spezialistengruppen für die Bedienung der neuen Technologien, die alte Gruppen ablösen und neuartige Funktionen verkörpern (etwa Hohepriester, Mathematiker, Philosophen, Buchgelehrte, Ingenieure, Bankiers). Zum anderen bilden sich mit neuen medialen Infrastrukturen notwendig auch neuartige Gemeinschaften und Kollektive aus, wie sie etwa der Buchdruck oder das Internet hervorgebracht haben: Neue Gemeinschaftsvorstellungen, Identitäten und Subjektivitätsformen gehen damit einher. Dieses Auftreten neuer Gesellschaftsgruppen und Subjektivitäten – absehbar bald auch künstlicher oder anderer nichtmenschlicher Akteursentitäten – muss zur Ausbildung neuartiger Institutionen und Rechtsstrukturen führen. Die unsere Gesellschaft charakterisierenden Institutionen sind vor etwa 250 Jahren entstanden, und zwar in einem aus heutiger Sicht antiquierten soziotechnischen Regime und unter einer ebenso antiquierten Medienstruktur. Hier gilt es in unserer Gegenwart weit hinauszudenken über die lediglich reaktive Anpassung der bestehenden Institutionen an die technologisch-medialen Entwicklungen, wie sie heute maßgeblich betrieben wird. Denn wenn der digitale Wandel eine der skizzierten makrohistorischen Zäsuren ist, dann liegt die Herausforderung nicht darin, einfach nur einen „cultural lag“ auszugleichen, also das Hinterherhinken der sozialen Normen und Institutionen gegenüber den stets sich beschleunigenden Technikinnovationen. Vielmehr erscheint es angebracht, im Zuge koordinierter Forschung antizipativ die Möglichkeitsräume der mit dieser Zäsur nun entstehenden Beziehungsformen und Gesellschaftsformationen auszuloten. Aus unserer Sicht sollte diese Möglichkeit auch ergriffen werden. Forschungsfragen dürfen sich also nicht darauf beschränken, wie sich die Auswüchse der Digitalisierung gegenüber den gegenwärtig bestehenden Institutionen und Normen einhegen ließen. Es muß vielmehr gefragt werden, welche historisch neuartigen Institutionen und Normen aus der Digitalisierung hervorgehen können.
    2. Die Tatsache, dass Computer, Kybernetik und KI parallel auch in nichtkapitalistischen Staaten wie der Sowjetunion entwickelt und angewandt wurden, zeigt umgekehrt, dass diese Technologien in verschieden gearteten ökonomisch-politischen Systemen Funktionen erfüllten und erfüllen konnten, die jenseits der heute dominierenden Anwendungsfelder liegen. Anders ausgedrückt: Die Digitalisierung enthält einen bereits in ihrer historischen Genese verbrieften Funktionsüberschuss, dessen Facetten und Potenziale für die Gesellschaftsgestaltung noch lange nicht erkundet sind. Wie bei jeder vorherigen Technologie auch, ist damit zu rechnen, dass sie erst in den kommenden Jahrzehnten „exaptiv“ freigelegt werden (Schlaudt 2022: 192ff). So verdeutlichen beispielsweise die vielfältigen, oft noch experimentellen staatlichen Anwendungen digitaler Technologien in China, wenngleich sie sehr kritisch beobachtet werden müssen, zumindest wie unerschlossen die vielschichtigen Vernetzungs- und Nutzungsmöglichkeiten dieser neuen Medientechnologie noch sind und welche Entwicklungsräume sich dadurch auftun können. Besonders hinsichtlich der ökologischen Krise, die sich nur in globaler Kooperation wird bewältigen lassen, scheint sich die Digitalisierung als (vielleicht einziges und letztes) Mittel anzubieten, das den komplexen Anforderungen etwa des Umweltmonitorings oder auch der Bewältigung der zivilisatorischen Effekte der Klimakrise entsprechen kann. Auf Basis von Sensoren und automatisierter Datenverarbeitung (Algorithmen, KI) erweitert sich jedenfalls der Umfang der Erfassung und Integration von Prozessen in das kulturell-zivilisatorische Raster: In der Perspektive einer „Planetarisierung“ (Bammé 2016; Löffler 2018; Bratton 2021) umfasst das Feld des potenziell Rasterbaren den gesamten Erdball mitsamt seinen Myriaden an Systemen, inklusive der sozio-ökonomischen, und ermöglicht vielleicht eine neue Balance zwischen den verschiedenen Stoffwechselprozessen (etwa der ökonomischen Ressourcennutzung und den ökologischen Stoffkreisläufen) herzustellen – eben das, was die heutigen Institutionen und verwendeten Mittel nicht vermögen, wo sie nicht gar selbst Problemursache sind. Auch hier stehen wir erst am Anfang einer neuen Etappe der Medienevolution, also am Anfang der Erkundung einer neuen raumzeitlichen Tiefe der Modellierungen, Steuerungen und Eingriffe in Natur- und Gesellschaftsprozesse.

    Der digitale Wandel könnte also nicht nur ein tiefer, sondern ein sehr tiefer Einschnitt sein. Ein verantwortungsvolles Herangehen an die Folgen eines solchen technologischen Innovationsschubes sollte sich nicht auf reaktive Maßnahmen wie die Verlagerung klassischer Prozesse ins Digitale oder auf bloße industriepolitische Anreize beschränken. Es gilt vielmehr, die Gesamtheit des vorhandenen Wissens – auch über andere große Transformationsprozesse – zu berücksichtigen.

    Die Deep History lehrt uns, in langfristigen Entwicklungen zu denken, die Pfadabhängigkeiten, in denen wir verharren, zu erkennen und auch die Möglichkeiten des Einschlagens neuer Pfade zu identifizieren. Die skizzierten Einblicke in die technologische und kulturelle Evolution regen dazu an, sich proaktiv, antizipativ, auch in policies und Gesetzgebung, den vielfältigen, noch unbekannten oder undenkbaren, aber latent angelegten Möglichkeiten von Digitalisierung und KI für die Gesellschafts- und Weltgestaltung zu öffnen. Ein historisch informierter Blick in eine tiefere Zukunft der Technosphärenentwicklung wird gebraucht. Von hier aus auf die Gegenwart zuzugehen könnte uns dabei helfen, auch die aktuellen Probleme besser zu durchdringen.

    Bammé, Arno (2011): Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    Bammé, Arno (2016): Geosoziologie. Gesellschaft neu denken. Marburg: Metropolis.

    Bratton, Benjamin (2021): The Revenge of the Real. London: Verso.

    Haidle, Miriam N./Bolus, Michael/Collard, Mark et al. (2015): The nature of culture: an eight-grade model for the evolution and expansion of cultural capacities in hominins and other animals. In: Journal of Anthropological Sciences, Jg. 93, S. 43-70.

    Henrich, Josef P. (2016): The Secret of Our Success. How Culture is Driving Human Evolution, Domesticating Our Species, and Making Us Smarter. Princeton: Princeton University Press.

    Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) (Hrsg.): Matrix der Arbeit. Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit. Bd. 2. Die Agrikulturepoche, Berlin: J. H. W. Dietz Nachfolger 2023.

    Löffler, Davor (2018): Distributing potentiality. Post-capitalist economies and the generative time regime. In: Identities. Journal for Politics, Gender and Culture, Jg. 15, Nr. 1–2, S. 8-44.

    Löffler, Davor (2019): Generative Realitäten I: Die Technologische Zivilisation als neue Achsenzeit und Zivilisationsstufe. Eine Anthropologie des 21. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    McGhee, George (2011): Convergent Evolution. Limited Forms Most Beautiful. Cambridge, MA/London: MIT Press.

    Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution. Inevitable Humans in a Lonely Universe. Cambridge: Cambridge University Press.

    Pahl, Hanno (2021): Geld, Kognition, Vergesellschaftung. Soziologische Geldtheorie in kultur-evolutionärer Absicht. Wiesbaden: Springer VS.

    Pasquinelli, Matteo (2023): Eye of the Master. A Social History of Artificial Intelligence. London: Verso.

    Paul, Axel (2023): Wie revolutionär war die „neolithische Revolution“? Über die naturalen und sozialen Voraussetzungen der Agrikultur in der Levante. In: Historische Anthropologie, Jg. 31, Nr. 2, S. 211–241.

    Renn, Jürgen (2022): Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän. Berlin: Suhrkamp.

    Schlaudt, Oliver (2022): Das Technozän. Eine Einführung in die evolutionäre Technikphilosophie.  Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

    Scott, James C. (2017): Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. New Haven/London: Yale University Press.

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    Zuboff, Shoshana (2018): The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the new Frontier of Power. London: Profile Books.

    Löffler, Davor/Schlaudt, Oliver (2024): Was bedeutet der digitale Wandel menschheitsgeschichtlich betrachtet? Ein Blick aus der Deep History in eine ungewisse Zukunft. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/was-bedeutet-der-digitale-wandel-menschheitsgeschichtlich-betrachtet/ [12.06.2024].
    https://doi.org/10.60805/qv23-y178


    Davor Löffler
    promovierte mit einer Studie zur Verbindung von Kulturevolution und Soziologie an der Freien Universität Berlin und ist derzeit Habilitiant in Soziologie an der Universität Basel, wo er die Potenziale der Kulturevolutionsforschung für die Transformationswissenschaft erforscht. Zuvor war er Dozent für Wissensgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg und für Gesellschafts- und Mediengeschichte an der Universität Basel. Zuletzt von ihm erschienen: Pahl, H./Löffler, D.: Kulturevolutionäre Erkundungen zum Potenzial postkapitalistischer Medien am Beispiel von Blockchain-Technologien. In: Ernst, C. et al. (Hg.): Handbuch Medientheorien im 21. Jahrhundert. Wiesbanden: Springer VS 2024.

    Oliver Schlaudt
    lehrt Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, HfGG, in Koblenz. Zuletzt erschien von ihm: Zugemüllt. Eine müllphilosophische Deutschlandreise. München: C.H. Beck 2024.

  • Über den Blog
    Der ZEVEDI-Verantwortungsblog hat die Frage zum Gegenstand, wie gut es uns im Zusammenleben mit Digitaltechnologien geht. Er kommentiert die Ambivalenzen, die Steuerungsprobleme und die Vertretbarkeit des digitalen Wandels. Was an möglicherweise kritischen Technikfolgen (und Markteffekten) sollte man in den Blick nehmen und diskutieren? Wo sind Sorgen angebracht? Wie passt Digitalisierung zu Freiheit und Demokratie? Welche Regeln braucht eine digitale Gesellschaft? Wovon sollte – weil es kritisch werden könnte – die Rede sein?

    Es schreiben Autor:innen aus dem ZEVEDI-Netzwerk sowie Gäste darüber, was sie lernen und erforschen, was sie beunruhigt und was sie fasziniert.

    DOI: 10.60805/5c9w-7n74
    ISSN:  2943-9124