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    Akzentfarbe: gelb (Max Sinn) Autor: Max Sinn Verantwortungsblog

    „Suchten“ – ein Hilferuf

    Mit der Digitalisierung geht es zu langsam voran – wirklich? Überall? Dass der dänische Bildungsminister sich unlängst dafür entschuldigt hat, dass die Schülerinnen und Schüler einem digitalen Experiment unterworfen wurden, sollte zu denken geben – genauso wie die Schilderungen des Lehrers Max Sinn: Wie andere Lehrer:innen kämpft er gegen die smarten Geräte um die Aufmerksamkeit seiner Schüler:innen und vernimmt dabei zuweilen auch deren Hilferufe.

    „Suchten“ – ein Hilferuf

    Mit der Digitalisierung geht es zu langsam voran – wirklich? Überall? Dass der dänische Bildungsminister sich unlängst dafür entschuldigt hat, dass die Schülerinnen und Schüler einem digitalen Experiment unterworfen wurden, sollte zu denken geben – genauso wie die Schilderungen des Lehrers Max Sinn: Wie andere Lehrer:innen kämpft er gegen die smarten Geräte um die Aufmerksamkeit seiner Schüler:innen und vernimmt dabei zuweilen auch deren Hilferufe.

    Von Max Sinn | 27.06.2024

    Erstellt mit Adobe Firefly; Prompt: „illustration of a classroom full of smartphones; colors: gray, yellow, black; style: cubism“

    Smombie lautete 2015 das Jugendwort des Jahres. Es kombinierte die Begriffe „Smartphone“ und „Zombie“ und zielte auf junge Leute ab, die mit gebeugtem Kopf, ablenkungsbedingt ungeschickt, durch öffentliche Räume taumeln. Der Smombie setzte sich nicht durch und ist heute längst vergessen. Zurecht, denn so wirklich witzig war der Ausdruck nicht. Auch gab er wohl eher eine Außensicht auf Jugendliche wieder. Als (Teilzeit)Lehrer weiß ich: Es sind keine Untoten, die sich da Tag für Tag in meiner Schule das Smartphone vor die Nasen halten, auch im Klassenzimmer, obwohl die Schulordnung das eigentlich verbietet. Eher sind es höchst lebendige, quirlige Wesen. Nur von einem anderen Stern.

    Weise ich auf die Regel hin, dass Smartphones nicht neben dem Unterricht her genutzt werden dürfen, verschwinden die Geräte für eine Zeit lang in der Tasche. Spätestens in der nächsten Stunde, oft nur nach Minuten, liegen sie jedoch wieder auf dem Tisch. Das Rektorat hat aufgegeben, es weist auf die Schulordnung nicht mehr hin – auch deswegen, weil sie in der Kollegenschaft, mich selbst eingeschlossen, nicht mehr konsequent umgesetzt wird. Die Schule stellt überdies jeder Schülerin und jedem Schüler ein Tablet zur Verfügung. Das soll ein zeitgemäßes Lehrmittel sein, dient den Schülerinnen und Schülern ersatzweise aber auch als Spielgerät, wenn ihnen der Unterricht zu langweilig wird. Ist es freilich „Langeweile“, die den reflexhaften Griff zum Handy erzwingt? Hier spätestens beginnt das Problem: Einen Roman lesen erfordert Ausdauer, kurze Tiktok-Videos bieten wie eine klassische Geisterbahnfahrt alle paar Sekunden neue Reize – immer wieder den kleinen Adrenalinstoß. Dazu volle Kontrolle. Draußen im Klassenraum ist die Welt zäher als beim mühelosen Wisch über den Bildschirm. Kleine Bewegungen und Zugucken: Dagegen ist die gerätefreie Direktkommunikation unendlich anstrengend. Und am Fuß von 250 Seiten Papier fühlt man sich wie vor der Besteigung des Mount Everest.

    Suchten – in der aktuellen Jugendsprache meine dies, so der elektronische Duden von 2024, „mit übersteigertem Verlangen, im Übermaß anschauen, lesen, spielen, o.ä.“; als Beispiele führt das Nachschlagewerk an: „er hat die Serie, das Videospiel ziemlich krass gesuchtet“; „seltener“ gebe es auch die Bedeutung: „sich durch das Buch suchten“.(duden.de 2024) Tiktok, Streaming-Dienste, YouTube, animierte Spiele: dem „Suchten“, da bin ich sicher, dürfte mehr Zukunft beschieden sein als dem Vergleich mit dem Zombie. Einer bunten, digitalen Galaxis steht der analoge Dreiklang von Lehrkraft, Buchtext und Tafel gegenüber. Selbst wenn die Tafel nun interaktiv ist: das alles kommt erst einmal ziemlich pointenarm daher. Dafür anstrengend. Weil auch chaotischer. Nicht so schlüssig. Nimmt man den Lärm der vielen Mitschülerinnen und Mitschüler hinzu, wirkt der Realraum vielleicht sogar bedrohlich.

    Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern über Handysucht spreche, wissen viele, was ich damit meine. Sie nehmen den Begriff Sucht ernst. Ich habe Klausurtexte gelesen, in welchen Jugendliche schreiben, Tiktok solle man verbieten, weil es sie abhängig und unglücklich macht. Die dänische Regierung hat vor wenigen Monaten eine schulpolitische Kehrtwendung ausgerufen. Das Land war Vorreiter einer voll-digitalen Lehre. Nun empfiehlt man, Smartphones weitgehend aus den Klassenzimmern zu verbannen, und dies auch in älteren Klassen. Hierzulande hat man auf diesen bedeutsamen Schritt noch nicht reagiert. Der Umgang mit den digitalen Endgeräten bleibt in der Regel den einzelnen Schulen überlassen. Zuweilen werden vor Klassenräumen sogenannte „Handygaragen“ angeboten, um eine Barriere gegen den Griff zum Handy in der Schultasche zu schaffen. Wo man nicht so verfährt, greift die Lehrkraft erst dann ein, wenn die Nutzungen des Smartphones oder des Schul-Tablets dazu führen, dass eine Person, die eben noch konzentriert am Unterricht teilnahmen, erkennbar in digitale Welten abtaucht. Hierfür muss ich jedoch permanent durch die Reihen gehen, um im Wortsinne jede Schülerin, jeden Schüler, zu überwachen. Ablenkungen sind vorprogrammiert.

    Gleichzeitig hat man das Gefühl, einen Kampf gegen Windmühlen zu führen. Ist das Handy nicht längst Teil des Schülerschaft-Körpers geworden? Eine Art Prothese, ein Universalmedium, das nicht nur ein sprichwörtliches Fenster zur Welt ist, sondern permanent eine Zweitwelt, eine Parallelwelt schafft? Welche Welt ist letztlich die „erste“? Klar ist die Klassengemeinschaft unter Anwesenden nach wie vor sozial und kommunikativ wichtig, in vielen Situationen auch mächtiger als der einsamere Dauer-Draht ins Netz. Jugendliche lassen sich auch überzeugen, vor der Klasse zu reden und durch das Unterrichtsgeschehen in den Bann ziehen. Doch dazu müssen Lehrende ein mediales Feuerwerk zünden. Der „Medienwechsel“ ist ein Fachbegriff im Lehrerzimmer: Texte als Handout, ein kleines Quiz, ein Podiumsdiskussions-Spiel, ein maximal zehnminütiges Lernvideo, Gruppenarbeit, dann wieder eine kurze Debatte mit der ganzen Klasse – alles aber maximal eine halbe Stunde. Erst mit diesem permanenten Wechselspiel wirkt etwa eine Doppelstunde nicht so „langweilig“, dass man wieder zum Handy greift. Zuweilen ist es im letzten Halbjahr gelungen, dass sich die Klasse eine halbe Stunde lang gegenseitig aus einem Roman oder einem Theaterstück vorgelesen hat. Nach meiner Erfahrung wurde dadurch das Handy am zuverlässigsten vergessen.

    Unter dem Strich bilanziere ich, dass die Schule das Suchtverhalten Heranwachsender zwar kennt, ihm aber nicht begegnet – während auch die Schülerinnen und Schüler sich selbst als handysüchtig einstufen und die Schulleitung das Verbot der Suchtmittel nicht mehr wirklich in Erwägung zieht. Man experimentiert auch nicht mit einem temporären Entzug.

    Funktioniert der dänische Weg? Er ist, so glaube ich, selbst wenn seine Erfolge noch ausstehen, ohne Alternative. Dort rebellierten die Lehrerverbände. Konzentriertes Arbeiten war ohne Bücher, nur mit Tablet, nicht mehr möglich. Nun soll das „Klassenzimmer als Bildungsraum zurückerobert“ werden, so will es die Regierung. Der zuständige Minister hat sich bei den dänischen Jugendlichen öffentlich entschuldigt: Man habe sie zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht, „dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können“. Das Klassenzimmer sei eben keine „Erweiterung des Jugendzimmers, in dem gestreamt, gespielt und geshoppt wird. Die Schulen hätten sich den großen Tech-Konzernen zu lange unterworfen. Man sei als Gesellschaft zu „verliebt“ gewesen in die Wunder der Digitalwelt. (Rühle 2024)

    Das dänische Schulministerium empfiehlt jetzt, Handys komplett aus den Schulen zu verbannen, Tablets und Computer wegzusperren, wenn sie nicht im Unterricht verwendet werden und Bildschirme nur noch dann einzusetzen, wenn es didaktisch und pädagogisch sinnvoll ist. Zudem sollen Firewalls es den Schülern unmöglich machen, während der Schulzeit unterrichtsfremde Websites zu nutzen. Über eine dreistellige Millionensumme zur erneuten Anschaffung von Büchern wird diskutiert.

    Alex Rühle: Bildungspolitik: Enttäuschte Liebe. In: Süddeutsche Zeitung vom 6. Februar 2024, sueddeutsche.de/politik/digitalisierung-daenemark-schue-handy-pisa-tablet-1.6344670 [11.5.2024].

    https://www.duden.de/rechtschreibung/suchten [11.5.2024].

    Sinn, Max (2024): „Suchten“ – ein Hilferuf. In: Verantwortungsblog. https://www.zevedi.de/suchten-ein-hilferuf/ [27.06.2024].


    Max Sinn
    ist promovierter Sozialwissenschaftler und arbeitet seit einem Jahr als „(Teilzeit)Lehrer“ an einer weiterführenden Schule in Süddeutschland. Der Name wurde verändert, um jeden spekulativen Bezug zu etwaigen Schülerinnen und Schülern zu verunmöglichen. Der Autor ist der Redaktion bekannt.

  • Über den Blog
    Der ZEVEDI-Verantwortungsblog hat die Frage zum Gegenstand, wie gut es uns im Zusammenleben mit Digitaltechnologien geht. Er kommentiert die Ambivalenzen, die Steuerungsprobleme und die Vertretbarkeit des digitalen Wandels. Was an möglicherweise kritischen Technikfolgen (und Markteffekten) sollte man in den Blick nehmen und diskutieren? Wo sind Sorgen angebracht? Wie passt Digitalisierung zu Freiheit und Demokratie? Welche Regeln braucht eine digitale Gesellschaft? Wovon sollte – weil es kritisch werden könnte – die Rede sein?

    Es schreiben Autor:innen aus dem ZEVEDI-Netzwerk sowie Gäste darüber, was sie lernen und erforschen, was sie beunruhigt und was sie fasziniert.