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Fehler korrigieren, nicht vermeiden – Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen?

Fehler korrigieren, nicht vermeiden
Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen?

Bei der Digitalisierung öffentlicher Leistungen zeigt sich exemplarisch, dass es nicht zielführend ist, wenn Vorhaben zwar formal absolut korrekt durchgeführt werden, aber nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen. Faktoren wie Geschwindigkeit, Lernfähigkeit, Adaptivität und Fehlertoleranz sollten hingegen künftig an Bedeutung gewinnen – es braucht ein neues Verständnis von verantwortungsvollem staatlichem Handeln.

Von Benjamin Seibel | 22.08.2024

Mit Adobe Firefly generiert. Prompt: „kubistisches Gemälde; minimalistisch; Stadt, durch die viele verknüpfte Linien verlaufen“.

An einem Nachmittag im Frühjahr 2015 entwickelte ich meine erste Open Data-App.1 Es handelte sich um eine kleine Kartenanwendung für Smartphones, die Menschen mit wenig Geld einen Überblick über staatliche Unterstützungsangebote und Ermäßigungen in Berlin bot. Die App war weder besonders raffiniert noch aufwändig in der Entwicklung, aber trotzdem sehr viel hilfreicher als das, was die Berliner Landesverwaltung über ihre Website an Informationen bereitstellte. Für mich handelte es sich um ein reines Hobbyprojekt, ich hatte Lust gehabt, meine eingerosteten Programmierkenntnisse etwas aufzufrischen und dachte, dann könnte ich mich auch gleich an etwas Sinnvollem versuchen.

Nachdem ich aus verschiedenen Richtungen ermutigendes Feedback erhalten hatte, beschloss ich, das Gespräch mit der zuständigen Fachverwaltung für Soziales zu suchen. Ich wollte vorschlagen, dass man die App zu einem Teil des offiziellen Online-Angebots der Stadt machen könnte. Der freundliche Herr in der Behörde sagte mir, er freue sich immer über bürgerschaftliches Engagement, aber eine Integration in bestehende Systeme sei leider aus verschiedenen Gründen unmöglich. Ich dürfe die Anwendung gerne privat weiter betreiben. Das wiederum wollte ich nicht. Zum einen verursachte die Anwendung laufende, wenn auch überschaubare Kosten und sie benötigte eine regelmäßige Wartung, die ich nicht gewährleisten konnte. Vor allem aber klang mir das nach zu viel Verantwortung: Ein essenzielles Informationsangebot für potenziell hunderttausende hilfsbedürftiger Menschen bereitzustellen, schien mir als gelegentliche Freizeitbeschäftigung ungeeignet. Ich fragte den Beamten, ob es heutzutage nicht Aufgabe des Staates sein müsse, seinen Bürger:innen solche digitalen Angebote zu machen. Er lächelte nur sanftmütig.

In den folgenden Jahren hatte ich Gelegenheit, mich eingehender mit dem Zustand der Digitalisierung im öffentlichen Sektor zu beschäftigen. Ich lernte etwa, dass es in Berlin eine lebendige „Civic Tech“-Community aus engagierten Menschen gab, die wie ich in ihrer Freizeit Ideen oder sogar funktionsfertige Applikationen für ein digitales Gemeinwesen entwickelt hatten, damit aber bei offiziellen Stellen selten Gehör fanden. Und ich lernte auf der anderen Seite eine öffentliche Verwaltung kennen, die zwar für viele Aspekte dieses Gemeinwesens Zuständigkeit beanspruchte, aber selbst regelmäßig an der Entwicklung funktionierender Online-Angebote scheiterte.

Die Vermittlung zwischen beiden Welten erwies sich als schwierig. Auf der einen Seite eine lose Gemeinschaft aus Entwickler:innen, die ein hohes Maß an IT-Kompetenz mitbrachten, aber lieber drauflos programmierten als nach den komplizierten Regeln der Behörden zu spielen. Auf der anderen Seite eine Verwaltung, die im Zustand einer „Paralyse durch Analyse“ gefangen schien. Zwar setzte man sich auch dort intensiv mit dem Thema Digitalisierung auseinander, aber im Ergebnis wurde fast immer nur Papier produziert: Machbarkeitsstudien, Konzepte und Gutachten, wie Digitalisierung aussehen könnte gab es zuhauf. Zu einer tatsächlichen Umsetzung, also zur Entwicklung digitaler Angebote für Bürger:innen, kam es fast nie und wenn, waren die Ergebnisse meist katastrophal.

Im Sommer 2019 gründeten wir aus der Technologiestiftung Berlin heraus das CityLAB, ein gemeinnütziges Innovationslabor für öffentliche Digitalisierung. Inspiriert vom pragmatischen Vorgehen der Civic Tech-Community schlugen wir vor, das Vorgehen bei der Entwicklung digitaler Angebote vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das CityLAB ist als Ort konzipiert, an dem die Gestaltung gemeinwohlorientierter Digitalisierung grundlegend anders gedacht und gemacht wird, als es sonst im öffentlichen Sektor üblich ist. Praxisnah und mit einer gewissen unbürokratischen Hemdsärmeligkeit, aber auch partizipativ, offen und von den Nutzenden her gedacht.

Aus einem kleinen Pilotprojekt hat sich das größte Stadtlabor im deutschsprachigen Raum entwickelt: Finanziert durch die Berliner Senatskanzlei arbeiten heute mehr als 35 Beschäftigte im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof mit einem großen Netzwerk aus Verwaltungsbeschäftigten, Forschungseinrichtungen und der Stadtgesellschaft an zahlreichen Digitalisierungs- und Transformationsprojekten. Einige unserer erfolgreichsten Angebote, etwa die Plattform „Gieß den Kiez“, die Bürger:innen bei der Pflege von Stadtbäumen unterstützt, oder die KI-Suchmaschine „Parla“, die parlamentarische Vorgänge für ein breites Publikum nachvollziehbar macht, werden heute nicht nur von tausenden Berliner:innen genutzt, sondern auch von anderen Kommunen und Ländern adaptiert.

Ein erster wichtiger Unterschied unseres Vorgehens liegt im so genannten „Rapid Prototyping“. Dabei geht es darum, vielversprechende Ideen innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums zu validieren, und zwar indem man sie einfach ausprobiert. Das mag banal klingen, steht aber dem üblichen Vorgehen der öffentlichen Verwaltung geradezu diametral entgegen. Während in der Verwaltung einem Digitalisierungsprojekt in der Regel eine monate- oder gar jahrelange Phase der Planung, Bedarfserhebung, Prüfung und Abstimmung vorausgeht, ziehen wir die ersten Entwicklungsschritte vor die bürokratische Klammer. Software-Prototypen im CityLAB entstehen binnen weniger Tage oder Wochen und werden anschließend in einem kontinuierlichen Dialog mit der Öffentlichkeit schrittweise verbessert (oder, auch das kommt vor, wieder verworfen).

Das führt direkt zu einem zweiten Prinzip, dem partizipativen Arbeiten „im Offenen“. Weil die digitale Transformation der Stadt alle Bewohner:innen betrifft, ist es wichtig, möglichst viele unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Das machen wir zum einen über partizipative Prozesse und Austauschformate, die sich teils gezielt an sogenannte „stille“ Zielgruppen richten, also an Menschen, die üblicherweise nicht an klassischen Beteiligungsprozessen teilnehmen (Kinder, Wohnsitzlose, Geflüchtete etc.). Zum anderen durch eine konsequente Ausrichtung an Open Source-Prinzipien, weshalb alle Arbeitsergebnisse des Labs, von Workshopmaterialien über Softwarecode bis zur Projektdokumentation frei lizensiert und verfügbar gemacht werden. Das eröffnet grundsätzlich allen Interessierten die Möglichkeit, an unseren Projekten mitzuarbeiten. Bis heute ist unser Arbeitsplatz in Tempelhof zugleich ein öffentlicher Ort, an dem täglich interessierte Menschen aus Verwaltung und Stadtgesellschaft ein- und ausgehen, um sich über laufende Projekte zu informieren oder einfach gleich mitzumachen.

Trotz Wachstums und einiger sehr erfolgreicher Projekte ist das CityLAB bis heute ein Experiment geblieben. Jeder Entwicklungsprozess dient in erster Linie dazu, mehr darüber zu lernen, wie die Gestaltung gemeinwohlorientierter Digitalisierung an der Schnittstelle von öffentlicher Hand und Bürger:innen gelingen kann. Insbesondere in der Zusammenarbeit mit Verwaltungen führt das bewusste Abweichen von sonst üblichen Prozessen aber nicht nur zu Erkenntnisgewinnen, sondern regelmäßig auch zu Reibungen und Konflikten. Die wiederum haben ihre Ursache auch in unterschiedlichen Vorstellungen davon, was unter „verantwortungsvoller“ Digitalisierung zu verstehen ist.

Für Verwaltungen steht in der Regel die Rechtssicherheit an erster Stelle. Aus geltenden Gesetzen und Vorschriften ergeben sich bestimmte Prozessschritte für die Entwicklung eines digitalen Angebots, die dann einfach sukzessive abgearbeitet werden. Entscheidungen werden nicht in individueller Verantwortung, sondern durch die möglichst objektive Anwendung eines Regelwerks getroffen („es ist zu entscheiden“ statt „wir entscheiden“). Vor der eigentlichen Umsetzung liegt eine detaillierte Phase der Planung, die das Risiko, dass später etwas Unvorhergesehenes passiert, minimieren soll.

Das klingt verantwortungsvoll, führt aber bei der Digitalisierung regelmäßig zu schlechten Ergebnissen. Aufgrund der hohen Komplexität sieht man sich bei der digitalen Produktentwicklung ständig mit Fragen konfrontiert, die noch nicht klar geregelt sind. Ein auf vorschriftsgemäßes Arbeiten ausgerichtetes System neigt hier zur Blockade, weshalb sich Digitalisierungsprojekte der Verwaltung regelmäßig um Jahre verzögern (und dann erst recht nicht mehr zeitgemäß wirken). Noch schlimmer kann es werden, wenn Vorschriften offensichtlich von der Realität überholt sind, aber trotzdem angewandt werden. Die beinah groteske Nutzerunfreundlichkeit mancher digitaler Verwaltungsangebote ist letztlich nur ein Ausdruck der Prozesse, in denen sie entstehen.

Die Alternative, die wir im CityLAB verfolgen, ist die radikale Ausrichtung an den Bedürfnissen und Erwartungen der Nutzenden eines Angebots, die im klassischen Verwaltungshandeln erstaunlicherweise kaum eine Rolle spielt. Weil wir Arbeitsstände frühzeitig veröffentlichen, Zielgruppen einbeziehen und deren Feedback ernst nehmen, verlaufen unsere Entwicklungsprozesse deutlich weniger linear, sondern eher in sich wiederholenden Schleifen aus Entwicklung, Test, Lernen und Veränderung. So nähern wir uns schrittweise einer Lösung, die am Ende auch ganz anders aussehen kann als ursprünglich gedacht.

Die Arbeit mit Prototypen, die noch nicht bis ins letzte Detail „zu Ende gedacht“ sind, sorgt in der Verwaltung immer wieder für Irritationen. Der Verzicht auf eine gründliche Detailplanung zugunsten eines offenen und adaptiven Umgangs mit Überraschungen erscheint aus ihrer Sicht riskant. Wir hingegen sehen in dieser Arbeitsweise einen Weg, Risiken zu reduzieren, weil sie, entsprechende Lernbereitschaft vorausgesetzt, frühzeitige Kurskorrekturen erlaubt. Der Faktor „Zeit“ spielt für uns also – auch das ein Unterschied zum klassischen Verwaltungshandeln – eine zentrale Rolle, denn ob eine Korrektur nach zwei Wochen oder erst nach zwei Jahren erfolgt, ist ein entscheidender Unterschied.

Die dafür nötige Geschwindigkeit lässt sich jedoch nur erreichen, wenn man auch unter unsicheren Rahmenbedingungen und in Ermangelung klarer Vorschriften bereit ist, Entscheidungen zu treffen, die dann natürlich auch falsch sein können. Wichtig ist für uns aber auch nicht das Vermeiden von Fehlern, als vielmehr die Fähigkeit, sie schnell erkennen und korrigieren zu können. Ein grundlegender Wertekonsens, den man gemeinsam reflektieren und weiterentwickeln kann, sowie ein transparenter Umgang mit Unsicherheit bieten dafür oft bessere Grundlagen als ein starrer Vorschriftenkatalog.

In meiner Gegenüberstellung wird eine grundsätzliche Herausforderung sichtbar, mit der sich unsere demokratischen Systeme heute konfrontiert sehen. Denn die Frage, wie öffentliche Institutionen unter sich immer schneller wandelnden Bedingungen überhaupt handlungsfähig bleiben können, stellt sich längst an verschiedenen Stellen mit großer Dringlichkeit. Bei der Digitalisierung öffentlicher Leistungen zeigt sich exemplarisch, dass es nicht zielführend ist, wenn Vorhaben zwar formal absolut korrekt durchgeführt werden, aber nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen. Wo hingegen Faktoren wie Geschwindigkeit, Lernfähigkeit, Adaptivität und Fehlertoleranz an Bedeutung gewinnen, benötigen wir auch ein neues Verständnis von verantwortungsvollem staatlichem Handeln, das sich dann vielleicht nicht mehr allein in einem Apparat aus Vorschriften begründen lässt.

  1. Darunter versteht man digitale Anwendungen oder Webseiten, die von der öffentlichen Verwaltung bereitgestellte oder gemeinfreie Daten nutzen. ↩︎

Seibel, Benjamin (2024): Fehler korrigieren, nicht vermeiden – Oder: Wie kann verantwortliche Digitalisierung im öffentlichen Sektor gelingen? In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/fehler-korrigieren-nicht-vermeiden/ [22.08.2024]. https://doi.org/10.60805/6AXT-FM76

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Akzentfarbe: beige Autor: Daniel Martin Feige Verantwortungsblog

Künstliche Intelligenz im Kontext der Kunst

Künstliche Intelligenz im Kontext der Kunst
Am Beispiel der Musik

Was leistet generative KI nicht? Sind wird bald alle – nach den manuell nun auch die Wissens- und Kreativarbeitenden – überflüssig? Kann KI nun auch Kunst? Irgendwie ja? Trotz der beeindruckenden Fortschritte der KI sollten wir nicht übersehen, welche Daten – darunter auch Kunstwerke – zum Training der KI-Modelle genutzt werden. Und es sind weitere kritische Fragen an diese Nutzung zu richten. Nicht zuletzt: was daran wäre wohl Kunst?

Von Daniel Martin Feige | 15.05.2024

Eine Maschine, die Instrumente spielt.
Erstellt mit Adobe Firefly. Prompt: „illustration of a mechanical device making jazz music, in the colors black, white, red, yellow, purple, in the style of cubism, minimal“

Mit Hilfe künstlicher Intelligenz können nicht allein (mehr oder weniger) sinnvolle Texte produziert werden, sondern auch Bilder und Musik. Programme wie ,Midjourney‘ und ,Dall-E‘ auf der einen Seite und ,Suno‘ und ,Udio‘ auf der anderen Seite scheinen den Gedanken zu widerlegen, dass das Hervorbringen von ästhetischen Gegenständen und Kunstwerken allein dem Menschen vorbehalten ist. Wenn sich mit Hilfe von ,Udio‘ für Laien vom Original ununterscheidbare Bossa Nova Tracks ebenso wie Songs im Stile bestimmter Popbands der 1980er Jahre erstellen lassen: Spricht das nicht dafür, dass man selbst hochstehende geistige Fähigkeiten und Tätigkeiten durch KIs und damit in einem bestimmten Sinne maschinelle Verfahrensweisen nachbilden könne?

Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass das nicht der Fall ist. Ich beginne mit einer Beschreibung der jüngst vieldiskutierten KIs zur Erstellung von Musik (I). Daraufhin werde ich die argumentativen Grundlagen der These, dass wir KIs geistige Fähigkeiten zuschreiben können, kritisch beleuchten (II). Abschließend frage ich auf der Grundlage des Gedankens, dass KI keine Kunst produzieren kann, welche produktive Rolle KIs im Kontext der Kunst zugeschrieben werden könnte (III).

Jüngst sind vor allem Suno und Udio im Kontext musikproduzierender KIs in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Hier lassen sich mit wenigen Klicks musikalische Tracks erstellen, auf Wunsch auch mit Gesang und KI generierten Texten. Suno und Udio basieren wie alle jüngst diskutierten Beispiele auf den Architekturen der zweiten Welle der KI-Forschung. Vereinfacht gesagt war das Vorgehen in der ersten Welle der KI-Forschung, der KI festverdrahtete logische Schlussregeln zu implementieren, mit denen dann sinnvolle Sätze und Texte ausgegeben werden sollten. Dies stieß schnell an praktische Grenzen (unter anderem durch den hier vorausgesetzten verarmten Begriff der Sprache).1 Der Paradigmenwechsel in der KI-Forschung lässt sich wie folgt fassen (Boden 2018 und Rosengrün 2021): KI ist heute statistische Generalisierung über sehr großen Datenmengen. Das erklärt, warum die Ergebnisse von KIs zugleich seltsam vertraut und gleichzeitig fremd sind (unter anderem, weil das, was die KIs ausgeben, nicht länger anhand von dichotomen Zuständen wie wahr oder falsch beschreibbar ist, sondern aufgrund von Wahrscheinlichkeiten zustande kommt).

Wie bereits im Falle der Bildgenerierungsprogramme lassen sich auch Suno und Udio nicht in die Karten schauen. Was bei den erstellten Songs auffällt, ist nicht allein die Tatsache, dass sich offenkundig solche Formen von Musik besonders lebensnah reproduzieren lassen, die bereits selbst stark standardisiert sind (bei einigen Arten von Popmusik wie Schlagern klappt es gut und selbst Funktracks grooven überraschenderweise, bei Neuer Musik und Modern Jazz kommt hingegen nur Unsinn heraus). Es fällt vor allem auf, dass man doch die Datengrundlagen sehr deutlich hört (Music Business Worldwide 2024). Suno ist hier generischer, etwas weiter weg von den Vorlagen, bei Udio glaubt man etwa eine sinnlose Variante von Miles Davis’ Trompetenspiel und Bill Evans’ Klavierspiel zu hören, wenn man richtig promptet. Wie auch den Ergebnissen der Chatbots merkt man den musikgenerierenden KIs an, dass sie nicht wissen, wovon sie sprechen.2 Überdies gilt: Das Datentraining dieser KIs ist rechtlich fragwürdig. Das Vorgehen der hinter diesen KIs operierenden Unternehmen lässt sich so beschreiben, dass sie das geistige Eigentum dritter einspeisen, um Ergebnisse zu produzieren, die zwar im juristischen Sinne keine ,Schaffenshöhe‘ zeigen, deren Ergebnisse aber in frappierender Weise mitunter sogar Personalstilen zuzuordnen sind (Für musikalisch geschulte Hörer:innen ist offensichtlich, dass Udio nicht nur mit Miles Davis, sondern auch mit David Gahan trainiert worden ist). Die Diskurse um einen Abbau des Gatekeepings und die Demokratisierung der Kunst; die Diskurse um das Versprechen, dass nun jeder in die Lage versetzt werden können soll, Musik zu machen (ohne sich in solch zeitaufreibenden geistigen wie sinnlichen Tätigkeiten wie das Lernen eines Instruments oder der Beschäftigung mit Musiktheorie zu verlieren) sind in jedem Fall Augenwischerei: Entsprechende Unternehmen zielen mittelbar darauf ab, den Musikmarkt gewissermaßen zu übernehmen und ihn zu einem proprietären Markt zu machen.3

Aber wie kommt man angesichts solch simulakrenhafter wie parasitärer Ergebnisse, die Suno und Udio produzieren, überhaupt auf die Idee, dass das Hervorbringen von ästhetischen Gegenständen und Kunstwerken jetzt keine Domäne menschlicher Tätigkeit mehr sei? Natürlich, die Ergebnisse der musikgenerierenden KIs sind (wenn sie nicht wie im Fall des Modern Jazz oder Neuer Musik sinnwidrig sind) zumindest in dem minimalen Sinne kreativ, dass sie eine Form der neuen Anordnung bekannter Elemente darstellen.4 Die meisten überraschten Reaktionen auf die mit Suno und Udio produzierten Tracks basieren aber auf dem Gedanken, dass man das hörbare Ergebnis im Einzelfall nicht von Menschenhand gemachter Musik unterscheiden kann. Das ist offenkundig ein epistemisches Kriterium; es setzt voraus, dass der Höreindruck hier die relevante Frage darstellt. Eine solche Position ist gleichwohl nicht haltbar. Arthur C. Danto hat geltend gemacht, dass man, wenn man „ein Bronzerad mit Nocken, genau wie das Kettenrad eines Fahrrads, bei Ausgrabungen in Tibet [fände], [es] ungeachtet seiner Identität als Artefakt kein frühzeitiges Fahrrad-Kettenrad sein [könnte].“ (1991: 174) Dieses Argument macht geltend, dass Wissen um die Entstehungsbedingungen eines Gegenstandes wie um die Absichten, die wir in der Entstehung sinnvoll zuschreiben können, einen Unterschied machen für unsere Antworten auf die Frage, um was es sich hier handelt.5 In diesem Sinne ist es tatsächlich eine Information, wenn man erfährt, dass ein Track, den man beim oberflächlichen Hören für einen generischen Popsong der Gegenwart hält, nicht durch Absichten der beteiligten Musiker:innen am Instrument oder bei der Produktion im Studio zustande kam, sondern durch statistische Generalisierungen über große Datenmengen. Wir können dann durchaus noch erstaunt darüber sein, wie ähnlich so ein Song den Vorlagen klingen mag (was zugleich etwas über die standardisierte Natur vieler Arten populärer Musik aussagt). Aber wir würden z.B. nicht länger die Frage stellen, warum sich der Komponist oder die Komponistin entschieden hat, diesen oder jenen Akkordwechsel einzubauen oder warum er sich für diese oder jene Instrumentierung entschieden hat – wir müssten hier über die konkreten Verfahrensweisen der KI sprechen. In diesem Sinne können Dinge, die phänomenal ähnlich sind, kategorial vollständig unterschiedenen Gegenstandsbereichen angehören.

Die phantasmatische Überhöhung der KI im Bereich des Hervorbringens von ästhetischen Gegenständen und Kunstwerken und darüber hinaus basiert auf einer Verwechslung einer epistemischen mit einer ontologischen Frage (und damit einer Verwechslung der Frage, ob ich unter bestimmten Bedingungen einen Unterscheid erkennen kann, mit der Frage, was der Unterschied zwischen zwei Dingen ist). Maßgeblich für diese Veränderung der Fragestellung ist der Turing-Test. Er geht auf Alan Turing zurück und besagt (Turing 1950: 433-460), dass eine Maschine das ,Imitationsspiel‘ dann gewinnt, wenn der menschliche Spieler zu dreißig Prozent falsch rät. Was Turing hier betreibt, lässt sich im Kontext jüngster fachphilosophischer Diskussionen als ,Conceptual Engineering‘ bezeichnen.6 Darunter werden Diskussionen darüber gefasst, welchen Aufgaben die Definition eines Begriffs dienen soll. So kann man die Bedeutung etwa des Begriffs des ,Geistes‘ oder des Begriffs des ,Denkens‘ gemäß der Art und Weise, wie wir diese Begriffe im Alltag und/oder in den Wissenschaften verwenden, aufklären. Oder – und das tut Turing – man gibt einem Begriff eine neue Bedeutung, die einer bestimmten praktischen Agenda dient. Turing hat Begriffe wie ,Geist‘ und ,Denken‘ so neugefasst, dass sie rechnergestützten Tests zugänglich werden. Er hat aber – und das ist der zentrale Punkt – damit nicht etwa einen Bedeutungskern oder einen minimalen Sinn des Begriffs des ,Geistes‘ gefunden. Er hat, so könnte man auch sagen, eigentlich den alten Begriff gegen einen neuen ausgetauscht und das alte Wort dabei bestehen lassen. Warum wir dieses Spiel auch und gerade mit Blick auf die Kunst nicht mitspielen sollten – dazu in gebotener Kürze Überlegungen im letzten Teil dieses Beitrags.

Ich hatte bereits angemerkt, dass die musikgenerative KI nicht als neutrales Tool oder kreatives Hilfsmittel zu begreifen ist, dass zudem noch dem Abbau eines als falsch gewerteten Gatekeepings diene. Vielmehr ist die Praxis generativer KI mit der Frage verbunden, welchen Tech-Unternehmen diese Technologien gehören, in die massenhaft Material gespeist wird, das offenkundig nicht von ihnen stammt. Und ich hatte darauf verwiesen, dass sich besonders stark standardisierte Musik dafür eignet, durch generative KI hervorgebracht zu werden (wozu gar nicht allein Popmusik zählen muss, sondern etwa auch bestimmte Arten der Barockmusik gehören könnten). Abschließend möchte ich in einem Zusammendenken dieser beiden Thesen ausweisen, dass die Frage danach, ob KI Kunst kann, dann falsch gestellt ist, wenn sie als Frage danach verstanden wird, ob KI-Gemälde im Stile Van Goghs, Musik im Stile von Depeche Mode oder Texte im Stile von Eichendorf produzieren kann. Selbst wenn sie das könnte, wäre damit für die Kunstfrage nicht allein aufgrund der Argumentation im zweiten Teil wenig gewonnen. Dazu sind einige kursorische Festlegungen hinsichtlich des Kunstbegriffs nötig.

Im Anschluss an die mit Baumgarten ansetzende, über Kant und Hegel verlaufende und bis zu Adorno und Danto und darüber hinaus sich vollziehende philosophische Tradition des Nachdenkens über Ästhetik und Kunsttheorie ist zu erläutern,7 dass man bisher Kunst und das philosophische Denken stets in einer entfernten Nähe gesehen hat. Denn auch die Kunst ist zu Leistungen in der Lage, die oftmals der Philosophie zugeschrieben worden sind: Sie kann uns Relevantes über uns zeigen, tut das aber anders als die Philosophie: nicht im Medium des Begriffs, sondern vielmehr im Medium eigensinniger Konstellationen von künstlerischen Materialien (Worte, Klänge, Töne, Pixel, Bewegungen, Farben usf.). Kunst lässt sich damit als eine spezifische Weise der Reflexion unserer wesentlichen Orientierungen verstehen für die gilt, dass jedes Werk der Kunst eine solche Reflexion dadurch leistet, dass es ein sich in spezifischer Weise selbst reflektierter Gegenstand ist: Ein Drama Goethes verwendet seine Worte nicht nur, es konstituiert sie in der Verwendung; ein Spielfilm Hanekes gebraucht die filmischen Mittel nicht allein, sondern stellt diesen Gebrauch zugleich immer auch aus. Diese zwei genannten Arten von Werken machen deutlich, dass das historisch in je unterschiedlicher Weise geschieht (und wie Adorno gezeigt hat, ist der Motor dieser Transformation zugleich das andere der Kunst, die gesellschaftliche Realität). Unter der Ägide des Vordringens generativer KI in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche wie auch in die Kreativindustrie transformiert sich nun aber auch der Sinn dessen, was hier Reflexion heißt: Ein Werk der Kunst wird nicht durch den Gebrauch von KI hergestellt, sondern ist nichts anderes als eine in spezifischen materialen und medialen Formen vollzogene kritische Reflexion unserer Gebrauchsweisen von KI. Eine solcher Aufweis des Denkens im Vollzug und aus den Gebrauchsweisen heraus muss keineswegs immer in Form einer Unterbrechung geschehen, sondern kann auch durch die Integration von KI-Akteuren auf der Bühne (wie in einigen Arbeiten Sandeep Bhagwatis) geschehen.8 Kunst wird damit nicht durch KI hervorgebracht, sondern KI fordert Kunst derart heraus, dass sie in jüngsten Arbeiten kritisch auf etablierte und scheinbar selbstverständliche Gebrauchsweisen von KI in ihrem Medium (und zugleich auf ein verkürztes Verständnis von Kunst) reflektiert.

Wir sollten also weniger Angst davor haben, dass uns Maschinen geistig überlegen sein könnten. Vielmehr sollten wir Sorge tragen, dass eine solche These nicht zu einer Verkürzung im Begriff des Geistes, der Kunst und der Kritik führt.

  1. Vgl. als klassische Studie dazu Dreyfus 1972. ↩︎
  2. Vgl. dazu Smith 2019. ↩︎
  3. Vgl. dazu Staab 2019. ↩︎
  4. Das ist einer der Sinne, die Magaret Boden als zentrale Dimensionen der Kreativität bestimmt. Vgl. Boden 2011. ↩︎
  5. Die Rolle des Autors hat Catrin Misselhorn auch ausgehend von Danto jüngst überzeugend mit Blick auf den Unterschied von Kunstwerken und mit KI hervorgebrachten Gegenständen verteidigt. Vgl. Misselhorn 2023. ↩︎
  6. Vgl. v.a. Burgess/Cappelen/Plunkett 2020. ↩︎
  7. Eine ausgezeichnete Skizze der Genese der Ästhetik findet sich mit Scheer 1997. ↩︎
  8. Eine instruktive Rekonstruktion der Rolle der KI in gegenwärtigen kunstmusikalischen Praktiken findet sich mit Grüny 2022: 174-203. ↩︎

Boden, Margaret A. (2018): Artificial Intelligence. A very short introduction. Oxford: Oxford University Press.

Boden, Magaret A. (2011): Creativity and Art. Three Roads to Surprise. Oxford: Oxford University Press.

Burgess, Alexis/Cappelen, Herman/Plunkett, David (Hrsg.), Conceptual Engineering and Conceptual Ethics. Oxford: Oxford University Press 2020.

Smith, Brian Cantwell (2019): The Promise of Artificial Intelligence. Reckoning and Judgment. Cambridge/Mass.: MIT Press.

Danto, Arthur C. (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Dreyfus, Hubert L. (1972): What Computers can’t do. New York: MIT Press.

Grüny, Christian (2022): Seltsam attraktiv. KI und Musikproduktion. In: Schnell, Martin W./ Nehlsen, Lukas (Hrsg.): Begegnungen mit künstlicher Intelligenz. Intersubjektivität, Technik und Lebenswelt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 174-203.

Misselhorn, Catrin (2023): Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst? Stuttgart: Reclam.

Music Business Worldwide: “Suno is a music AI company aiming to generate $120 billion per year. But is it trained in copyright recordings?” [Webseitentext 2024],  https://www.musicbusinessworldwide.com/suno-is-a-music-ai-company-aiming-to-generate-120-billion-per-year-newton-rex/?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR3CnKkKRMw5vh1Rl4i0CCUBj5OJxFixk_DtHdc_BeppehNRc7RWuUxzwMg_aem_Afdhv_QM32hirGr_ZFhQ4NnmhcmXRrdIvwsn_FJWIUe8VtfxEcegsiP0KKa_1qiZp3STlp59WXO3yUlWmj7LsMVz [28.4.2024].

Rosengrün, Sebastian (2021): Künstliche Intelligenz zur Einführung. Hamburg: Junius.

Scheer, Brigitte (1997): Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt: WBG.

Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Berlin: Suhrkamp.

Alan Turing (1950): Computing Machinery and Intelligence. In: Mind 236, S. 433-460.

Feige, Daniel Martin: Künstliche Intelligenz im Kontext der Kunst. Am Beispiel der Musik. In: Verantwortungsblog. https://www.zevedi.de/kuenstliche-intelligenz-im-kontext-der-kunst-am-beispiel-der-musik/ [15.05.2024].
https://doi.org/10.60805/3bph-tg76

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Akzentfarbe: beige Autor: Borna Mohajer Verantwortungsblog

„Die Kunstwelt ist eine Mafia”

„Die Kunstwelt ist eine Mafia”

In den Hype-Jahren wurden NFTs im Wert von 17 Milliarden US-Dollar gehandelt. Die Goldrauschstimmung ist zwar vorüber, aber die NFTs sind geblieben. Für einen iranischen Sammler sind die JPGs sein Leben. Konstantin Schönfelder hat darüber mit ihm gesprochen.

Borna Mohajer im Gespräch mit Konstantin Schönfelder | 15.05.2024

Die Buchstabenfolge NFT.
Erstellt mit Adobe Firefly. Prompt: „illustration of the letters N F T in brown tones, cubism, minimalism; abstract; modern art“

Die Welt der NFT’s hat sich für eine breitere Öffentlichkeit vor allem als Spekulationsphantasie dargestellt. Ein „NFT“, ein Non-Fungible Token, ist im Gegensatz zu Kryptowährungen ein singulärer und nicht teilbarer Wert auf der Blockchain, eine Art Sigel oder Zertifikat. Als wichtigstes Anwendungsgebiet dafür hat sich bislang digitale Kunst entwickelt: Sobald die Datei eines Kunstwerks auf einer Blockchain „geminted“ wird, ist das NFT auf einem öffentlichen Konto einsehbar. Wer den Token besitzt, ist der Eigentümer des digitalen Kunstwerks, das nun zwar weiterhin kopiert und vervielfältigt werden kann, aber eben ohne dabei aber das im Token festgeschriebene Eigentumsverhältnis zu berühren. In den Hype-Jahren 2021/22 wurden NFTs im Wert von 17 Milliarden US-Dollar gehandelt. Die JPEGs – etwa von stilisierten Affen und Pinguinen – wurden von zahlreichen Prominenten gehandelt, der Hype damit noch weiter befeuert. Der Wert der digitalen Artefakte und die Innovation hinsichtlich der Eigentümerschaft ist jedoch, wie das Meiste in der Krypto-Welt, extrem volatil: Die „CryptoPunks”, eine Kollektion mit 10.000 einzigartigen menschenähnlichen Figuren, die zu den ersten Kollektionen des NFT-Goldrausches zählt, wurden mitunter im zweistelligen Millionenbereich gehandelt, pro Stück. Sie verfügen mittlerweile allerdings nur noch über einen Bruchteil dieses Wertes, der zudem in starker Abhängigkeit zur ihrerseits schwankenden Kryptowährung Ether steht. Nun scheint die ungebrochene Faszination etwas abgeklungen, die Welt digitaler Kunstsammler:innen normalisiert sich. Der Taschen-Verlag hat für das Jahr 2024 eine erste monographische Kuration von NFTs vorgelegt und die 101 „einflussreichsten“ Künstler:innen zwischen zwei Buchdeckeln gebündelt. Das Buch kostet, je nach Ausführung, zwischen 750 und 4.000 Euro. Im Interview spreche ich mit einem Sammler digitaler NFT-Kunstwerke, der den Hype hinter sich hat, für NFTs aber dennoch eine Zukunft sieht.

Borna Mohajer: Das war im März 2021, als Beeple seine „Everydays: the First 5000 Days“ für 69 Millionen Dollar bei Christie’s verkaufte. Und nur eine Woche später wurde bei Christie’s ein Haufen „CryptoPunks” für 12 Millionen verkauft. Das war der Boom der NFTs. Und ich wusste noch nichts davon. Ich wusste nichts über Krypto. Ich wusste nur, dass es etwas namens Bitcoin gab, das man „minen” konnte. Ich habe vor ein paar Jahren versucht, Bitcoin zu minen, aber mit meinen Laptops und Desktop-PCs konnte ich nur ein Millionstel Bitcoin pro Jahr damit bekommen. Das war es nicht wert. Aber da ich als Fotograf arbeitete, war das erste, was ich über NFTs dachte, dass ich meine Fotos verkaufen kann. Also begann ich, meine Fotos als NFTs zu vermarkten, und versuchte, sie auf Twitter zu promoten. Aber das ging schief, niemand hat sich dafür interessiert.

BM: Damals gab es eine Twitter-Diskussion um die Rivalität zwischen den „CryptoPunks“, die im Grunde die Großväter der gesamten NFT-Szene waren, und dieser neuen Sammlung, den „Bored Apes“. Das hat mich fasziniert. Diese „Bored Apes“ wurden für etwa 180 bis 200 Dollar pro Stück verkauft, und viele neue Leute kauften sie und stiegen so in die NFT-Welt ein. Ich verfolgte das, und mochte diese Affen wirklich – diese seltsamen Individuen, die diese Art von gegenseitiger Rivalität haben. Zu derZeit, als ich begann, mich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen, kosteten die billigsten Affen etwa 3.000 Dollar. Aber alles, was ich hatte, waren etwa 10.000 Dollar, das war mein gesamtes Vermögen. Zugleich mochte ich diese seltsame Kultur rund um diese Affen und Avatare wirklich sehr. Natürlich gefielen mir die Punks besser, aber ich hatte kein Geld, um die Punks zu kaufen, also kaufte ich schließlich einen „Bored Ape”. Ich hatte keine Ahnung von seinem tatsächlichen Wert. Es war mir auch egal. Ich habe jedenfalls 3.000 Dollar bezahlt. Vielleicht wollte ich einfach nur cool und schräg sein und den Leuten eine lustige Geschichte erzählen können. Wenn mich das nächste Mal jemand fragt: „Und was machst du? “, kann ich antworten: „Ich habe 3.000 Dollar für dieses JPEG bezahlt“. Ich hatte keine weitergehenden Pläne, aber ich habe mich sofort damit identifiziert.

„Bored Ape 5136, im Besitz von bornosor.eth“

BM: Als ich die ersten Angebote erhielt, wurde mir klar, dass dies eine Art Investition war. 2000 Dollar, 2500 Dollar wurden mir kurz darauf geboten. Und fünf Tage später bekam ich ein Angebot über 3600 Dollar, was mehr war, als ich dafür bezahlt hatte. Zuerst habe ich gar nicht verstanden, was da passiert ist. Es ist ein Secondhand-Affe. Warum sollte jemand mehr dafür bezahlen wollen? Ich verstand die Idee von Sammlerstücken nicht und wie sie funktionieren. Alles, was ich bis dahin gekauft hatte, verlor an Wert: Ich kaufte eine Kamera, benutzte sie und sie wurde entwertet. Aber ich wollte diesen Affen ja gar nicht verkaufen. Also habe ich stattdessen einen neuen Affen gekauft, den ich für das Doppelte verkaufen wollte, was eine weitere coole Geschichte wäre, die man beim Abendessen erzählen könnte. Und wenn mich das nächste Mal also jemand fragt, was ich mit meinem Leben anstelle, antworte ich: „Ich habe dieses JPEG für 4.000 Dollar gekauft und für 10.000 Dollar verkauft“. Also habe ich versucht, einen mit seltenen Merkmalen zu bekommen: Er trug einen coolen Tweed-Mantel im Gangster-Stil, der teurer war als die anderen Kleidungsstücke, die die anderen anhatten. Und den bekam ich für etwa 4.000 Dollar. Aber am Ende habe ich auch den einfach behalten. Vielleicht war das der Moment, in dem ich anfing, ein Sammler zu werden.

BM: Ich habe festgestellt, dass mir das tatsächlich Spaß macht. Das ist es, was ich bin. Und die Leute assoziieren mich plötzlich damit! Ernstzunehmende Leute, wie der CEO des Time Magazine, begannen mir zu folgen und mit mir zu sprechen. Da habe ich gemerkt: Das ist eine Identität, und es geht um mehr als nur um Spaß im Internet. Ich sammle Dinge, die für ernsthafte Menschen auf der ganzen Welt von Bedeutung sind. Das war etwa Ende 2022. Die „Bored Apes“ schossen auf 600.000 Dollar pro Stück in die Höhe und die „CryptoPunks“ lagen bei 300.000 bis 400.000 Dollar. Ich wollte erst wechseln, aber dann bin ich bei den „Bored Apes“ geblieben. Ich brauchte meine Geschichte viel mehr als die Punks. Und ich war außerdem mit meiner Entscheidung für die „Bored Apes“ schon ziemlich bekannt.
Und ja, ich spreche von „Identifizierung“ im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sofort erkennbar durch das entsprechende Profilbild ist. Und im Falle des NFT kann man sich den digitalen Fußabdruck einer Person anhand der Aktivitäten auf der Blockchain ansehen: Was hat diese Person gesammelt, verkauft, gehandelt. Es ist sowohl sehr anonym als auch sehr genau nachvollziehbar, wie engagiert man sich für seine digitale Identität einsetzt.

BM: Ich habe nie etwas Bedeutendes aus diesen Werten gemacht. Aber in der Ethereum-Welt habe ich mit diesen beiden Affen angefangen. Und wenn man die NFTs eine Weile behält, bekommt man noch ein paar Extras. Das wird für Leute, die sich nicht auskennen, sehr dumm klingen, aber neben den Affen haben sie, die Erfinder Affen, uns zunächst Hunde gegeben. Sie haben gerade bekannt gegeben, dass man für jeden Affen einen Begleithund bekommt, und zwar kostenlos. Der Hund kostete etwa 4.000 Dollar. Kostenloses Geld dachte ich, danke. Ich habe die Hunde immer noch. Und sie kosteten irgendwann um die 40.000 Dollar pro Stück. Und dann gaben sie uns eine Art Impfserum, kostenlos für jeden Affen, also bekam ich zwei davon. Dann konnte man auf die Webseite gehen und seinen Affen mit einem dieser Serums paaren – und so einen mutierten Affen erschaffen. Ich behielt den ursprünglichen Affen, aber das Serum wurde zerstört und daraus entstand dieser mutierte Affe. Ich hatte also zwei „Bored Apes”, zwei Hunde und zwei mutierte Affen (die Mutanten kosteten zur Hochzeit jeweils 200.000 Dollar). Außerdem kündigten sie an, dass sie ein Spiel mit dem Namen Metaverse machen – sie brachten den Token „Ape Coin” auf den Markt, der ein fungibler Token ist, also kein NFT mehr. Und sie haben mir Tokens im Wert von etwa 700.000 Dollar gegeben, nur weil ich zwei Affen, zwei Hunde und zwei mutierte Affen in meiner Wallet hatte. Für die anfängliche Investition von 8.000 Dollar für die zwei Affen habe ich etwa 2 Millionen Dollar an Geschenken bekommen. Wenn du verkaufst, entgehen dir vielleicht die künftigen Extras. Und mir ging es sowieso nicht um das Geld. Also habe ich als Beweis meines Commitments bis heute alles behalten.

BM: Ich und ein Freund wollten diese kulturelle Rivalität zwischen den Gemeinschaften der „Bored Apes” und „CryptoPunks” schlichten. Die „CryptoPunks” tragen keine Kleidung, man sieht nur das Gesicht, die „Bored Apes” zeigen ihre Schultern und ein wenig die Brust. Wir haben einige dieser Kleidungsstücke im Stil der „CryptoPunks” und der gepixelten Kleidung neu gezeichnet und einige der Köpfe der „CryptoPunks” draufgesetzt. Es war eine Mischung aus beiden Typen, und wir nannten sie „Bored Punks”. Wir haben sie dann auf der Plattform Opensea veröffentlicht. Es war als Aufruf zum Frieden, zum Waffenstillstand gedacht. Jeder Affe kostete genau ein Zehntel von dem, was ein „Bored Ape“ bei der Markteinführung kostete.
Das Ziel war, ein Drittel der Sammlung zu verkaufen, um ein neues iPhone oder ein iPad davon zu kaufen. Aber dann war die Kollektion tatsächlich innerhalb von sechs oder sieben Minuten ausverkauft und brachte uns 25.000 Dollar ein. Das war der Wahnsinn und wurde natürlich zu einem sehr ernsthaften Projekt. Aber dann begann Opensea, der damals seriöseste NFT-Marktplatz, Menschen aus dem Iran zu sperren. Die Kollektion erzielte auf dem Sekundärmarkt irrsinnige Preise, und wir konnten nicht von den Royalties für diese NFTs profitieren, mit denen wir auf dem Sekundärmarkt fünf Prozent für jeden Verkauf gemacht hätten. Das wäre das Fünf- oder Sechsfache dessen gewesen, was wir mit dem Erstverkauf verdient hatten. Es war seltsam, dass Opensea so vorgegangen ist. Wir waren aktive Teilnehmer in diesem Bereich und sie haben einfach prinzipiell unsere Sammlung ausgeschlossen. Opensea verstößt meiner Ansicht nach gegen das Prinzip der Inklusivität, sie meinen damit nur bestimmte Gruppen, die schwarze Community in den USA oder homosexuelle Amerikaner, LGBQ-Menschen etc. Aber alle Iraner:innen sind aus Prinzip ausgeschlossen. Es ist seltsam, das zu sagen, aber ich war dennoch gar nicht unglücklich darüber, dass dieses Projekt beendet wurde. Ich wollte nie, dass es mich definiert, und so konnte ich andere Sachen machen.

BM: Jetzt bin ich hauptsächlich bei Superrare. Superrare hat als erster Marktplatz  Smart Contracts eingeführt, die die Künstler:innen einsetzen können. Davor waren die Unterschrift und der Name des Künstlers nur ein Merkmal, das das NFT hatte. Es hieß „Künstler” und diese Kategorie war der Name. Aber der Token war Teil dieses riesigen gemeinsamen Vertrags zwischen allen Künstler:innen. Superrare hat das geändert. Nun konnte man den eigenen, unabhängigen Vertrag auf Superrare verwenden. Selbst wenn Superrare eines Tages beschließen sollte, dich zu sperren, hättest du immer noch volle Autonomie über deine Werke.

BM: Als Damien Hirst ankündigte, dass er die Kollektion machen will, waren wir einfach nur froh, dass ernstzunehmende Künstler den Raum betreten. Ich habe nicht in Erwägung gezogen, selbst eins zu kaufen. Sie kosteten 2.000 Dollar, als sie auf den Markt kamen, und es gab ein seltsames Kartenzahlungssystem. Also habe ich mich nicht am Erstverkauf beteiligt.
Jedes einzelne dieser 10.000 Werke, physisch hergestellte und dann als NFT digitalisiert, ist von Damien Hirst individuell benannt worden. Es sind ja nur zufällig mit Punkten bedeckte Gemälde, aber sie sind benannt. Ich habe mir diese Kollektion lange nach ihrer Veröffentlichung angesehen, sie war schon viel teurer. Sie kostet mittlerweile 12.000 oder 13.000 Dollar pro Stück. Ich fand eines, das To prove you wrong hieß. Und ich dachte, das ist die Essenz dessen, was ich mit NFTs mache. Also habe ich es gekauft. Ich meine, ich hatte eine Menge magisches Internet-Geld in meinen Taschen. Ich konnte es mir mit dieser Währung leisten, die ich sowieso nicht für irgendetwas anderes benutze, also habe ich es einfach gemacht. Und wieder, ähnlich wie bei meinen „Bored Apes”, dachte ich mir, vielleicht bietet Hirst eine physische Version an, und was mache ich dann? Es wäre ja sehr dumm, das NFT im Austausch für die physische Version zu zerstören.
Das Prinzip war: Wer ein Kunstwerk von „The Currency” erwirbt, hat ein Jahr Zeit, sich für das physische Original oder das NFT zu entscheiden. Also dachte ich, ich besorge mir ein weiteres Exemplar, und das andere wird dann zerstört. Um eines als NFT, eines als physisches Original zu haben. Am Ende habe ich beide als NFTs behalten. Man erhält einen Download-Link für diese Bilder mit einem sehr hochauflösenden Scan beider Seiten des Kunstwerks, die Datei ist jeweils größer als 100 Megabyte. Und es war sehr schön zu sehen, dass Hirst selbst seinen gesamten Vorrat verbrannt hat. Er hatte eintausend für sich behalten. Ursprünglich wollte er nur 10 Prozent davon als NFT aufbewahren und 900 im physischen Original. Aber am Ende der Reise, durch diese soziokulturell neue, verrückte Gemeinschaft, die sich um diese Kunstwerke herum gebildet hat, hat er beschlossen, alle 1000 als NFT zu behalten. Ich erinnere mich, dass wir uns auf Discord mit ihm unterhalten haben. Er verdiente bereits eine Menge Geld mit seinen Verkäufen, den Tantiemen usw. und wie ein Kind, wie alle von uns, kam er in den Chat und stellte seine neue NFT-Kollektion vor. Er zeigte seinen neuen „Bored Ape”. Damien Hirst hat geflext.

BM: Ich bin weniger eingeschränkt. Zunächst einmal lebe ich im Iran. Ich habe keinen Zugang zu den meisten großen (westlichen) Märkten. Ich muss reisen, um an diese physischen Waren zu kommen. Ich habe keinen Zugang zu Gemeinschaften von Menschen, die ebenso besessen sind wie ich von diesem speziellen Sammlerstück. Und ich habe auch nicht wirklich ein Ventil, um mich als jemand, der ein Interesse am Sammeln dieser Dinge hat, auszudrücken oder zu präsentieren, zumindest kann ich mein Interesse an ihnen nicht authentifizieren. Ich kann Fotos von Autos teilen, aber ich kann nicht wirklich beweisen, dass ich ein Autosammler bin, es sei denn, ich besuche Autoshows. Jetzt kann ich all dies von meinem Zuhause in Teheran aus tun.

BM: Diese „Ich bin ein engagierter, digitaler Spinner, der einen Großteil seines Geldes in komische Zeichentrick-Affen investiert hat“-Erzählung wurde geändert in „Du bist ein brillanter Kopf und hattest die Intuition, all diesen Leuten voraus zu sein“. Und plötzlich bist du Clubkamerad von Snoop Dogg, Eminem, Madonna und Jimmy Fallon. Ich mochte das nie. Ich wollte nicht, dass der Affe zu einem Rolex-Symbol wird.  

BM: Taschen veröffentlichte es auf einer Konferenz in Paris im Rahmen einer größeren Veranstaltung für NFTs im Februar 2024. Es umfasst Künstler und Projekte, die im Bereich der NFT- und der digitalen Kunst einflussreich waren. Aber es gibt zwei Probleme: Es ist ein sehr, sehr teures Buch. Das Basismodell kostet 750 Euro. Und was auch eine Menge Kontroversen auslöste, war das, was einige Leute auf X den „Taschen-Effekt“ nannten – einige der enthaltenen Kunstwerke waren zu unverschämten Preisen gelistet. Dieser Preis war als „unverkäuflich“ gedacht, nicht als wirklicher Preis, den irgendjemand bezahlt hätte.
Aber als das Buch dann in Paris an einem Stand einsehbar war, und die Leute es dort durchblätterten, begannen viele dieser Kunstwerke tatsächlich zu diesen verrückten Preisen verkauft zu werden, die das Drei-, Vier- oder Siebenfache der ursprünglichen Preise der anderen Werke dieser Künstler:innnen hatten. Das ist ein interessanter Effekt, denn die NFT-Welt versucht ja immer so zu tun, als würde sie sich der traditionellen Kunstwelt, die das Geld verdient, entgegenstellen. Sie will demokratischer sein und die Intermediäre der Kunstwelt abschaffen oder umgehen. Der Anspruch ist: Wir machen die Strukturen transparent. Wir ermöglichen es den Künstler:innen, direkt mit ihren Sammler:innen und ihrem Publikum in Kontakt zu treten. Und: Wir brauchen keine Institutionen, denn Institutionen sind möglicherweise böse und die Kunstwelt ist böse. Die Kunstwelt ist eine Mafia. Doch dann fängt die Kunstwelt, die böse Mafia, tatsächlich an, ein Buch über NFTs zu drucken.

Das Gespräch wurde am 25.02.2024 online zwischen Frankfurt und Teheran geführt.

Zitiervorschlag

Mohajer, Borna und Konstantin Schönfelder (2024): „Die Kunstwelt ist eine Mafia“. In: Verantwortungsblog. https://zevedi.de/die-kunstwelt-ist-eine-mafia/ [15.05.2024].
https://doi.org/10.60805/6tcy-wj84