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Autor: Sebastian Gießmann eFin-Blog Farbe: gelb

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Ein Beitrag von Sebastian Gießmann

25. Juli 2024

Die Kreditkarte ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Sie gehört zum Erbe der US-amerikanischen Konsumkultur und der „dreißig glorreichen Jahre“ des westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber trotz neuer Finanztechnologien im mobilen digitalen Bezahlen bleibt sie weltweit das führende Zahlungsmittel.

Alte Kreditkarten und neue Apps mischen sich dabei auf paradoxe Weise: Sechs Jahre nach dem Start von Apple Pay als smartphone-basiertem Bezahldienst bot Apple 2020 in Zusammenarbeit mit Goldman Sachs eine eigene physische Kreditkarte an. Nun mit einem Smartphone-Wallet gekoppelt, löste sie eine Neugestaltung der bestehenden Plastikkarten aus. Die schon länger obsolete, leichte Erhöhung der persönlichen Daten, die einst durch Papierabdruck die Nutzung von Kreditkarten per Formulardurchschlag erlaubt hatte, ist verschwunden. Das soziale Prestige der Kartennutzer:in äußert sich jetzt weniger darin, mit ihrem guten Namen zu bezahlen, sondern in den Werten der Walletdaten auf ihrem mobilen Bildschirm. Namen, Kreditkartennummer und weitere persönliche Daten sind in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Rückseite der Karten gewandert. Nach der Covid-19-Pandemie ist zudem die persönliche Unterschrift auf Rechnungen deutlich seltener geworden.

Mit dem Wechsel im Kartendesign reagiert die Banken- und Kreditkartenindustrie auf die von Big Tech gesetzten Maßstäbe im digitalen Bezahlen. Aber kann sie mit den nicht-westlichen Innovationsdynamiken von Finanztechnologien noch Schritt halten? Chinesische Unternehmen wie Alibaba und Tencent haben die bank-basierte Kartenform des digitalen Bezahlens durch app-basierte Dienste übersprungen. Vergleichbares gilt für die Entwicklung des mobilen Bezahlens in afrikanischen Ländern. Warum aber halten sich Kreditkarten trotzdem hartnäckig als Bezahlmittel und Geschäftsmodell, das sogar neue Allianzen mit der Welt der Krypto-Assets eingehen kann?

Charge it! Kredit, Überwachung und Konsum

Eine Antwort darauf liegt in der wechselhaften und immer wieder überraschenden Medien- und Sozialgeschichte des Kredits in den USA. Die Praktiken des gegenseitigen Einräumens und Einforderns von Kredit waren – und sind –konstitutiv für alltägliche Ökonomien und Big Business zugleich. Die auf indigenen Territorien im 19. Jahrhundert vollzogene geografische Expansion der USA war durch Bargeldmangel und die Absenz einer Zentralbank gekennzeichnet. Der ökonomische Austausch über große Distanzen erforderte wechselseitiges Vertrauen an der frontier ebenso wie in den rasant wachsenden Städten. Seit den 1840er Jahren boten sich Agenturen zur Überprüfung von Kreditwürdigkeit als vertrauensschaffende Vermittler an. Ein weitreichendes Netzwerk von Korrespondent:innen ermöglichte den Mercantile Agencies die private Überwachung wirtschaftlicher Aktivitäten.  Zunächst auf professionelle Akteur:innen beschränkt, klassifizierten und bewerteten Auskunfteien ab den 1870er Jahren in den großen Städten die Kreditwürdigkeit von Kund:innen.

Ab 1914 setzte Western Union für die Abrechnung von Telegrammen charge cards ein, die auf einem kleinen rechteckigen Stück Papier die Kontonummer, den Namen, die Adresse der jeweiligen Firma oder Person und ein Unterschriftsfeld enthielten. Auf dieser administrativen Basis setzte eine grundlegende Erweiterung der Kreditfähigkeit von Einzelpersonen durch neue Bezahlmedien nach dem Ersten Weltkrieg ein. In den 1920er Jahren wurde es in den USA erstmals möglich, gesammelte Schulden an andere Unternehmer:innen zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausketten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen. In den Kaufhäusern hatten sich credit departments etabliert, die die Kreditwürdigkeit von Kund:innen anhand von karteikarten-basierten Registraturen und persönlichen Interviews systematisch prüften. Die hohe Nachfrage nach Kredit für größere Anschaffungen, darunter Automobile und Schallplattenspieler, und rechtlich abgesicherten persönlichen Krediten traf auf das neue Kaufen und Verkaufen von angesammelten Schulden im Finanzsystem.

Kundenkarten erleichterten die Registrierung und Identifizierung der Konsument:innen. Neben der entsprechenden Buch- und Karteiführung beinhalteten diese ein spezielles Format, die sogenannten charge-a-plates oder charge plates. Sie ermöglichten basale Zahlungspraktiken in Kaufhäusern, Tankstellen und Hotels wie etwa die um bis zu 30 Tage verspätete Zahlung bei bewährten, ‚guten‘ Kundenbeziehungen. Die Zahlung mit den ab 1928 genutzten charge plates – oder mit den verwandten, älteren charge coins – war einerseits eine Angelegenheit des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits korrespondierte jede Karte mit einem lokalen Kundenkonto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv zur Personalisierung der Karten beitrugen.

Der „Fresno Drop“: Plastik für alle

Privaten Konsum mit aufgeschobenen Zahlungen und Schulden zu verbinden, wurde so zur weit verbreiteten neuen Praxis. Die bisherige Skepsis gegenüber persönlichem Kredit verflüchtigte sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg fragte insbesondere die weiße amerikanische Mittelschicht, als die Kriegsersparnisse aufgebraucht waren, intensiv neue Kredite nach. Die Finanz- und Immobilienindustrie (finance and real estate, kurz: FIRE) antwortete in den 1950er Jahren mit einer Vielzahl von neuen Angeboten, die die bereits akzeptierte Finanzierung von Käufen auf Kredit noch mehr zum Normalfall machten. Als ‚erste‘ Kreditkartenfirma dieser neuen Konsumwelten gilt nach wie vor Diners‘ Club. Zu ihrer Gründung 1949/1950 offerierte sie bequemes monatliches Bezahlen der bei Geschäftsessen in New York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners‘ Club zunächst kein Medium aus Metall oder Plastik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants.Die historischen Schreibweisen variieren. In den Gründungsjahren war Diners‘ Club üblich, später Diners Club (International).

Beim Material herrschte zunächst Vielfalt: Metallene charge cards, Karten auf Celluloid-Basis oder gedruckte Diners-Club-Ausweise waren üblich. Ölfirmen begannen Mitte der 1950er Jahre, ihrerseits charge cards auf Plastikbasis auszugeben. Ab 1958 bot die Bank of America mit der BankAmericard erstmals Plastikkarten an; 1959 folgte American Express. Der wichtigste Markttest erfolgte im September 1958 durch die Bank of America in der kalifornischen Stadt Fresno. Er ist als „Fresno Drop“ bekannt geworden. Nach einem initialen Massenmailing fanden 65.000 Haushalte unaufgefordert Plastikkarten für einen Bank of America charge account plan in ihren Briefkästen. Die Karte erlaubte ihren Nutzer:innen den Erwerb von Waren in anfänglich 300 kleineren Geschäften in und um Fresno. Einmal im Monat erhielten Kund:innen eine Rechnung, die entweder ohne Zinsen im vollem Umfang zu bezahlen war oder aber bei einer jährlichen Zinsrate von 18 Prozent später beglichen werden konnte. Trotz hoher Anfangsverluste gelang der Bank of America der Aufbau eines nationalen Franchise-Systems. Im Gegensatz zum Diners Club setzte es weniger auf Exklusivität denn auf Zugänglichkeit für die Mittel- und Unterschichten. Mit der 1977 erfolgten Umbenennung der BankAmericard in „Visa“ wurde die Internationalisierung des Bezahlens per Kreditkarte zum strategischen Programm.

Karten, Terminals und Großrechner: der globale Aufstieg von Visa und Mastercard

Als größter Wettbewerber der BankAmericard etablierte sich ab 1966 die Interbank Card Association. Die beteiligten Banken gründeten ihren Verbund in Reaktion auf die landesweite Lizensierung von BankAmericards. Interbank vereinte eine Vielzahl regionaler Zusammenschlüsse kleinerer und mittelgroßer Banken, die selbstbewusst mit dem Slogan „Join the revolution: Be a card carrying capitalist“ warben. 1969 ersetzte der Markenname Master Charge das kaum wiedererkennbare Logo der Interbank. Auf die Internationalisierung von Visa hin folgte 1979 die Umbenennung in MasterCard. Hatten sich Visa und Mastercard in ihrer Organisationsstruktur und -kultur zunächst stark unterschieden, wurden diese Differenzen durch den Wettbewerb der 1970er Jahre fast aufgehoben. So kam es in den 1980er Jahren zwei Mal zu Gedankenspielen, beide Firmen zu fusionieren, zumal sie vergleichbare digitale Infrastrukturen aufgebaut hatten.

Tatsächlich war der rasante Aufstieg der amerikanischen Kreditkarte zu globaler Hegemonie untrennbar mit Computern verbunden, die den schnellen mobilen Kredit verwalt- und prozessierbar machten. Schon die Ausgabe der ersten personalisierten BankAmericards 1958 wäre ohne die Nutzung von IBM-Rechnern, Lochkarten, einer Kartenprägemaschine namens Databosser und der Software Electronic Recording Machine-Accounting (ERMA) des Stanford Research Institute nicht möglich gewesen. Die Massenmailings der 1960er Jahre provozierten einen massiven Ausbau computer- und telefonbasierter Infrastrukturen, der mit den wilden Nutzungs- und Betrugspraktiken kaum Schritt halten konnte. „In a rush to get their plastic into the air, banks randomly fired off credit cards. Computers – key to controlling them – are still trying to catch up“, bilanzierte ein LIFE-Artikel im März 1970. Gebändigt wurde die Vielzahl an konkurrierenden Bezahlangeboten ab 1971 durch eine von Bank- und Computerindustrie gemeinsam betriebene Standardisierung.

1971 – der Anfang von etwas, das mittlerweile bestimmt werden kann

Die ersten Kreditkartenangebote europäischer Banken ab 1964 waren Teil des Wohlstandswachstums, der die westlichen Industriestaaten zwischen 1945 und 1975 prägte. Für Demokratiefragen des digitalisierten Finanzsektors sind aber nicht nur die berühmten trente glorieuses des Kapitalismus entscheidend. Die erste technische Standardisierung des Kreditkartenformats samt Magnetstreifen wurde just in jenem Jahr 1971 vorgenommen, in dem US-Präsident Richard Nixon per Fernsehansprache am 15. August die Aufgabe der Goldbindung des US-Dollars verkündete. Eine grundsätzliche Deckung von Geld, Währung und Kredit durch den Wert physischer Objekte ist seitdem nicht mehr gegeben. Diese muss nun jeweils durch vernetzte Buchhaltung neu geschaffen werden. So entwickelte sich der Kapitalismus durch digitale Infrastrukturen weiter, in denen Kredit qua Tastendruck in computerbasierter Buchhaltung gewährt wird. Neoliberale (und libertäre) Ideologien trieben diese beispiellose Finanzialisierung aller Lebensumstände, die noch die kleinste Transaktion im digitalen Bezahlen durchdringt, weiter voran.

Obwohl glamouröse Kreditkartenwerbung und Sticker an Ladengeschäften seit den 1960er Jahren etwas anderes suggerierten, etablierte sich die Kreditkarte bei den US-amerikanischen Mittel- und Unterschichten in einer Zeit ökonomischer Krisen. Die 1970er und noch die beginnenden 1980er Jahre waren durch ernste Rezessionen wie die Ölkrise und Stagflation gekennzeichnet. Unter Jimmy Carters Regierung, die Konsument:innenkredite begrenzen wollte, um die Inflation im Zaum zu halten, führte dies zu teils absurden Szenen. So trat der Präsident von Mastercard Russell Hogg 1980 in Werbespots auf, in denen er das Fernsehpublikum dazu aufforderte, seine Mastercard nur für notwendige Einkäufe und Notfälle zu verwenden.

„Card not present“: Bezahlen im World Wide Web

Die Kreditkarte ist eine der wenigen voll entwickelten digitalen Medien- und Finanztechnologien, die noch vor der allgemeinen Verfügbarkeit des Internets weltweit nutzbar wurde. In den 1980er Jahren prägten Plastikkarten die Konsum- und Medienkulturen im Globalen Norden. Visa und Mastercard etablierten ein ökonomisch ertragreiches, weltweites Duopol, sichtbar durch ihr Sponsoring globaler Sportereignisse, das ihnen vor allem im Fernsehen eine bis heute ungebrochene Präsenz verschafft. Parallel dazu entwickelten Europa und Japan eigene Zahlungssysteme wie die Eurocard und JCB, die der US-Hegemonie entgegen treten sollten und zumindest in den 1980er und 1990er Jahren durchaus erfolgreich waren.

Die physische Präsenz von Kredit- und Debitkarten stellte deren angenommenen Normalfall im 20. Jahrhundert dar: Plastikkarte, Magnetstreifen und Chips waren primär für die Offline-Interaktion im digitalisierten Handel entwickelt worden. Mit der telefonischen Nutzung hatte sich in den 1980er Jahren aber eine – durchaus betrugslastige – Praxis entwickelt, bei der Karte und Daten nicht vor Ort physisch präsent sein mussten. Eines der ersten Amazon-Patente, mit denen Jeff Bezos 1995 verlässliches Bezahlen in unsicheren Umgebungen absichern wollte, beinhaltete daher ein Konzept zur Nutzung von Telefonen für die Übermittlung von Kreditkartennummern im World Wide Web.

Das öffentlich zugängliche, den Wissenschaften entwachsende Internet traf nach 1990 auf die neue politisch-ökonomische Weltordnung. Sie zeichnete sich durch ihre stetige Globalisierung und offene Märkte aus. Gegenüber den gerade entstehenden Konzepten zum digital cash bot sich die Kreditkarte ganz praktisch zum Einsatz im eCommerce des World Wide Webs an. Die amerikanische Kreditkarte war in dieser Situation zu ihrem eigenen Vorteil schon da und wahrte so gegenüber den aufkommenden Debitkarten ihre Bedeutung. Mittels der Kombination einer älteren digitalen Technologie und des WWWs etablierte sich ein Medienverbund, in dem Visa und Mastercard als Plattformunternehmen und Fintechs avant la lettre fungieren konnten. Dies ermöglichte ihre Ausbreitung in immer mehr Märkte und Gesellschaften. Konsumorientierte Mittelschichten fragten schnelle Kredite und Zahlungen nach, ob nun in Brasilien oder im ehemaligen Ostblock – und amerikanisierten sich durch die Adaption neuer Finanzmedien zusehends. Zugleich nutzten die Kreditkartenunternehmen seit Ende der 1980er Jahre den verhaltensorientierten Mehrwert ihrer Transaktionsdaten, was jeder Zahlung einen zusätzlichen ökonomischen Wert verleiht.

Apps & Wallets: Finanzialisierung oder Demokratisierung?

Sollte die Kreditkarte künftig anderen Bezahloptionen weichen, wird dies voraussichtlich durch neue Allianzen von Big Tech und Finanzwirtschaft geschehen. Trotz aller Vorhersagen, das Finanzsystem würde durch Plattformunternehmen gefährlich unter Druck geraten, passt es sich Schritt für Schritt dem technischen Wandel an, den es einst selbst digitalisierend in Gang gesetzt hat. Wer hier neue digitale Praktiken besser antizipiert – seien es kommerzielle Bezahlsysteme wie Apple Pay, Super-Apps à la WeChat oder manche Krypto-Assets mit Bezahlfunktion –, liegt im Wettlauf um die Transaktionsgebühren und Verhaltensdaten einer bargeldlosen Gesellschaft vorn.

Diese Fortschreibung einer schnellen, infrastrukturell abgesicherten Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit für Konsument:innen hat ohne Zweifel ihren Preis. Er betrifft gravierende und weitestgehend unsichtbare soziale Differenzierungen, die anhand von Finanzdaten vorgenommen werden – und somit eine mit den feinen Unterschieden von scores operierende, digitalisierte Klassengesellschaft schaffen. Die Kreditkarte hat sich im 20. Jahrhundert als Lösung für sozioökonomische Fragen des Alltags angeboten, die sie selbst schafft und zugleich verschärft hat. Ihr Versprechen mobiler finanzieller Freiheit übernehmen im 21. Jahrhundert andere Bezahldienste. Hat die erste App damit ausgedient? Mitnichten. Denn die mit der Kreditkarte etablierte Verbindung von Konto, Körper und Person bleibt auch in neuen Apps und Wallets die ökonomische Bedingung unserer sozialen Medien.

Textlizenz: CC BY-SA 4.0

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Autor: Barbara Brandl eFin-Blog Farbe: blau

Was die Digitalisierung des Geldes mit sozialer Ungleichheit zu tun hat

Was die Digitalisierung des Geldes mit sozialer Ungleichheit zu tun hat

Ein Beitrag von Barbara Brandl1Der Blogbeitrag ist eine Zusammenfassung des englischsprachigen Artikels der Autorin und ihren Koautor:innen David Hengsbach und Guadalupe Moreno im Socio-Economic Review, 2024, Vol. 00, Nr. 0, S. 1-23: Small money, large profits: how the
cashless revolution aggravates
social inequality»
.

1. März 2024

Seit 2020 ist das wertvollste Unternehmen in der Finanzbranche nicht mehr wie jahrzehntelang zuvor eine Privatbank, sondern das Kreditkartenunternehmen Visa. Was ist geschehen? Traditionell waren mit dem Zahlungsgeschäft nur geringe Gewinnmargen verbunden. Profite steckten hingegen in den beiden anderen Geschäftsbereichen der Banken: Investition und Vermögensverwaltung. Was hat also den Zahlungsverkehr so lukrativ werden lassen?

Die Antwort ist: die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs. Und das hat – so meine These – enorme Auswirkungen auf das wirtschaftliche Leben in modernen Gesellschaften. Denn die Digitalisierung verändert die Bedingungen unserer täglichen Transaktionen tiefgreifend. Die öffentliche Diskussion um die „Abschaffung des Bargelds“ und Digitalisierung des Bezahlens wird allerdings bislang sehr einseitig geführt. Dabei wird vor allem die Gefahr hervorgehoben, die fortschreitende Digitalisierung gebe den großen Tech-Unternehmen Zugang zu sensiblen Daten. Übersehen werden hingegen das Ausmaß und die Bedeutung, die die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs für die Dynamiken der sozialen Ungleichheit entfaltet.

Die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs als tiefgreifende Transformation unserer alltäglichen Transaktionen

Der Zugang zu Zahlungssystemen ist in modernen Gesellschaften existenziell. Wer keinen Zugang zu den Infrastrukturen hat, über die der überwiegende Teil der täglichen Transaktionen – wie etwa der Kauf von Lebensmitteln oder die Entlohnung von Arbeit ­ abgewickelt wird, ist gesellschaftlich isoliert. Gleichzeitig war gerade die Herauslösung der meisten Transaktionen aus ihrem sozialen Gefüge, wie es der Soziologe Georg Simmel bereits im Jahre 1900 herausgearbeitet hat, eine wesentliche Grundbedingung für die Individualisierung und damit für moderne Gesellschaften: Arbeit muss nicht mehr im Familienverband verrichtet werden, sondern kann unter vertraglich fixierten Bedingungen in einem Unternehmen erbracht und entlohnt werden. Lebensmittel werden nicht mehr in einem komplexen sozialen Geflecht selbst hergestellt oder getauscht, sondern können nahezu ohne jegliche soziale Interaktion in einem Supermarkt käuflich erworben werden. Und für diese Transformation von der Agrargesellschaft in moderne Gesellschaften war Geld die notwendige Vorbedingung. Und zwar Geld in seiner Funktion als Tauschmittel: also als jene allgemein verfügbare Infrastruktur, durch die es ermöglicht wird, dass Individuen nach Abschluss einer Transaktion auseinandergehen und quitt – im Sinne von sich nichts mehr schuldig – sind.

In Form territorialer Währungen stellten diese Infrastruktur die aufstrebenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts bereit. Durch den Einsatz industrieller Technologie bei ihrer Herstellung gelang es nun erstmals, die eigenen Territorien mit ausreichend kleinen Münzen zu versorgen. Eine Aufgabe, an der die mittelalterlichen Stadtstaaten häufig gescheitert waren und damit regelmäßig Wirtschaftskrisen heraufbeschworen hatten. Mit den nun industriell erzeugten Münzen gelang es innerhalb der nationalstaatlichen Territorien zum ersten Mal, den überwiegenden Teil einer Bevölkerung in ein für das alltägliche Leben zusehends entscheidendes Marktgeschehen einzubinden.

Mit der schwindenden Bedeutung des Bargeldes verschiebt sich nun dieses für mehr als hundert Jahre grundlegende Arrangement. Während Bargeld eine öffentliche Infrastruktur ist, basieren alle bargeldlosen Zahlungen auf einem Netzwerk, das private Unternehmen zur Verfügung stellen. Die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs bedeutet also im Kern, dass eine öffentliche Infrastruktur in eine private umgewandelt wird. Bargeld ist insofern eine öffentliche Infrastruktur, als dass sie der Staat in Gestalt der Zentralbank zur Verfügung stellt und damit alle Kosten der Etablierung und Unterhaltung dieser Infrastruktur trägt, sei es der Druck der fälschungssicheren Noten oder ihre Distribution. Alle digitalen Zahlungen laufen hingegen über die Systeme der Geschäftsbanken bzw. der Kreditkartenfirmen. Und diese müssen die Bereitstellung solcher Leistungen amortisieren. Die Umstellung von einer öffentlichen auf eine private Infrastruktur hat nun eine schwerwiegende Konsequenz: Während von der Nutzung von Bargeld niemand ausgeschlossen werden kann, ist dies bei digitalen Zahlungsverfahren anders. Hier entscheiden private Firmen über den Zugang bzw. zu welchen Kosten dieser gewährt wird.

Aus Zahlungen Gewinne machen – die Entstehung der Payment Industry

Durch die sukzessive Ersetzung von Bargeld durch digitale Alternativen entstand eine neue, rasant wachsende Branche: die sogenannte payment industry. In der ersten Welle der Digitalisierung, geprägt durch die Einführung von Kartenzahlungen seit den frühen 1960er Jahren, behielten die traditionellen Akteure des Finanzsektors, die Banken, die Oberhand. Dies änderte sich in der zweiten Welle der Digitalisierung, die spätestens mit den 2010er Jahren einsetzte und durch das Aufkommen der Smartphones gekennzeichnet ist. Nun stiegen die Gewinnaussichten erheblich und der Markt für Zahlungsdienstleistungen wurde dadurch attraktiv für eine ganze Reihe an Akteuren wie etwa Mobilfunkanbieter, Start-ups sowie die großen Technologiefirmen wie Google oder Apple. Diese veränderten Gewinnpotenziale haben aber eine konkrete Ursache: die Transformation des Akts der Zahlung an sich – mit großen sozioökonomischen Folgen.

Die erste und nach wie vor bedeutendste Veränderung des Zahlungsaktes war seine Verknüpfung mit der Entstehung von Kredit. Ist bei Bargeldzahlung der Prozess von Zahlung und Kredit strikt getrennt, ändert sich dies mit der Einführung der Kreditkarte und später der Debitkarte.2Beide Karten erlauben es ihren Nutzer:innen, mehr auszugeben, als sie an Kontoguthaben besitzen. Die Kreditkarte sammelt die Zahlungen, bietet kurzfristigen Kredit und zieht den Betrag erst am Monatsende gebündelt vom Konto ab. Die Debitkarte ist unmittelbar an das Girokonto geknüpft, der Abzug erfolgt daher zügiger und einzeln, die meisten Besitzer:innen können damit aber qua Dispokredit ihr Konto überziehen. Bei Nutzung dieses ersten und auch weiterhin wichtigsten Instruments des bargeldlosen Zahlens wird jeder Zahlungsvorgang potenziell mit der Entstehung von Konsumkrediten verwoben – und damit mit einer Kreditform, welche soziale Ungleichheitsdynamiken ganz besonders befeuert. Wieso? Während andere an Eigentum geknüpfte Kreditformen wie etwa der Hypothekarkredit in aller Regel dazu dient, ein bereits vorhandenes Vermögen zu mehren und insbesondere von höheren Klassen und Schichten in Anspruch genommen wird, verhält es sich bei Konsumkrediten genau umgekehrt. Waren auch die zu Beginn eher vermögenden Schichten vorbehalten, führte ihre breitere Verfügbarkeit ab spätestens den 1990er Jahren dazu, dass vielfach insbesondere Menschen aus niedrigeren Klassen und Schichten solche Konsumkredite in Anspruch nehmen. Aber das zu meist schlechteren Konditionen, die die ohnehin schon prekäre Situation des Kreditnehmers zusätzlich verschärfen. Zunehmende Marktanteile bargeldloser Zahlungen sowie die Expansion digitaler Finanzdienstleistungen in Ländern des globalen Südens verstärkten diesen Trend noch. Und inzwischen ist fast jeder, der bargeldlose Zahlungen tätigt, potenziell Kreditnehmer – aber von Krediten zu miserablen Konditionen.

War bereits mit dem Aufkommen der Kartenzahlungen, also der ersten Digitalisierungswelle im Finanzsektor, die Verknüpfung der Zahlung mit der Entstehung von Konsumkredit erfolgt, ergab sich mit der zweiten Welle eine weitere Einnahmequelle: die Verwertung der im Zahlungsprozess entstandenen Daten. Diese werden zu einem Rohstoff, der weiterverarbeitet und verkauft werden kann. Diese im Zahlungsprozess generierten Daten dienen einerseits als vermarktbare Voraussetzung, um passgenaue Werbung zu platzieren. Anderseits dienen sie den Unternehmen der Finanzbranche nun auch dazu, um an die Bonitäten der Nutzer:innen angepasste Finanzprodukte zu kreieren. Dies können dann sogenannte Subprime-Kreditkarten sein, für die Nutzer:innen in den Vereinigten Staaten schon mal 30 % Überziehungszinsen zahlen.

Die politische Regulation der digitalen Transformation

Die digitale Transformation des Zahlungssektors und damit die sozioökonomischen Folgen, die dieser Prozess mit sich bringt, sind kein notwendiger Digitalisierungseffekt, sondern im Gegenteil in hohem Maße politisch gestaltbar. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man die unterschiedlichen Pfade betrachtet, die einzelne Nationalstaaten oder eben auch supranationale Gebilde wie die Eurozone gehen. So werden die Bedingungen, die es Unternehmen erlauben, im digitalen Zahlungsverkehr Gewinne zu machen und damit die sozioökomischen Folgen, die sie für die Bevölkerung haben, von der Regulation der payment industry bestimmt. Die Vereinigten Staaten und die Eurozone haben hier radikal unterschiedliche Strategien gewählt.

So sind in den Vereinigten Staaten die Gewinne für die Unternehmen in der Zahlungsindustrie besonders hoch, sie betragen nach einer Schätzung von McKinsey3McKinsey&Company: The 2022 McKinsey Global Payments Report». jedes Jahr pro Person 1.300 Dollar. Demgegenüber sind die Gewinne der Banken, Kreditkartenfirmen und Start-ups im europäischen Zahlungssektor geradezu mickrig. Sie betragen für Deutschland um die 300 Dollar pro Person pro Jahr, was im Vergleich mit den europäischen Nachbarn im unteren Mittelfeld liegt: in Frankreich sind es 400 Dollar, in den Niederlanden 250 Dollar, in Spanien 600 Dollar. Die europäischen Unternehmen können also nur ein Viertel bis die Hälfte der Gewinne realisieren, die ihre US-amerikanischen Gegenüber machen. Ursächlich dafür sind die Möglichkeiten der Unternehmen, den Zahlungsprozess in einen Vorgang zu verwandeln, der Gewinn für sie abwirft.

Und diese Optionen sind stark durch die Regulation des Zahlungsverkehrs und der Gebühren, die hier erhoben werden können, eingeschränkt. Während in den meisten asiatischen Ländern der überwiegende Anteil der Kosten von den Händlern abgeschöpft wird, ist dies in Europa sowie in Nord- und Südamerika anders: hier kommen überwiegend die Konsument:innen für die Nutzung der digitalen Zahlungsinfrastruktur auf. Neben den verdeckten Gebühren im Zahlungsprozess, die insbesondere in den Vereinigten Staaten erheblich sind, sind es vor allem die Zinsen auf Überziehungskredite, die große Verdienstmöglichkeiten bieten. Während diese in der Eurozone bei 8 % liegen, liegen diese in den USA im Durchschnitt bei fast 20 % und für „bad credit“, also bei Subprime-Kreditkarten, gar bei 30 % (siehe Abbildung 14Datenquellen: Für die USA: Dilworth, Kelly und Tang, Kaytlin 2023: Average credit card interest rates: Week of August 2, 2023. Für die Eurozone: Knops, Kai-Oliver und Fromm, Calvin, 2022: Consumer protection in the context of overdraft facilities and overrunning. Für Euribor: ECB, 2023a. Für USD Libor: ECB, 2023b.).

Radikal unterschiedliche Pfade, die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs politisch zu gestalten: Eurozone und Vereinigte Staaten

Neben der bereits angesprochenen Ungleichheitsdynamik, die mit Kreditkartenkrediten einhergeht, gibt es eine weitere Dimension der sozialen Ungleichheit, die mit der zunehmenden Digitalisierung des Zahlungsverkehrs einhergeht: der partielle oder vollständige Ausschluss aus dem formalen Bankensystem. Insbesondere in den Vereinigten Staaten ein ernstzunehmendes Problem, waren hier 2021 5 % der Haushalte ohne Zugang zu einem Bankkonto (unbanked) und weitere 14 %5Federal Deposit Insurance Cooperation (FDIC): FDIC National Survey of Unbanked and Underbanked Households, 2021, Zugriff: 5. Oktober 2023. nutzten informelle Finanzdienstleistungen außerhalb des Bankensektors (underbanked) für Geldtransfers oder kleinere Kredite. Dies bedeutet, dass dort das derzeitige Bankensystem den Bedürfnissen von fast 20 % der Konsument:innen nicht gerecht wird. Der Anteil der Menschen, die ganz oder teilweise vom Bankensystem ausgeschlossen sind, variiert stark nach ethnischer Gruppe, Bildung und Einkommen. Während nur 2 % der weißen Bevölkerung keinen Zugang zu einem Bankkonto hat, betrifft dies über 11 % der afroamerikanischen und 9,3 % der hispanoamerikanischen Bevölkerung. Die Situation in der Eurozone ist hier glücklicherweise weniger ernst. Im Jahr 2021 hatten 99 % Zugang zu einem Bankkonto und während es in den Vereinigten Staaten eine Vielzahl von Anbietern für informelle Finanzdienstleistungen gibt, sind diese in Europa (ausgenommen von Anbietern für Rücküberweisungen) gänzlich unbekannt. In Abbildung 26Datenquellen: The World Bank, 2022: The Global Findex Database 2021, eigene Berechnungen. unten sehen wir die Unterschiede zwischen den USA und der Eurozone darin, wieviele Bürgerinnen und Bürger mit niedrigem Bildungsniveau, das hier als Proxy-Variable für das Einkommen verwendet wird, ein Bankkonto besitzen. In den USA hatten 2021 weniger als 60 % der Bevölkerung mit lediglich Primarausbildung ein Bankkonto; in der Eurozone lag dieser Anteil bei 97 %.

Die privilegierte Position der Verbraucher:innen im Zahlungsverkehr in der Eurozone hat allerdings einen hohen Preis: die Abhängigkeit von US-amerikanischen Unternehmen. So brachten die hohen Gewinnmöglichkeiten in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreiche Unternehmen (Visa & Mastercard) und Start-ups (Paypal) hervor, die den europäischen Markt quasi als Nebenerwerb mitbedienen. Demgegenüber ist es durch die geringen Gewinnmargen in der Eurozone bisher keinem Unternehmen gelungen, eine Infrastruktur für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr in der EU zu entwickeln und anzubieten. Während es innerhalb von einzelnen (großen) Ländern, etwa Frankreich und Deutschland, nationalstaatliche Lösungen (Girocard bzw. carte bancaire) gibt, basieren alle grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb Europas auf der Infrastruktur der US-amerikanischen Kreditkartenfirmen Mastercard und Visa. Aber die Kreditkartennetzwerke stellen nicht nur eine Herausforderung für den relativ kleinen Markt für grenzüberschreitende Zahlungen im Euroraum dar. Sie bedrohen auch die von der öffentlichen Hand geförderten nationalen Kartensysteme. In vielen Ländern des Euroraums wurden diese nationalen Kartensysteme in den 2010er Jahren aufgegeben. So verfügten im Jahr 2018 nur noch zehn der damals neunzehn Länder des Euroraums über ein eigenes nationales Kartensystem. In Deutschland kann der Wettstreit zwischen den US-amerikanischen Kartenanbietern und dem von der öffentlichen Hand geförderten Girosystem quasi in Echtzeit beobachtet werden. So kündigte 2023 Mastercard die Kooperation mit Maestro – und damit mit dem deutschen Girosystem.

Während in den Vereinigten Staaten große Bevölkerungssegmente durch die Digitalisierung und die damit verbundene Dominanz einzelner Unternehmen bereits vom Bankensystem ganz oder teilweise ausgeschlossen sind, besteht diese Gefahr in Deutschland bisher nur potenziell. Aber die einzige Möglichkeit, dieser gegebenen Gefahr aktiv entgegen zu wirken, ist der Aufbau einer tatsächlichen Alternative zu der Dominanz US-amerikanischer Unternehmen. Im europäischen Kontext ist dies der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur zur Abwicklung digitaler Zahlungen – wie sie der digitale Euro darstellen sollte.

Redaktionsnotiz: Der Blogbeitrag ist eine Zusammenfassung des englischsprachigen Artikels der Autorin, David Hengsbach und Guadalupe Moreno im Socio-Economic Review, 2024, Vol. 00, Nr. 0, S. 1-23: Small money, large profits: how the cashless revolution aggravates social inequality».

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