„Retire Rich”: Wer profitiert vom Business-Feminismus der Fintech-Branche?
Ein Beitrag von Ruben Kremers
9. Dezember 2024
Am 8 März 2024, pünktlich zum Weltfrauentag, brachten der Neobroker Trade Republic und das Modelabel saint sass eine Strumpfhose mit der Aufschrift „RETIRE RICH“ (z. Dt. „REICH IN DIE RENTE“) auf den Markt. Die Aktion sollte Frauen zum Investieren ermutigen und sie auf Angebote der privaten Altersvorsorge aufmerksam machen, die nicht zuletzt von Trade Republic selbst vertrieben wurden. „Frauen investieren seltener und fangen später an zu investieren“, stand auf der Verkaufswebseite, „deshalb ist jede fünfte Frau in Europa über 65 Jahren von Altersarmut bedroht“. Trade Republik biete Frauen daher einen sicheren, einfachen, und kostenlosen Zugang zu Kapitalmärkten, um privates Vermögen aufzubauen und die Altersvorsorge abzusichern.
Die Vermarktung frauenspezifischer Themen ist bei weitem keine Seltenheit im Fintech-Sektor und unterstreicht den generellen Optimismus der Branche, politische Probleme aller Art unternehmerisch lösen zu können. Gleichzeitig entsteht im praktischen Alltag eher der Eindruck, dass Fintech in Sachen Geschlechtergerechtigkeit hinter anderen Branchen zurückbleibt – trotz der prominenten Rolle zahlreicher, speziell an Frauen gerichteter Werbekampagnen, Netzwerke und Initiativen. Dieser Eindruck wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung bestätigt, wobei die deutsche Fintech-Szene noch relativ unerforscht ist. Vor diesem Hintergrund bietet die Werbekampagne zum Weltfrauentag einen willkommenen Anlass, einen kurzen Blick auf den feministischen Anspruch der Branche zu werfen.
„Das ist doch alles nur Marketing!“
Es kann verlockend sein, feministische Ziele in der Fintech-Branche als reinen Opportunismus abzutun. Allzu oft werben Fintech-Unternehmen in Mission Statements mit feministischen Bekenntnissen, ohne diese im Alltag gezielt zu verfolgen oder unter Druck zu verteidigen. Der Vorwurf des Opportunismus kann in solchen Fällen dabei behilflich sein, leere Versprechen zu thematisieren und verbindlichere Maßnahmen einzufordern.
Jedoch greift der Vorwurf des Opportunismus auch häufig zu kurz. Zum einen sind viele Akteur:innen in der Fintech-Branche davon überzeugt, dass Startups feministische Ziele gerade deshalb verfolgen sollten, weil sie nun mal gut fürs Geschäft seien: Aus guten, opportunistischen Gründen! Opportunistische Motive werden in diesem Kontext nicht unbedingt kritisch gesehen und Unternehmen einen Vorwurf daraus zu machen stößt auf Unverständnis. Andererseits gibt es zahlreiche aufrichtige Versuche im Fintech-Sektor, ihn feministischer zu gestalten. Diese als opportunistisch zu bezeichnen, wäre schlicht fahrlässig und ginge an der Realität vorbei.
Es lohnt sich daher, den feministischen Anspruch des Fintech-Sektors nicht einfach in Abrede zu stellen, sondern die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Herausforderungen zu lenken, die sich aus diesem Anspruch im praktischen Alltag ergeben. Es mag sein, dass der Fintech-Feminismus manchmal naiv-idealistisch und oft sogar zynisch-opportunistisch daherkommt. Richtig ist aber auch, dass er dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten zum Thema zu machen und Lösungsansätze zur Diskussion zu stellen.
Business-Feminismus
In der akademischen Debatte werden die Versuche der Wirtschaft, feministische Ziele mit unternehmerischen Zielen in Einklang zu bringen, als Business-Feminismus beschrieben. Befürworter:innen des Business-Feminismus betonen, dass die strukturelle Benachteiligung von Frauen wirtschaftlichen Schaden anrichte. Frauen in der Führungsetage machten Firmen erfolgreicher und innovativer. Von Frauen gegründete Startups lieferten attraktive Anlagemöglichkeiten. Und Produkte speziell für Frauen bildeten einen lukrativen Markt.
Unter den Kritiker:innen des Business-Feminismus gibt es jene, die anti-feministisch gegen die Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft argumentieren. Und es gibt jene, die feministisch auf die Grenzen des Business-Feminismus hinweisen. Letztere bestreiten in der Regel nicht, dass der Business-Feminismus dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten für Frauen abzubauen. Sie weisen aber darauf hin, dass er tendenziell privilegierte Frauen begünstigt – und selbst das nur dann, wenn die Privilegien von Männern und das uneingeschränkte Primat wirtschaftlichen Eigeninteresses unangetastet bleiben.
Diese Kritik mag abstrakt klingen. Sie bietet aber einen nützlichen Ausgangspunkt, um die Schwachpunkte des Fintech-Feminismus besser zu verstehen. In diesem Sinne kann der Fintech-Feminismus als eine Spielart des Business-Feminismus betrachtet werden – und die Werbekampagne zum Weltfrauentag als ein anschauliches Beispiel seiner Widersprüche.
Die Widersprüche des Fintech-Feminismus
#1 Finanzielle Selbstbestimmung
Ein bedeutender Schwachpunkt des Fintech-Feminismus wird an dem selbsterklärten Ziel der Kampagne deutlich, die drohende Altersarmut von Frauen durch einen erleichterten Zugang zu Kapitalmärkten und privater Altersvorsorge zu verhindern. Dieser Versuch stellt ein typisches Beispiel zahlreicher Bemühungen in der Fintech-Branche dar, die Gleichberechtigung von Frauen durch die Förderung ihrer finanziellen Unabhängigkeit und ihrer finanziellen Selbstbestimmung zu unterstützen.
Einerseits thematisieren diese Bemühungen ein echtes Problem. Finanzthemen und Investitionen werden noch immer zu oft zur Männersache erklärt. Frauen haben daher oft ein geringeres Finanzwissen als Männer, legen ihr Erspartes deutlich seltener in Aktien oder Immobilien an, und erhalten dementsprechend geringere Renditen.1Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.860997.de/publikationen/wochenberichte/2022_49_3/auch_beim_sparen_gibt_es_einen_erstaunlichen_gender-gap__kommentar.html. Andererseits blenden diese Bemühungen eine Reihe weiterer Probleme aus, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht schwerer wiegen. Denn die finanzielle Benachteiligung von Frauen beruht vor allem auf ihrem geringeren Einkommen, nicht so sehr auf der geringeren Rendite an Kapitalmärkten. Zudem haben fast 40 Prozent der Menschen in Deutschland kein nennenswertes Vermögen.2Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.851101.de/nachrichten/die_soziale_notlage_trifft_schon_laengst_die_breite_masse.html. Frauen ohne nennenswertes Vermögen fehlen Ersparnisse, nicht mehr Finanzwissen oder ein einfacher Zugang zu Kapitalmärkten, um einer drohenden Altersarmut zu entgehen.
Wie der Business-Feminismus riskiert der Fintech-Feminismus hier, ein allzu einseitiges Verständnis der Gleichberechtigung zu verfolgen, bei dem die gesellschaftliche Realität vielschichtiger, sich überschneidender sozialer Ungleichheiten aus dem Blick gerät. Es ist zweifellos wichtig, Finanzthemen und Finanzkompetenzen an Frauen und Männer gleichermaßen zu vermitteln. Es ist aber auch wahr, dass ein Fokus auf die Vermittlung von Finanzwissen und Finanzkompetenzen im Bereich Kapitalmarkt vorrangig Frauen erreicht, die bereits über ein gewisses Maß an Reichtum und Bildung verfügen. Die Probleme von Frauen, die über weniger kulturelles und finanzielles Kapital verfügen und schon deshalb vorrangig unterstützt werden müssten, drohen unberücksichtigt zu bleiben.
#2 Fintechs Frauenbilder
Eine weitere Herausforderung des Fintech-Feminismus wird an der strategischen Inszenierung der Zielgruppe der Kampagne zum Weltfrauentag deutlich. Trade Republic und saint sass präsentieren eine junge Frau – zerzaustes Haar, schwarze Lederjacke, knappes Crop-Top, grauer Minirock – in lässiger Pose. Eine Inszenierung, die zugleich als unabhängig, selbstbewusst, verführerisch gelesen werden kann, aber auch als lasziv, devot, und übersexualisiert. Es bleibt unklar, ob die Strumpfhose hier vorrangig dazu dienen soll, Frauen anzusprechen und auf das Thema der Altersarmut aufmerksam zu machen. Oder ob sie vielmehr den Blicken der männlichen Kunden dienen soll, die rund 84 Prozent der Nutzer von Trade Republic ausmachen.
Diese Ambivalenz ist symptomatisch für die widersprüchlichen Erwartungen an das Aussehen, mit denen Frauen auch in der Fintech-Branche konfrontiert sind. Und für die unverhältnismäßige Bedeutung, die das Aussehen für sie im Vergleich zu den Männern einnimmt. So sind Frauen stets dazu aufgefordert, weiblich, aber nicht zu weiblich aufzutreten, attraktiv, aber nicht zu attraktiv zu wirken. Dabei ist ihr Aussehen, anders als das der Männer, der permanenten Beurteilung durch andere ausgesetzt. Dies äußert sich etwa in ungefragten Begutachtungen, anzüglichen Bemerkungen oder abfälligen Kommentaren, die sich disproportional an Frauen richten, und die oft fließend in übergriffige Formen des Alltagssexismus übergehen.
Vor diesem Hintergrund mag die Strumpfhosenkampagne zwar das legitime Bedürfnis mancher Frauen inszenieren, unabhängig, selbstbewusst, und verführerisch zu sein. Sie untermauert dabei aber auch die generelle Erwartung an Frauen, die Sexualisierung ihres Aussehens und die damit verbundene Ungleichheit gegenüber Männern als einen normalen Aspekt des unternehmerischen Alltags zu akzeptieren. Die Idee, ein in Strumpfhosen posierendes Model am Weltfrauentag zu einem Symbol im Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen zu erklären, erscheint mit Blick auf diese Ungleichheit daher, gelinde gesagt, unglaubwürdig.
#3 Bros, Geeks und Nerds
Eine letzte Schwachstelle des Fintech-Feminismus wird an der Art und Weise deutlich, in der die Weltfrauenkampagne die Gleichberechtigung von Frauen beinahe wie selbstverständlich als reines Frauen-Thema präsentiert. Dabei ist offensichtlich, dass die bestehenden Privilegien von Männern die vielleicht wichtigste Hürde für die Gleichberechtigung von Frauen in der Branche darstellen. Wobei diese Privilegien unter Männern ungleich verteilt sind. Eine Frage, die mehr Aufmerksamkeit verdient, ist daher, wie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Fintech-Branche von einem unternehmerischen Ethos aufrechterhalten werden, das den Computerfreak, das verkannte Genie, gepaart mit der Risikobereitschaft, Rücksichtslosigkeit und dem Reichtum eines Investmentbankers zum Leitbild des erfolgreichen Unternehmers erklärt.
Eine Eigenart der Fintech-Szene ist, dass sie die einst negativen Klischees über Computerfreaks und Investmentbanker oft als positive Klischees männlicher Startup-Gründer reinterpretiert. Statt konventionelle Vorstellungen männlicher Überlegenheit zu verdrängen, hat dies in Teilen der Szene zu einer Verschiebung der Überlegenheitsfantasie geführt. Diese äußert sich in den regelmäßigen Exzessen der vielzitierten Bro-Culture, die sexistische Beleidigungen und sexuelle Übergriffe in Teilen der Szene normalisiert. Sie äußert sich darin, dass Wagniskapitalfonds in Deutschland noch immer beinahe ausschließlich in Startup-Unternehmen mit männlichen Gründern investieren,3Siehe: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/mehr-unternehmerinnen-fuer-den-mittelstand.html und dass der Verweis auf „traditionelle Rollenbilder“ dabei als plausible Rechtfertigung annerkannt wird. Schließlich äußert sie sich auch in der Leichtigkeit, mit der insbesondere Männer in der Branche feministische Themen zur Nebensache erklären, die – ganz im Sinne des Business-Feminismus – nur dann interessant wird, wenn sie Wachstum und Profitabilität für das eigene Unternehmen verspricht.
Ein anderer Feminismus für die Fintech-Branche?
Wer profitiert vom Fintech-Feminismus? Das Beispiel der Weltfrauentagskampagne macht deutlich, dass diese Frage nicht einfach zu beantworten ist. Der Fintech-Feminismus vermag es, die strukturelle Benachteiligung von Frauen sichtbar zu machen und die Forderung nach Veränderung zu verbreiten. Er hat dabei aber vorrangig die Interessen privilegierter Frauen im Blick und lässt die strukturellen Privilegien von Männern und den absoluten Vorrang der Profitmaximierung von Unternehmen unangetastet. Wie könnte daher ein ambitionierterer Fintech-Feminismus aussehen?
Ein erster Ansatzpunkt wäre es, zu fragen, wie die Interessen der am wenigsten priviligierten Frauen mit an Bord geholt werden können. Das würde bedeuten, nicht nur mehr Frauen zum Investieren zu ermutigen, sondern auch über kollektive Formen der Fürsorge, des Wohlstands, und der Umverteilung nachzudenken. Wie können digitale Finanztechnologien dazu beitragen, die Lage von Frauen zu verbessern, die keine nennenswerten Ersparnisse haben?
Ein zweiter Ansatzpunkt wäre es, die Sexualisierung von Frauen im unternehmerischen Alltag als ein kollektives Problem zu bekämpfen, von dem Frauen jedoch in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Wie können unternehmerische Weiblichkeiten dargestellt, verkörpert, und verteidigt werden, die auch Frauen eine Orientierung im unternehmerischen Alltag bieten, die nicht bereits gesellschaftlichen Normen entsprechen?
Schließlich müsste ein ambitionierter Fintech-Feminismus auch damit beginnen, den Fokus auf die Rolle und Privilegien von Männern zu legen. Wie kann der Kampf gegen den Alltagssexismus in der Branche als ein Männerthema artikuliert und verankert werden? Wie können mehr Männer dazu gebracht werden, die eigenen Privilegien nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu Gunsten einer gerechteren, vielseitigeren, und letztlich, innovativeren Branche aufzugeben? Und kann die Glorifizierung des Computerfreak-Investmentbankers durch alternative Erzählungen erfolgreichen Unternehmertums zurückgedrängt und sogar ersetzt werden?
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