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Autor: Frank Engster eFin-Blog Farbe: hellblau

Zur „Kleinen Philosophie des Geldes“ im Augenblick seines Verschwindens

Zur „Kleinen Philosophie des Geldes“ im Augenblick seines Verschwindens

Ein Beitrag von Frank Engster

28. März 2024

Der Anlass des Buches Kleine Philosophie des Geldes ist ein Verschwinden, das denkbar paradox ist: Das Geld verschwindet in seiner sinnlich wahrnehmbaren, empirischen Gestalt als Bargeld – aber seine Geltungsmacht wird durch dieses Verschwinden nur um so absoluter. Ja, es ließe sich sogar sagen, dass das Geld gerade in diesem

Verschwinden seinem Begriff und seiner Logik adäquat wird. Denn ist uns das Geld nicht darum so rätselhaft, weil es letztlich etwas Unsichtbares, nicht Fassliches repräsentiert? Steht es nicht in seinem materiellen Dasein buchstäblich für einen ökonomischen Wert, der ideell und übersinnlich ist? Ein Wert, der einerseits durch das Geld überhaupt erst greifbar wird und eine Existenz erhält, andererseits aber gerade durch das Geld zu etwas Übersinnlich-Ideellem wird? Das Geld würde dann in der Geschichte seiner De- und Entmaterialisierung derjenigen Logik adäquat, die von Anfang an das Geld der kapitalistischen Gesellschaft auszeichnet. Das Geld gibt, was auch immer seine empirische Gestalt sein mag, ob Gold und Edelmetall, ob Papier oder ob bloßer elektronischer Impuls – das Geld gibt einem rein quantitativen Wert objektive, ja sogar universelle Geltung, aber diese empirisch reine und universelle Geltung des Quantitativen ist aus keiner seiner materiellen Gestalten ableitbar oder erklärbar. Es scheint daher umgekehrt, dass die De-Materialisierung des Geldes diesem Wesen adäquat wird.

Das Geld im Schnittpunkt dreier Entwicklungen

Dieses eigentümliche Verschwinden des Geldes, dem zugleich eine Art Zu-sich-Kommen seiner rein quantitativen Geltung entspricht, wird im Buch im Fluchtpunkt von drei Entwicklungen angesiedelt. Die erste Entwicklung ist die eben angeführte gleichsam metaphysische Entwicklung, dass das Geld in der Geschichte seiner zunehmenden Ent- und Dematerialisierung seine reine Geltung durchzusetzen und ihr adäquat zu werden scheint.

Die zweite Entwicklung, in deren Fluchtpunkt wir uns heute befinden, beginnt mit der kleinen „Sattelzeit“ (Koselleck) um das Jahr 1973. In diese Zeit fällt das Ende des Goldstandards und des Abkommens von Bretton Woods, die Erschöpfung des klassischen Fordismus sowie der Umbruch in den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und in eine post-fordistische, vielleicht gar post-industrielle Gesellschaft. Auch der Neoliberalismus mit seinen politischen Techniken (Deregulierung, Privatisierung, Abbau des Sozialstaates, Schwächung der Gewerkschaften) beginnt in diesem Jahr, und zwar mit dem Putsch in Chile gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Allende. Auf den Putsch folgte die neoliberale Konterrevolution durch die Militärdiktatur von August Pinochet und einer Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, der „Chicago Boys“, die u.a. die monetaristische Theorie ihres Lehrers Milton Friedman installierten.

Diese kleine Sattelzeit war für die ungeheure Ausweitung einer Geldmenge wichtig, die einerseits, vor allem qua Kreditgeld, gleichsam aus dem Nichts geschöpft wird und die andererseits nicht mehr durch Gold gedeckt oder zumindest umtauschbar sein muss. Die ausgeweitete Geldmenge ist allein durch diejenige ökonomische Verwertung „gedeckt“, die sie erst in Kraft setzt und gleichsam nach sich zieht. Gelingt das aber nicht, stehen Entwertungsprozesse und Kapitalvernichtungen an, etwa durch das Platzen von „Blasen“ in monetär überhitzten Bereichen der Ökonomie (die dann wiederum Kettenreaktionen auslösen, die andere Bereiche betreffen und mitunter globale Ausmaße annehmen).

Die dritte Entwicklung ist, dass der Aufstieg der ökonomischen Techniken des Finanzkapitalismus und der politischen Techniken des Neoliberalismus begleitet wurde von einer Revolution, die in der Technologie im engeren Sinne stattfand. Die Rede ist natürlich von der Digitalisierung. Das Geld wird durch seine Digitalisierung nicht einfach dematerialisiert, es erlangt einen neuen Status. Denn mit dem Geld wird auch der ökonomische Wert nicht einfach nur elektronisch, digital, immateriell, der Wert wird Information. Er wird zu einer Information in einem viel radikaleren Sinne als in den Wirtschaftstheorien, die Wert oder Preis schon seit langem als eine Information fassen. Denn fortan sind alle einzelnen Zahlungen, alle finanziellen Transaktionen und alle Geld- und Finanzströme elektronisch und digital nicht nur abwickelbar, sie sind auch rekonstruierbar, speicherbar, steuerbar und sogar vorhersagbar und berechenbar, zumindest bestimmter Wahrscheinlichkeit nach. Mit dieser technischen Transformation wird die Information des (vermeintlich bloß) ökomischen „Werts“ nun mit individuellen, mit sozialen, mit politischen und überhaupt mit allen Arten von Information überlagert.

Das hat ungeheure Auswirklungen auf neue Formen der politischen und sozialen Überwachung und Kontrolle, der Planung, Steuerung und Machtausübung. Hatte das Geld seit jeher die berühmten „zwei Seiten der Medaille“, indem es in seiner geprägten Gestalt als Münze Kopf und Zahl, Politik und Ökonomie, Staat und Markt (re-)präsentiert, so befindet sich das Ökonomische nun auf eine ganz neue, eben immaterielle Weise (mit jener Rückseite) verbunden, denn was in der Münze noch in zwei Seiten geschieden war, befindet sich jetzt im Zustand der Überlagerung. Ökonomische Informationen überlagern sich auf eine ganz unmittelbare Weise mit allen anderen Arten von Information, etwa über das Verhalten von Individuen, Gruppen und Bevölkerungen, über ihre Entscheidungen, ihre Vorlieben, ihre Geheimnisse usw., und diese Informationen können über elektronisch-digitale Geldströme ausgelesen werden.

Durch die Überlagerung sind diese Informationen in einer Art Unschärfe gehalten und können für ganz unterschiedliche Zwecke verwendet werden. Genauer gesagt kann mit diesen Informationen für unterschiedliche Zwecke gerechnet werden. Dieses Rechnen bezieht sich nicht auf das profane Kommodifizieren der Daten. Es geht vielmehr um ein politisches und soziales „Bewirtschaften“ der Daten. Auch dieses Rechnen mit Daten und Informationen geht über ihre bloße Kommodifizierung, also ökonomische (Weiter)Verwertbarkeit hinaus. Es erhält einen eigentümlichen Status, der dem Status der Überlagerung, in dem sich Informationen befinden, entspricht. Denn einerseits kann mit den Daten und Informationen auf eine eng ökonomische und quantitative Weise gerechnet werden, wobei das Rechnen aber auch ein Berechnen ist und zur Programmierung, Algorithmisierung und für KI genutzt wird: Kaufentscheidungen und Konsumverhalten lassen sich rekonstruieren und berechnen, ja vorhersagen und steuern. Und andererseits ist dieses Berechnen entgrenzt, denn es gilt nicht nur für die Ökonomie, sondern im Prinzip für alles, was mit großen Datenmengen und schneller Rechenleistung berechenbar gemacht werden kann: Migrationsströme, Gesundheitsrisiken, Kriminalitätsentwicklung, Wählerverhalten usw.

Diese umfassende Auslesbarkeit des, vereinfacht zusammengefasst, Sozialen ist auch der Grund für die enorme Bedeutung der Frage, wer über die Daten verfügt, wer sie sammeln, auswerten, verwenden und auch manipulieren kann, kurz, wer mit den Informationen rechnen kann. Sind Daten, Informationen und die gesamte Grundstruktur, die mittlerweile daran hängt, nicht eine Art gesellschaftliche Infrastruktur geworden wie einst Energie, Eisenbahn oder die Post (also die klassischen Netze mit ihren Übermittlungen und Strömen)? Sollten die Daten und ihre Infrastruktur wirklich einzelnen großen Quasimonopolen gehören? Oder sind sie dort vielleicht gerade vor staatlichem Zugriff und Missbrauch geschützt? Und wie könnte eine gesellschaftliche Kontrolle jenseits von Staat und privaten Kapitalen aussehen?

Chronos, Kosmos, Logos

Kurzum beide, Geld und Wert, erlangen mit der Digitalisierung einen neuen Status. Das Geld erscheint nicht mehr analog dem Hegelschen Geist, dem „Gott der Philosophen“, der ja bereits eine Art Verweltlichung des christlichen Gottes war. Auf diese Analogie hatte u.a. der Marxismus und die Kritische Theorie zurückgegriffen, aber auch Marx selbst. Vielmehr funktioniert das Geld heute, im Zeitalter einer globalen und zunehmend digitalisierten Ökonomie, des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und des Informationszeitalters, anscheinend wie ein gewaltiger Prozessor. Das Datennetz mit seinen Algorithmen gleicht einem gewaltigen gesamtgesellschaftlichen Gehirn, in dem Informationen aller Art als Daten unendlich schnell prozessiert und verarbeitet werden. Und darin scheint es das Wesen des Geldes zu sein (insbesondere im Banken- und Finanzsystem, dem zentralen Nervensystem der Ökonomie), Informationen über ökonomische Werte, die sich mit weiteren Informationen überlagern, mit Lichtgeschwindigkeit zu übertragen. Erschien den Philosophen das Geld einst unverfügbar wie ein (Welt-)Geist, so scheint ein passendes Bild für sein unfasslich übersinnliches und doch ungeheurer wirksames Wesen heute der Welt-Computer zu sein.

Das Verschwinden des Geldes im Elektronisch-Digitalen ist indes, wie oben schon gesagt, für mich und meine Mitautoren (nur) der Anlass gewesen, das Geld noch einmal einer Kritik zu unterziehen. Das ist allein schon darum stets akut, weil bis heute keine allseits akzeptierte Theorie oder Kritik des Geldes gelungen ist. Weitgehende Einigkeit besteht bestenfalls darin, dass das Geld seiner Bewältigung durch Wissenschaft und Theorie offenbar Probleme aufgibt. Der notorische Begriff dafür, der von einer Reihe Autoren verwendet wurde, ist das Geldrätsel.  Wenn aber das Geld keine allseits akzeptierte Bestimmung gefunden hat und rätselhaft geblieben ist, legt das zwei Konsequenzen nah. Zum einen scheint dem Geldrätsel nur arbeitsteilig beizukommen zu sein, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung. Und zum anderen muss der Gegenstand der gemeinsamen Kraftanstrengung diese Rätselhaftigkeit des Geldes sein – vielleicht führt, so unser Gedanke, gerade dieser Umweg über die Bestimmung seiner Rätselhaftigkeit zu einer angemessenen Bestimmung des Geldes. Ja, wenn es gelingt, seine Rätselhaftigkeit zu bestimmen, so ist das vielleicht bereits die Lösung des Geldrätsels.

Von diesen beiden Konsequenzen ausgehend, hat das Buch sich vorgenommen, drei Dimensionen zu bestimmen, die das Geld gleichsam von sich aus herausfordert. Die drei Dimensionen, die zugleich den drei Teilen des Buches „Chronos“, „Kosmos“ und „Logos“ entsprechen, sind 1.) die Ökonomie der Zeitlichkeit, die das Geld eröffnet und geradezu mit sich bringt, 2.) die Kosmologie, die es dadurch in der Moderne entwirft, sowie 3.) die Logik, die es zu etablieren scheint. Die drei Dimensionen werden von den drei Autoren jeweils im Rückgriff auf drei große Geld-Theorien und ihre Autoren vorgenommen, nämlich im Rückgriff auf Marx, Simmel und Hayek. Geld bringt mit der kapitalistischen Moderne also eine Temporalität, einen Kosmos und eine Logik mit sich, und wir argumentieren, dass in allen drei Fällen ein Entzug und Verschwinden des Geldes in diese drei Dimensionen von Anfang an im kapitalistischen Geld angelegt ist.

Was die Dimension der Zeit angeht, so setzt das Geld durch die Quantifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere durch die In-Wert-Setzung und Quantifizierung sowohl der Arbeits- und Produktionsverhältnisse als auch ihrer Resultate, der Waren, eine „Ökonomie der Zeit“ (Marx) in Kraft.

Mit dem kapitalistischen Geld fängt indes nicht nur eine neue – quantifizierte – Zeit durch einen ökonomischen Umgang mit ebendieser Zeit an, es fängt auch eine neue Kosmologie an. Sie fällt zusammen mit der „kopernikanischen Wende“, durch die das alte Weltbild gestürzt und durch einen neuen, nun nicht mehr geozentrischen und gottgegebenen Kosmos ersetzt wurde: Die alten „Verschuldungszusammenhänge“ werden ersetzt durch einen „Bereicherungszusammenhang“. Dieser Bereicherungszusammenhang hängt an einem Geld, das einerseits quasi aus dem Nichts geschöpft werden kann, weil andererseits Reichtum in abstrakter Form unendlich vermehrbar zu sein scheint. Reichtum scheint nicht mehr, wie in vor- und nicht-kapitalistischen Gesellschaften, eine Art Nullsummenspiel zu sein, das letztlich nur auf der Auf-, Ein- und Verteilung einer gottgegebenen und zugleich quasi natürlichen Endlichkeit beruht (darum „Verschuldungszusammenhang“). Vielmehr scheint Reichtum, obzwar er immer ein endliches Dasein führt, aus sich selbst heraus ins Unendliche vermehrbar zu sein – jedoch, ohne dass klar wäre, auf welche Weise dieses Unendliche durch Geld in Anspruch genommen, bewirtschaftet und ökonomisiert wird. Das Unendliche scheint eine Art unsichtbares Drittes zu sein, bei dem sich der kapitalistische Bereicherungszusammenhang durch Geldvermehrung und Wachstum verschuldet und das durch die ständigen gesellschaftlichen Krisen ebenso im endlichen Dasein beständig wiederkehrt, wie es verdrängt wird.

Mit dem kapitalistischen Geld hält schließlich auch eine ökonomische Rationalität und Logik Einzug. Einerseits scheint diese Logik quasi natürlich zu sein, ganz so, als käme im Kapitalismus endlich eine Rationalität zu sich, die überhistorisch ist und insofern schon immer gegolten haben müsse. Andererseits kann die Wirtschaftswissenschaft nicht angeben, was genau im Preis eigentlich in Wert gesetzt ist und was diese geheimnisvolle Qualität ist, die quantifiziert wird. Vor allem aber kann sie die Qualität des Quantifizierens selbst, die uns durch das Geld gegeben ist, nicht recht angeben. So wurde einerseits, besonders im Zuge des Neoliberalismus, die Quantifizierung auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt und noch zur Lösung der dadurch entstehenden Probleme eingesetzt (schlagendes Beispiel ist der Emissionshandel), während andererseits die Logik des Quantifizierens selbst ein blinder Fleck blieb.

Das Geld verschwindet also nicht erst, wenn es elektronisch und digital wird. Vielmehr ist es das Wesen des Geldes, sich in seine Darstellungsweise zu entziehen. Es präsentiert uns in diesem Entzug unmittelbar eine Zeitökonomie, ein Weltbild und eine Logik und Rationalität, die jeweils vertrackterweise durch das Geld und durch seinen Entzug so erscheinen, wie sie (schon) ohne Geld zu sein scheinen. Das Geld löst durch die Quantifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse einerseits eine kapitalistische Ökonomie der Zeit ein, und entzieht sich dadurch andererseits in eine Zeit, die durch Geld quantitativ anwesend wird; die Schöpfung und Vermehrung des Geldes und des abstrakten Reichtums führt in der Moderne zu einer radikal neuen Kosmologie, die das Unendliche auf eine unklare Weise in Anspruch nimmt und im Wachstumszwang verendlicht; und das Geld beherrscht eine ökonomische Rationalität, die durch Werte und Preisinformationen mit dem Rechnen des Geldes rechnet, ohne dieses Rechnen des Geldes selbst zu fassen zu kriegen.

In Kürze erscheint eine noch umfangreicher angelegte arbeitsteilige Kraftanstrengung zur Bestimmung des Geldes, nämlich das Handbook of Philosophy and Money. In 2 Bänden wird die Geschichte des Verhältnisses von Geld und Philosophie von der Antike bis zur (Post-)Moderne von einer Vielzahl von Wissenschaftler:innen und Philosoph:innen rekonstruiert.

Frank Engster, Aldo Haesler, Oliver Schlaudt: Kleine Philosophie des Geldes im Augenblick seines Verschwindens, Berlin: Matthes & Seitz.

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Autor: Petra Gehring Coinzeit 3000 eFin-Blog Farbe: hellblau

Coinzeit 3000 #7: Token

Ein Beitrag von Petra Gehring

15. Februar 2024

Rachel O’Dwyer schreibt als kluge Ethnologin des digitalisierten Bezahl-Alltags. Ihre Umschau zum schillernden „Wert“ nicht nur von Kryptotoken liest sich hinreißend: man ist fasziniert von Vouchern, Giveaways, Amazon-Wishlists, Fortnite-Skins wie überhaupt Gaming-Währungen aller Art, des Weiteren: virtuellen Trophäen, Andenken, Memes – alles das ist informelles Digitalgeld!

„Throughout history, tokens have littered the edges of the economy …” (7). Dieser Ausgangsthese zufolge erscheint offizielles, staatlich abgesichertes und quasi vereindeutigtes Geld geradezu als moderne Ausnahme. Diesseits davon existieren Welten voller Wert-Zeichen, die zirkulieren, temporär in Geltung sind, Käuflichkeit organisieren und Macht verleihen. O‘Dwyer, die am National College of Art and Design in Dublin Digital Culture lehrt, nennt die Träger solcher Wertmarkensysteme (und ihr Buch) Tokens: „As something that is ‘not quite money’, tokens blur the hard edges between legitimate and illegitimate work and legitimate and illegitimate transactions.” (7) Vor der Digitalisierung kannten wir das vereinzelt auch: Rabattmarken, Lebensmittelkarten, Sammelbildchen. Im Netz kommen informelle Bezahlformen nun jedoch in großem Stil zurück: Aus Spiel wird Ernst.

“Tokens confer identity and access.” (10) Digitales Blingbling – nicht Geld, aber money-ish und überall klickbar zu haben sowie spielfigurenartig zu bewegen – ist auch Anerkennungsmittel. Das Wertzeichen kann besagen: Du bist wertvoll, und: Du bekommst genau deshalb, weil du so aussiehst oder dies tust, virtuelles Kapital. Das Spielgeld schafft also vertragsartige Bindungen und steuert: „Tokens can thus […] be a way of attaching special conditions to payments. They can bring spending, eating, parenting, and, well, living in line with the issuer’s objectives. Not just value, then, but values.” (vgl. 10) Ebenso schafft dieses Geld schlimme Belohnungssysteme: physische Demütigungswetten, sadistische “Mutproben”, Online-Sex: „The token is a communication designed to express itself not only with the channel, but immediately and directly on the body of the performer.” (23)

Im Ganzen ist Tokens nicht nur ein cooles, sondern auch ein politisches, zorniges Buch über Geld. Es gibt Kapitel über Tracking durch Geld, über Geld und Identitätsfeststellung, über Code als schlechten Ersatz für Recht und über das Metaverse („Litter is there to create Realism“, 271). Unbedingt lesenswert. Ein einziges Aber: die Begriffswahl. Was alles um Himmels willen nennt O‘Dwyer „Token“? Die Entscheidung für einen Schlüsselbegriff ist sicher immer ein kniffeliger Tauf-Akt. Und sicher ist mein Störgefühl dasjenige einer Philosophin. Token meint aber eben nicht nur Wertzeichen, sondern Zeichen ganz generell. Wären also alle Zeichensysteme letztlich Wertsysteme? Ist das die These: Bedeutung ist (oder wird im Netz) per se Wert?

Zum Einstieg bemerkt O’Dwyer selbst kurz, ihre Verlegerin fände den Begriff zu weit gefasst. Sie räumt ein: Tokens faszinieren als Grenzfall. „A token can be a game, a passcode, a ticket, a social tie, a keepsake, a bribe, a secret message, a gift, a promise, a vote, an ownership stake, a joke, a meme, an art, a flex, a bet, a law, another token.” (11 f.) Die Frage bleibt: Was genau meint more and less than money (11)? Absorbiert die digitale Bezahlfunktion letztlich sogar das Konzept des Zeichens selbst? Oder sprechen wir doch besser dezidiert von Wertzeichen, also von einer zusätzlichen Performance, die – sagen wir: einem digitalen Symbol oder Schriftzug zuwächst, sobald er als bezahlmittelartiger Anreiz Macht gewinnt? Zumindest theoriebegrifflich hieße letzteres: Zwischen „Token I“ (digitales Bezahlen) und „Token II, III, … n“ (Zeichensysteme ohne genau diesen beinahe-Geld-Effekt) wären zu unterscheiden. Auch einen Kapitalismus neuen Typs könnte man wohl nur dann scharf analysieren, wenn man nicht gleich alles im selben Sinne – und sei es ironisch – „Token“ nennt.

Rachel O’Dwyer: Tokens. The Future of Money in the Age of the Platform. London/New York: Verso 2023.

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