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Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Ein Beitrag von Moritz Hütten

9. Oktober 2024

Eine Szene konnten Sportbegeisterte bei den zurückliegenden Olympischen Sommerspielen in Paris immer wieder sehen: Athlet*innen, die für die Fotografen auf die gerade errungene Medaille bissen. Woher stammt die Idee hinter dem beliebten Fotomotiv? Wer sich weniger für Sport interessiert, kennt das Motiv vielleicht aus Westernfilmen, in denen der Held oder Halunke mit dem „Bisstest“ die Echtheit einer Goldmünze prüft.  Händler*innen konnten so angeblich erkennen, ob es sich wirklich um das weiche Edelmetall handelt.

Die Zusammensetzung der Medaillen von heute ist bekannt. Selbst die Goldmedaille weist nur einen geringen Goldanteil auf. Sie bringt es aktuell auf einen Materialwert von gerade mal 1000 €. Der Biss auf dem Siegertreppchen ist also lediglich ein Ritual.

Was wir hier aber sehen, ist das Doppelleben von Edelmetallen, allen voran Gold: Sie sind Material und Symbol zugleich und verkörpern Seltenheit und Beständigkeit. Nicht nur im Sport, sondern auch in der Geschichte unseres Geldes spielt Gold eine Rolle. Über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts hatten viele Länder einen Goldstandard, sprich ihre Währung war durch Goldreserven gedeckt. Auch wenn diese Deckung in den 1970er Jahren endgültig aufgehoben wurde, wirkt die Vorstellung von Gold als „echtem“ Wert bis heute nach und findet in Krisenzeiten sogar neuen Zulauf. Die Idee vom Geldwert durch Edelmetall nennt sich Metallismus und gehört zu den „Warengeld“-Theorien.

Goldschürfer findet einen Bitcoin

Metallismus und digitales Bezahlen wirken zunächst wie Gegensätze. Seit 2008 versucht die Kryptowährung Bitcoin jedoch, diese beiden Gegensätze zusammenzubringen, mit dem Anspruch, „digitales Gold“ zu sein. Was ist aber „digitales Gold“ und welche Konsequenzen hat das für unser Finanzsystem?

Es war einmal … – Eine kurze Geschichte des Metallismus

Am Anfang war der Tausch. Tauschende hatten aber ein Problem: Tauschen kann nur, wer hat, was der/die andere braucht und braucht, was der/die andere hat. Wenn ich Weizen habe und Schuhe möchte, dann brauche ich jemanden, dem es genau umgekehrt ergeht. Wirtschaftswissenschaftlich spricht man von der Koinzidenz von Bedürfnissen. Wenn sich die richtigen nicht finden, kommt der Tausch also schnell zum Erliegen, selbst wenn zu befriedigende Bedürfnisse bei allen vorhanden sind. Um das zu verhindern, braucht es eine Art „Joker“, der an die Stelle des eigentlich gewünschten Gutes treten kann.

Laut der Geschichtserzählung des Metallismus ruft das die Edelmetalle auf den Plan. Durch ihre Beständigkeit, Seltenheit, Transportierbarkeit und Teilbarkeit eignen sie sich ideal als Joker. Der wertige Joker funktioniert damit fast wie unser Geld heute. Weil sich mit ihm jedes andere Gut ertauschen lässt, beschreibt der Soziologe Georg Simmel den Edelmetall-Joker auch als das „absolute Mittel“.

Erst hier taucht in dieser Version der Geschichte der Staat auf. Wenn der Joker reibungslos zirkulieren soll, braucht es Standardisierung. Staatliche Münzstätten gewährleisten mit ihrer Prägung die Konsistenz von Gewicht und Feinheit jeder Münze. Der Wert entstammt dem Material, der Staat vereinfacht nur den Ablauf.

So weit, so falsch.

Der Wirtschaftsanthropologe David Graeber widerspricht in „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“ dieser Erzählung. Nach Graeber ist die Welt des freien Tauschhandels eine retrospektive Erfindung des angehenden Kapitalismus, der die Marktwirtschaft als „natürliche“ Gesellschaftsordnung rechtfertigt. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass Kredit und Schulden in der Geschichte deutlich vor dem Tauschhandel mit Geld auftreten.

Was hier erst einmal wichtig ist, ist, dass eine Geschichte des Geldes ohne Staat oder Gesellschaft Fiktion ist. Fiktiv zu sein, macht sie aber nicht weniger wirkmächtig. Vorstellungen eines „harten“ Geldwerts abseits „weicher“ politischer und sozialer Institutionen finden insbesondere in Zeiten multipler globaler Krisen sogar neuen Zulauf.

Was ist eigentlich Bitcoin?

2008 deutete sich vorsichtig eine überraschende Entwicklung an. Jemand unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto stellte den Entwurf für ein digitales Geldsystem vor, das sich in vielerlei Hinsicht an der Fiktion des Metallismus orientierte: Bitcoin.

Bitcoin ist ein dezentralisiertes Computerprotokoll, das das digitale Bezahlen ohne Intermediär oder Mittelsmann erlaubt und sich ideologisch sowohl am Bargeld als auch am Metallismus orientiert. 2008 wurde das Konzept schriftlich prägnant im sogenannten Bitcoin-Whitepaper vorgestellt; 2009 ging die dazugehörige Software online.

Das Besondere an Bitcoin war, dass Nakamoto einen Vorschlag erarbeitet hat, wie die Transaktionshistorie dieses Bezahlsystems konsistent und verlässlich verwaltet werden kann, ohne die Kontrolle darüber bei einer zentralen Instanz zu bündeln. Technisch läuft das Ganze so ab, dass durch eine Art Lotterieverfahren, dem sogenannten Mining, Schreibrechte für den nächsten Eintrag im digitalen Buchhaltungssystem, dem Ledger, unter all jenen verlost werden, die ihre Rechenleistung zum Betrieb des Protokolls bereitstellen. Wer mehr Rechenleistung bereitstellt, hat auch bessere Chancen und wer gewinnt, erhält einen fixen Betrag neu geschöpfter Bitcoins und einen variablen Betrag an Transaktionsgebühren.

Ungefähr alle 10 Minuten findet diese Ausschüttung statt und es werden im Durchschnitt etwa 4000 Transaktionen abgewickelt, indem sie in Form eines „Blocks“ dem Buchführungssystem hinzugefügt werden. Es ergibt sich eine Kette an Blöcken, die Blockchain. In fixen Intervallen nimmt die Anzahl der neu geschöpften Bitcoins in vorausschaubarer Weise ab, bis die von Anfang an festgelegte Maximalmenge von 21 Millionen Bitcoins erreicht ist.

Dass Bitcoin eine Kritik am bestehenden Finanzsystem ist, wurde gleich im ersten Block bekräftigt, wo sich bis heute ein Verweis auf eine Schlagzeile des Tages findet: „The Times 03/Jan/2009 Chancellor on brink of second bailout for banks“.

Wie kann man sich „digitalen Metallismus“ vorstellen?

Bitcoin hat schon sehr früh für Kontroversen gesorgt. Zu den bekannteren Beispielen gehört die Unterwanderung der Sanktionen gegen WikiLeaks oder die Nutzung im Onlinedrogenhandel 2010/11. Was Bitcoin jedoch wirklich kontrovers gemacht hat, war der Anspruch, „Geld“ zu sein. Gezielt und ohne staatliche Beteiligung „neues“ Geld zu schaffen, kam einem Tabubruch gleich. Dementsprechend versuchen Forschende bis heute, Bitcoin geldtheoretisch einzuordnen.

2013 kam von drei Sozialwissenschaftler:innen der Vorschlag, Bitcoin als „digitalen Metallismus“ zu beschreiben (Maurer et al 2013). Durch den Begriff wird sowohl dem Versuch der Geldmengenbegrenzung im Digitalen Rechenschaft getragen als auch der Nomenklatur von Bitcoin, die sich am Münzgeld und, siehe Mining, am Abbau von Edelmetallen orientiert. Coin, sprich Münze oder Geldstück, verweist auf den Archetyp „harten“ Geldes. Zahllose Artikel verwenden bis heute beim Thema Bitcoin gerne das Bild einer goldenen Münze, der ein dem Dollarzeichen ähnliches Bitcoin-Logo aufgeprägt ist. Während es verschiedene Versionen solcher konkreten Münzen als Souvenir oder gar als DIY-Münze samt Sticker mit persönlichem Wallet-Zugangscode gibt, sorgt diese physische und bildliche Darstellung eher für Verwirrung, weil die Vorstellung der fixen Münze den eigentlichen Abläufen der digitalen Transaktionsabwicklung zuwiderläuft.

Auch der Begriff des „Mining“ orientiert sich am physischen Vorbild des Goldschürfens. Wie im Bergbau wird hier arbeitsintensiv „geschürft“, in der Hoffnung, auf Gold zu stoßen, nur dass die Arbeit von (mittlerweile) stark spezialisierter Hardware geleistet wird.

Um zu verstehen, was es mit dem „digitalen Metallismus“ auf sich hat, sollte man in den Artikel schauen, in dem der Begriff geprägt wurde. Was die Wissenschaftler:innen dort zum Ausdruck bringen wollen, ist, dass schon der Metallismus, also die Idee vom „echten“ Geldwert durch Edelmetall, eine soziale Konstruktion ist. Was damit gesagt werden soll, wirkt zunächst paradox, ist Gold doch ein Material, dessen Eigenschaften für uns dinglich erfahrbar sind und dessen Seltenheit unstrittig ist. Wie kann es also eine „soziale Konstruktion“ sein?

In den Sozialwissenschaften beschreibt eine „soziale Konstruktion“, dass viele Aspekte unserer Realität, wie Normen, Werte und soziale Strukturen, keine „natürlichen“ Gegebenheiten, sondern das Ergebnis von sozialen Prozessen und Interaktionen sind. Damit wird nicht bestritten, dass Gold fixe physische Eigenschaften hat, aber seine Rolle als Wertaufbewahrungsmittel wird als sozial konstruiert verstanden. Oder anders gesagt: auch der vermeintlich „echte“ Goldwert entspringt sozialen Verhältnissen. 

„Digitaler Metallismus“ baut darauf auf und bezieht sich auf die „diskursiven Praktiken“ der Warengeld-Theoretiker:innen, durch die soziale Beziehungen, die Kredit- und Schuldverhältnissen (eigentlich) zugrunde liegen, „naturalisiert“ werden, was bedeutet, dass sie wie „natürliche“ Eigenschaften unserer Realität erscheinen.

Was man sich, übernimmt man diese Perspektive, dann eigentlich anschauen muss, ist die „Diskursarbeit“ der Bitcoinverfechter:innen. Ob Bitcoin „digitales Gold“ ist, ist nicht so sehr eine Wesensfrage als eine Frage der Positionierung. Während sich Bitcoin mit der Rolle als vollumfängliches Geld schwertut, läuft die Positionierung als „digitales Gold“ heute sehr erfolgreich.

Bitcoin – Vom „electronic cash“ zum „digitalen Gold“

Geld werden gemeinhin drei Funktionen zugeschrieben, die es im Alltag hat: Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel.

Als Tauschmittel und Recheneinheit versagt Bitcoin. Wer sich Mühe gibt, findet zwar Wege, vereinzelt Waren oder Dienstleistungen mit Bitcoins zu erwerben, selbst Bitcoin-Fans zahlen ihren morgendlichen Kaffee oder ihre Miete jedoch weiterhin in ihrer lokalen Währung. Ebenso werden die Preise für solche Angebote kaum in Bitcoin abgebildet, sondern beispielsweise in Euro oder US-Dollar, die dann in Kommabeträge von Bitcoins umgerechnet werden.

Vielfach wird Bitcoin mit (Online-)Kriminalität in Verbindung gebracht. Zwar schreibt die Bundesdruckerei dazu: „Kryptowährungen sind nicht per se ein kriminelles Instrument, aber der konkrete Einsatz und die spezifischen Eigenarten machen sie für Straftaten attraktiv“. Für bestimmte Straftaten wie Ransomware-Angriffe – eine „Lösegeldforderung“, nachdem Angreifer*innen etwa die Datenbestände einer Firma verschlüsselt haben – sind Kryptowährungen nahezu alternativlos.

Verfechter:innen von Bitcoin gehen bei solchen Aussagen auf die Barrikaden. Seit Jahren verweisen sie auf hehre Ziele von größerer Finanzinklusion bis zur Unabhängigkeit von einem volatilen Finanzsystem – hier sind aber weiterhin kaum Fortschritte ersichtlich. Als Zahlungsmittel werden Kryptowährungen kaum genutzt, als Instrument zur finanziellen Inklusion weisen sie erhebliche Probleme auf und selbst Bitcoin-Vorzeigeländer wie El Salvador verzeichnen eine stagnierende Nutzung auf niedrigem Niveau.

Im Kern geht es um einen jahrelangen Streit, ob Bitcoin vorrangig „electronic cash“ und damit Tauschmittel oder Wertaufbewahrungsmittel sein sollte. Gold gilt dabei als das Vorbild der inflationsgeschützten Anlageform per se. Für Vertreter:innen der ersten Gruppe sieht es heute schlecht aus. Die zweite Gruppe kann dagegen nicht unerhebliche Erfolge vorweisen, was sich zuletzt sogar an der Debatte um eine US-Bitcoinreserve zeigt.

„Digitales Gold“ – Vom Gegenentwurf zur Symbiose?

Wenn man den Begriff eng auslegt, scheint Bitcoin heute echte Chancen zu haben, die Rolle als „digitales Gold“ einzunehmen – wie steht es aber um die großen Verheißungen, die mit dem Goldstandard als Idee verbunden sind?

Für jene, die dem Goldstandard nachtrauern, steht er bis heute für eine Zeit der Stabilität und Prosperität. Auch Maurer et al. (2013) verweisen auf die daran angelehnten Versprechungen Bitcoins: „[…] solidity, materiality, stability, anonymity, and, strangely, community” (S. 263).

Was wir jetzt sehen, ist eine zunächst paradoxe Entwicklung. Die Suche nach Stabilität im „digitalen Gold“ entpuppt sich als Quelle von Instabilität und neuen Verwerfungen in Politik und Finanzsystem. Sicherlich ist das ein Stück weit gewollt, Bitcoin sollte von Beginn an Staat und Banken Kontrolle entziehen. Vieles von dem, was wir jetzt sehen, scheint den Interessen jener zuwiderzulaufen, die sich eine „Bitcoin-Revolution“ erhofft haben.

Erstens spielen Kryptowährungen eine wachsende Rolle in der Politik. Seit Jahren nehmen Lobbyaktivitäten zu. Zwar haben die meisten Projekte der Szene technisch enttäuscht, der spekulative Investitionsboom hat aber reichlich Geld in die Kassen der zentralisierten Krypto-Börsen gespült. Mit den wachsenden Einnahmen macht man sich nun daran, sich politisch Gehör zu verschaffen. Viele Bitcoin-Fans begrüßen es, wenn ihr/e „pro-Krypto“ Kandidat:in das Rennen macht oder entsprechende Themen auf der Agenda nach oben rücken.

Auch wenn man sich weiterhin revolutionär gibt, finden sich auf der Liste der Firmen, die in Krypto-Lobbyarbeit investieren, jedoch viele alte Bekannte der Tech- und Finanzbranche: von Meta und Paypal bis Visa und Citigroup. Große Plattformen, deren Überwachungs- und Kontrollpraktiken ursprünglich von Bitcoin und Co. herausgefordert werden sollten, können sich zusehends mit der Welt der Kryptowährungen arrangieren. Trotz der vermeintlichen Angst vor staatlichem Machtmissbrauch konnte man sich in der Szene zuletzt selbst für eine zweite Amtszeit von Donald Trump erwärmen.

Zweitens kann sich mittlerweile selbst die Finanzindustrie, die ursprünglich im Zentrum der Kritik von Bitcoin stand, mit der Kryptowährung anfreunden. 2017 bezeichnete Larry Fink, CEO der Investmentgesellschaft BlackRock Bitcoin noch als „Geldwäsche-Index“; 2024 ist Bitcoin für ihn „digitales Gold“ und ein „legitimes Finanzinstrument“. Finks Sinneswandel steht exemplarisch für eine Branche, die nicht dauerhaft auf die Aussicht auf spekulative Gewinne mit und um Bitcoin verzichten will. Vom ursprünglichen Antagonismus bleibt dabei zusehends nicht viel übrig, stattdessen werden Bitcoins in die eigene Produktpalette aufgenommen, zuletzt mit der Etablierung einer Reihe von Bitcoin-ETFs, wodurch Krypto-Spekulation tiefer ins bestehende Finanzsystem integriert wird.

Das Muster wiederholt sich innerhalb der vergleichsweise jungen Krypto-Szene. Schon früh haben verschiedene Personen oder Gruppen alternative Kryptowährungen aufgesetzt, die Bitcoin nach ihren Vorstellungen ergänzen oder ersetzen sollten. Die Website CoinMarketCap zählt heute fast 10.000 weitere Kryptowährungen. Hier kommen die „diskursiven Praktiken“ um Bitcoin so richtig zur Geltung. Viele Ableger lösen nicht dasselbe Knappheitsversprechen ein, sind stark zentralisiert und bedienen keinen nennenswerten Zweck, dennoch hat sich der Sprech von „Krypto-Assets“ oder „Kryptowerten“ festgesetzt. Das diffuse Gefühl von Wertigkeit und Beständigkeit hat einen Wildwuchs zumeist nutzloser Spekulationsobjekte befeuert. Besonders auffällig waren in den letzten Jahren unsinnige Exzesse um NFTs und dubiosen „Stablecoins“ wie Tether mit Sitz auf den British Virgin Islands.

Einzelne Investor:innen mögen vom Bitcoinkauf finanziell profitieren oder nicht, das ist von dieser Diskussion unberührt. Auf gesellschaftlicher Ebene manifestieren sich aktuell aber vor allem die Risiken dieser Entwicklung, von Krypto-Lobbyismus bis zur unvorsichtigen Integration ins bestehende Finanzsystem; von Spekulationsblasen bis zu fraglichen Stablecoins; die versprochenen Chancen bleibt man uns dabei noch schuldig.

Quellen:

Graeber, David (2014): Schulden: Die ersten 5000 Jahre. München: Goldmann.

Maurer, Bill; Nelms, Taylor C.; Swartz, Lana (2013): „When perhaps the real problem is money itself!”: the practical materiality of Bitcoin. Social Semiotics, 23(2), 261-277.

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„Security through obscurity?” Die EZB und mögliche Design-Probleme des Digitalen Euro

„Security through obscurity?” Die EZB und mögliche Design-Probleme des Digitalen Euro

Christian Grothoff im Interview mit Eneia Dragomir – Teil 2

23. September 2024

Bezahlsysteme reichen weit in unseren Alltag hinein und werfen fundamentale datenschutzrechtliche Fragen auf. Wenn man solche Systeme konzipiert, sollte man so tun, als würde man sich selbst nicht über den Weg trauen, so Christian Grothoff. In Teil 2 des Interviews mit dem Experten für IT-Sicherheit und Taler-Initiator geht es um das Design einer CBDC sowie um mögliche Probleme des Digitalen Euro.

Herr Grothoff, das berühmte Bitcoin-White-Paper ist 2008 damit angetreten, die Banken, Zentralbanken und andere Third Parties aus dem Spiel zu nehmen. Taler will das nicht. Dennoch heißt es in einem Paper, die Zentralbanken sollten sich als böswillige Akteure imaginieren, wenn sie das System konzipieren. Warum?

Wir haben mit unserem Text auf ein Paper der Europäischen Zentralbank (EZB) geantwortet, in dem es sinngemäß hieß, wir sind eine öffentlich-rechtliche Institution, deswegen können Sie uns Ihre Daten anvertrauen, die EZB werde sie nicht verkaufen. Das erste Problem dabei: Die EZB ist keine rein öffentlich-rechtliche Institution. Das Eurosystem beinhaltet Griechenland und die griechische Zentralbank ist in privater Hand. Nicht alle Zentralbanken sind öffentlich-rechtliche Institutionen. Die Schweizer Nationalbank beispielsweise auch nicht. Sie hat zwar staatliche Aufgaben und ist staatlich reguliert, aber sie ist eine Aktiengesellschaft.

Das zweite Problem: Es ist schön, dass eine Behörde meint, dass sie zu den Guten gehört, aber vielleicht ist das irgendwann nicht mehr der Fall. Ich sollte daher mein System nie in der Annahme designen, dass ich zu den Guten gehöre. Wenn wir Systeme bauen, die so fundamentale Eingriffe ermöglichen, wie Bezahlsysteme, von denen die Wirtschaft abhängt, die aber auch in das Alltagsleben der Menschen hineinreichen, dann ist besondere Vorsicht geboten. Ich sollte immer den Fall berücksichtigen, dass ein Böser an meine Stelle tritt. Selbst, wenn ein Diktator an meine Stelle tritt, sollte nichts Schlimmes passieren können, selbst dann sollte der Datenschutz gegeben sein. Das ist der richtige Anspruch für das Systemdesign. Dass meine Daten verkauft werden, ist bei weitem nicht das größte Problem. Da sollte der Anspruch sein: Ich vertraue mir selbst nicht und baue das System entsprechend. So halten wir es auch mit dem Taler-System.

Wir laden alle ein, sich unser System anzusehen und nach Schwachstellen zu suchen: Alle Spezifikationen, der gesamte Quellcode, die gesamte Dokumentation, das ist im Netz für alle einsehbar. Alle können sich das ansehen und analysieren und Schwachstellen gerne veröffentlichen, damit wir sie beheben können. Es gibt bestimmt Fehler in der Software, aber maximale Transparenz ist das beste Mittel, das wir haben, um diese zu finden und zu beheben. Das macht die EZB leider anders: Der EZB-Sprecher wurde von einem unserer Mitarbeiter auf einem Forum in Wien gefragt, wie die EZB die Offline-Funktion des Digitalen Euro sicher machen möchte. Antwort: das ist geheim. „Security through obscurity?“, kommentierte mein Mitarbeiter. Sicherheit durch Geheimniskrämerei? Wikileaks und Edward Snowden haben gezeigt, dass selbst Geheimdienste nicht alle ihre Geheimnisse sichern können, aber der EZB wird das gelingen? Geheimhaltung bringt uns weder mehr Sicherheit noch eine vernünftige demokratische Kontrolle der Institution.

Wenn eine Zentralbank das Taler-Bezahlsystem nutzen würde, dann wäre es eine CBDC, also ein digitale Zentralbankwährung?

Genau, eine Retail-CBDC.

Sie haben in verschiedenen Papern die Pläne der EZB für den Digitalen Euro kritisiert. Das letzte ist 2022 erschienen. Gilt diese Kritik auch für den Verordnungsentwurf aus dem Juni 2023?

Auch die aktuellen Entwürfe sind schlecht. Ich sehe da ganz grundlegende Probleme: Der Digitale Euro, so wie die Pläne derzeit sind, bringt eigentlich niemandem einen Vorteil. Ein weiteres Bankkonto, nur diesmal bei der Zentralbank? Die meisten Menschen im Euro-Raum haben schon ein Bankkonto, als europäische Bürger haben wir ein Recht darauf. Brauchen wir ein weiteres Bankkonto? Mit 3.000 Euro Maximalguthaben und ohne Kredit? Bei meiner regulären Bank habe ich eine Einlagensicherung bis 100.000 Euro. In einem weiteren Konto sehe ich keinen Mehrwert.

Weiteres Problem: Für die Kunden sollen die Transaktionen kostenlos sein, für die Händler aber nicht. Für eine SEPA-Überweisung zahle ich heute auch schon nichts. Für die Händler, die dazu verpflichtet werden sollen, Digitale Euro anzunehmen, soll die Transaktion aber nicht kostenlos sein. Wer trägt die Kosten, die bei der Umstellung entstehen? Die Händler werden die Kosten auf die Preise umlegen. Millionen Händler im Euro-Raum werden diese Umstellung vornehmen müssen, innerhalb einer bestimmten Frist, die nicht allzu groß sein darf. Was werden dann die Dienstleister machen, die diese Umstellung vornehmen und die mit Aufträgen überrannt werden? Die Kosten für die technische Umstellung werden steigen, wenn nur wenige Dienstleister Millionen Kunden zeitnah umstellen sollen.

Ein weiteres Problem ist die Verknüpfung mit dem Konto, das man bei seiner Geschäftsbank hat. Warum? Weil auf dem Konto mit den Digitalen Euros nicht mehr als 3.000 Euro gehalten werden dürfen. Jeder Euro, der darüber liegt, soll automatisch auf mein Geschäftsbankkonto „fließen“, das ist die sogenannte Waterfall-Funktion. So soll verhindert werden, dass den Geschäftsbanken die Liquidität entzogen wird. Das leuchtet mir ein. Aber der Wasserfall geht auch in die andere Richtung: Wenn die Deckung des Kontos, auf dem ich Digitale Euro halte, nicht ausreicht, soll automatisch auf das Guthaben des Geschäftsbankkontos zugegriffen werden. Dadurch ergeben sich erhebliche Probleme: Was passiert, wenn mein Konto, auf denen ich Digitale Euro halte, gehackt wird? Dann wird mein Girokonto gleich von den Angreifern über den Wasserfall auch leergeräumt. Wer haftet dann dafür? Die Geschäftsbanken werden wohl kaum das Risiko auf sich nehmen. Und was, wenn das Girokonto ins Minus gezogen wird? Müssen die Geschäftsbanken automatisch Kredite vergeben? Und für die Geschäftsbanken ergibt sich durch das Onboarding auch ein Kostenproblem.

Inwiefern?

Die EZB will nicht selbst 300 Mio. Kunden onboarden – 300 Mio. Kunden prüfen bedeutet, 300 Mio. Personalausweise prüfen etc. Dafür wäre ein Filialnetz nützlich, das die EZB nicht hat. Die EZB will diesen Know-Your-Customer-Prozess an Payment Service Provider (PSP) auslagern, also an kommerzielle Anbieter. Welche kommerziellen PSP sollen diesen KYC-Prozess kostenlos für 300 Mio. Menschen durchführen? Es soll die Kunden ja nichts kosten. Die Eröffnung eines Bankkontos kostet eine Bank etwa 50 Euro. Welche kommerziellen Unternehmen werden das für potenziell 300 Mio. Menschen übernehmen, ohne den Kunden die Kosten zu berechnen?

Eine Antwort ist die europäische eID, also die europäische digitale Identität. Die ist aber erstens nicht ausgerollt und zweitens ist der Aufwand auch mit der eID nicht gleich null, denn auch die eID könnte gestohlen worden sein oder es gibt Probleme beim Vorgang. Und überhaupt ist die Frage nicht geklärt, ob wir die eID wirklich wollen. Die eID birgt erhebliches Überwachungspotential: Muss ich mich, wenn sie eingeführt wird, überall im Netz damit ausweisen? Haben wir diese Gefahr politisch diskutiert?

Zurück zur Kostenfrage: Neben der Kontoeröffnung sollen kommerzielle PSP auch den Kundensupport übernehmen, auch das soll für die Kunden kostenlos sein. Aber sie dürfen bei den Händlern Gebühren erheben. Damit der Digitale Euro attraktiv ist, sollen diese Gebühren gedeckelt werden. Jetzt sind zwei Fälle denkbar: Der Deckel ist zu hoch und der Digitale Euro ist für die Händler unattraktiv oder der Deckel ist zu niedrig, niedriger als die aktuellen Gebühren. Welches private Unternehmen steigt dann aber da ein? Als jemand, der sich mit IT-Sicherheit befasst, überlege ich mir, was könnte das Geschäftsmodell für die privaten Unternehmen sein? Ich darf bei den Kunden keine Gebühren erheben und die Gebühren für die Händler sind stark gedeckelt – wo verdiene ich da Geld? Es bleibt nur die Möglichkeit: Ich spare bei der Sicherheit. Und zwar nicht ein wenig, sondern im WireCard-Stil: gar keine Sicherheit. Sicherheitskosten gehören neben den Kosten für Compliance zu den höchsten Kosten im Bankenumfeld. Ich weiß nicht, wie die EZB sowohl hohe Sicherheit als auch niedrige Kosten erreichen will.

Mit dem Taler-Bezahlsystem können wir das erreichen, weil es technisch ganz anders aufgestellt ist: Die Kundenidentifizierung bleibt bei den Geschäftsbanken, das Double-Spending-Problem lösen wir durch Kryptografie und Anonymität stellen wir durch blinde Signaturen her. So kann ich Einiges einsparen. Der Digitale Euro soll aber kontenbasiert sein, es soll ein Bankkonto sein, also werden auch die Kosten eines Bankkontos anfallen.

Im Bezug zur Retail-CBDC wird die Möglichkeit von Offline-Zahlungen diskutiert. Eine taler-basierte CBDC soll aber „online only“ sein. Warum?

Das Problem bei Offline-Zahlungen mit einer CBDC ist, wie bei anderem digitalem Bargeld, das schon angesprochene Double Spending: Wie verhindere ich, dass jemand seine elektronischen Wertbestände kopiert und doppelt ausgibt? Und die Antworten, die wir historisch kennen, raten zur Vorsicht: Wir haben die verschiedensten Arten des Digital Restrictions Managements (DRM), also des Kopierschutzes. Und was hat das gebracht? Waren die Film- und die Musikindustrie mit ihrem Kopierschutz erfolgreich? Nein! Man kann das Kopieren erschweren, aber mit genügend Aufwand geht es immer. Man muss auch kein Informatiker sein, um Filme oder Musik zu kopieren. Das Kopierproblem verschärft sich beim digitalen Bezahlen: Wenn die kriminelle Energie da ist, einen Film zu kopieren, wie groß ist dann die kriminelle Energie, Geld selbst zu drucken? Dazu kommen noch geopolitische Interessen: Wenn Russland der Wirtschaft der EU schaden könnte, indem es Trillionen von Digitalen Euros druckt, wäre es blöd, das nicht zu tun. Es geht also nicht nur darum, dass Privatleute mit beschränkten Ressourcen versuchen könnten, eine CBDC zu kopieren, sondern wir müssen damit rechnen, dass staatliche Akteure mit großem Budget und guter Technik das versuchen werden.

Und deswegen sollte mit einer CBDC nur online gezahlt werden können?

Ja, denn die einzige effektive Möglichkeit, das Kopieren zu verhindern, ist das Digital Watermarking: Ich markiere jede Kopie mit einem mehr oder weniger eindeutigen Siegel, das sagt, „diese Kopie hatte ich dem Herrn Müller gegeben“. Und wenn Herr Müller Kopien anfertigt, dann weiß ich, dass es seine Kopien sind. Jetzt kommt das Problem mit dem Offline-Modus ins Spiel: Die Europäische Zentralbank (EZB) sagt, das Offline-Zahlen wird vollanonym sein. Dann kann ich aber nicht mehr feststellen, dass es Herr Müller war, der die Kopien gemacht hat, denn er war anonym. Und selbst ohne Anonymität gibt es dann noch das Enforcement-Problem. Ein denkbarer Fall wäre: Eine Person in der Familie steht kurz vor dem Tod, ich kopiere ihr Geld, sie verstirbt und ich bringe das kopierte Geld in Umlauf. Selbst wenn der Bezahlvorgang nicht anonym ist, wie soll die EZB das kopierte Geld von der verstorbenen 90-jährigen Oma zurückbekommen? Eine dritte Möglichkeit, das entstehende Problem zu lösen: Die EZB kann dem Händler, der kopiertes Geld entgegengenommen hat, schlicht sagen, dass es doppelt ausgegeben wurde und er Pech gehabt hat und auf seinen Kosten sitzen bleibt. Das kann auch bei Kreditkartenzahlungen passieren: Wenn jemand mit einer gestohlenen Kreditkarte bei einem Händler bezahlt, der gerade offline ist, kann es sein, dass die Kreditkartenfirma dem Händler sagt, „Die Karte war schon gesperrt, Du hast das nicht geprüft, Du bleibst auf Deinen Kosten sitzen.“ Die EZB verspricht aber hohe Sicherheit. Das Erste, was ich von einem sicheren digitalen Bezahlsystem erwarten würde, wäre, dass, wenn mir mein Computer sagt, „Du hast das Geld bekommen“, dass ich das Geld auch wirklich bekommen habe. Das ist aber im Offline-Modus schlicht nicht möglich.

Wir wissen, dass es trotz der DRM-Maßnahmen möglich sein wird, digitale Daten zu kopieren. Man könnte auch Taler offline nutzen, dann können wir aber auch nicht garantieren, dass die Daten nicht kopiert sind bzw., dass das Geld, das ich erhalte, nicht doppelt ausgegeben wurde. Das muss man den Leuten erklären: Das Offline-Bezahlen mit digitalem Cash ist möglich, aber nicht sicher und anonym.

Im Katastrophenfall könnten wir das Risiko hinnehmen. So macht man das in Japan beispielsweise mit der Bezahlkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel: Kommt es zu einem Erdbeben und ist das System offline, dann funktioniert die Karte trotzdem, damit die Leute nachhause kommen können. Man rechnet damit, dass es in wenigen Fällen zu Betrug kommen wird, aber wichtiger ist, dass die Menschen nach Hause kommen können. Im Katastrophenfall wird also Menschlichkeit gegenüber korrekter Abrechnung priorisiert.

Die EZB betont immer wieder, der Digitale Euro wird erst nach einem politischen Beschluss eingeführt. Haben Sie noch Hoffnung, dass der Digitale Euro doch noch als token-basiertes System umgesetzt wird?

Während die EZB das verspricht, hat sie schon eine Ausschreibung für 1,3 Mrd. Euro gemacht, in der schon ganz konkrete Vorgaben genannt werden. Und auf diese Ausschreibung konnten sich nur Unternehmen mit einem Mindest-Jahresumsatz von 10 Mio. Euro bewerben. Kleine Akteure, die angeblich auch gefördert werden sollen, sind also schon aus dem Spiel. Die Ausschreibung hatte eine Frist von sechs Wochen, die kürzeste mögliche legale Frist. Man kann doch nicht sagen, wir machen nichts ohne politischen Beschluss und gleichzeitig Gelder für die technische Umsetzung vergeben, die an enge technische Vorgaben geknüpft sind. Damit werden Fakten geschaffen. Und von einem token-basierten Ansatz ist in der Ausschreibung nichts zu finden. Dass die EZB nach einem politischen Beschluss auf einen grundlegend anderen Ansatz umschwenkt, ist nicht zu erwarten.

Ich glaube, dass man sich nur nach einem Scheitern der aktuellen Pläne Hoffnungen darauf machen kann, dass ein token-basierter Ansatz verfolgt wird. Erst wenn der Digitale Euro entweder politisch oder ökonomisch oder technisch gescheitert ist, haben wir aus meiner Sicht eine Chance, eine ordentliche politische Debatte darüber zu führen, was wir eigentlich als Gesellschaft haben wollen. Vielleicht könnte es dann in 15 Jahren einen neuen Anlauf geben. Und dann können wir sehen, ob es mit der Tokenisierung was wird oder nicht.

Herr Grothoff, vielen Dank für das Gespräch.

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„Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen“: Das Taler-Bezahlsystem

„Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen“: Das Taler-Bezahlsystem

Christian Grothoff im Interview mit Eneia Dragomir

19. September 2024

„Taxable, Anonymous, Libre, Electronic Resources“, kurz „Taler“ ist ein Versuch, die Eigenschaften des Bargelds für Online-Zahlungen zu reproduzieren. Das soll vor allem durch Kryptografie möglich werden. Digitales Bezahlen und Kryptografie? Was nach einer weiteren so genannten Kryptowährung klingt, soll alles andere als das sein. Wir haben mit Christian Grothoff über das Taler-Projekt, über datenschutzfreundliches digitales Bezahlen sowie über die Probleme des Bitcoin und anderer „Kryptowährungen“, aber auch des Digitalen Euro gesprochen.

Das Interview wird in zwei Teilen veröffentlicht. In diesem ersten Teil geht es um das Taler-Bezahlsystem und darum, warum der Bitcoin eigentlich kein Coin ist.

Herr Grothoff, Sie engagieren sich im GNU-Projekt, einem Betriebssystem, das als freie Software entwickelt wird. Sie sind auch maßgeblich an der Entwicklung des darauf basierenden GNU-Taler-Bezahlsystems beteiligt, unter anderem auch als CEO der Taler Systems SA. Mit dem GNU-Taler soll laut der Unternehmenswebseite ein „digitales Pendant“ zum Bargeld geschaffen werden, das sich durch „Datenschutz und Datenminimierung“ auszeichnet und vor allem dadurch, dass die Anonymität von Bargeldzahlungen digital reproduziert wird. Wie soll dieses datenschutzfreundliche digitale Bezahlen umgesetzt werden?

Also in groben Konturen: Das Taler System wird von einer regulierten Entität betrieben. Das kann eine Bank, wie die GLS Bank in Deutschland oder die Magnet-Bank in Ungarn, eine Zentralbank oder ein Zahlungsdienstleister sein, also irgendjemand, dem wir in Bezug auf Geld ein bisschen Vertrauen schenken können, weil er reguliert ist. Als Kunde kann ich diesem Betreiber durch eine SEPA-Transaktion Geld von meinem Girokonto überweisen und im Gegenzug stellt er mir dafür eine digitale Münze aus.

Diese digitale Münze zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Sie hat durch den Aussteller eine digitale Signatur erhalten. Deswegen hat sie einen Wert. Ich kann mir nicht einfach selbst digitale Münzen erstellen, der Betreiber bürgt für den Wert der Münze. Die Signatur beinhaltet auch, wie viel die digitale Münze wert ist, ob sie ein, zwei oder vier Euro wert ist. Das sehe ich als Nutzer eigentlich nicht, denn in meiner Wallet wird der Gesamtbetrag aller meiner digitalen Münzen angezeigt. Ich muss also nicht selbst nachzählen und die Signaturen analysieren. Und wie bei Bargeld können wir die digitale Münze nur einmal ausgeben. Da es sich bei der Erstellung der Münze um eine Art digitales Drucken handelt, besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass der Kunde die Münze kopiert. Wenn ich diesen digital signierten Token auf meinem Rechner habe, kann ich eine Kopie machen. Da ich nicht davon ausgehe, dass wir einen absolut sicheren Kopierschutz erfinden werden, das hat die Musikindustrie bislang auch nicht geschafft, setzen wir auf die erwähnte regulierte Entität: Wenn ich die digitale Münze ausgebe, dann muss der Händler sofort online zum Herausgeber der Münze gehen und fragen, „Hey, einer deiner Kunden hat bei mir bezahlt. Prüfe bitte, ob diese Münze gültig ist. Ist sie richtig signiert? Wurde sie schon mal ausgegeben?“ Nur wenn die Münze richtig signiert ist und noch nicht ausgegeben wurde, sagt der Bezahldienstleister, „alles okay, Du kannst dem Kunden die gewünschten Güter geben oder die Dienstleistung ausführen.“ Jede Münze hat eine eindeutige Nummer, durch die der Bezahldienstleister sie wiedererkennen kann. Dadurch kann er verhindern, dass sie doppelt ausgegeben wird.

Das ist die High-Level-Beschreibung: Es wird eine elektronische Münze mit einer Signatur ausgestellt, die nur einmal ausgegeben werden kann. Das macht ökonomisch Sinn, weil keine neue Währung geschaffen wird, und es macht in Hinblick auf den Datenschutz Sinn, weil ich als Bezahldienstleister keine Transaktionshistorie des Nutzers bilden kann.

Also die Signatur der Münze soll diese eindeutig identifizierbar machen? Wie bleibt dann aber der Kunde beim Geldausgeben anonym?

Da kommt die Kryptographie ins Spiel: Wir verwenden keine normale Signatur, sondern eine sogenannte blinde Signatur. Das heißt, beim Ausstellen der digitalen Münze lernt der Aussteller nicht die Seriennummer der Münze. Wenn ich zum Beispiel Herrn Meier so eine Münze mit einer blinden Signatur ausstelle, und er bezahlt damit beim Bäcker, dann habe ich erfahren, dass jemand gerade beim Bäcker war, aber ich kann nicht erkennen, dass die digitale Münze die gleiche war, die ich Herrn Meier ausgestellt hatte. Der Betreiber des Bezahlsystems lernt die Seriennummer und Signatur einer Münze nur, wenn sie eingelöst wird. Er kann zwar sehen, diese Münze hat er mal ausgestellt, aber nicht an wen. Wenn er Hunderte von Kunden hat, weiß er, dass einer dieser Kunden diese Münze bezogen hat. Er weiß, dass sein Kunde ihm einen bestimmten Betrag überwiesen hat und er ihm dafür Taler ausgestellt hat. Aber er kann die Münze, die ausgegeben wurde, nicht mehr mit dem Erstellungsvorgang verknüpfen. Das heißt, er kennt die Kunden, die Geld abheben, er weiß auch, welchen Betrag welcher Kunde bekommt, aber er weiß nicht, welche Münzen genau bei welchen Kunden im Portemonnaie gelandet sind. Es ist wie beim Geldautomaten: Die Bank weiß, wer das Geld abhebt. Theoretisch könnte so ein Geldautomat die Seriennummer der Scheine mitschreiben, in der Praxis tun sie es nicht, sagten uns die Zentralbanken. Beim Taler-Bezahlsystem geht es sogar technisch nicht, denn der Kunde macht die Kryptografie, das heißt, der Kunde hat diese Seriennummer vor dem Bezahldienstleister versteckt, der kann also diese Seriennummer nicht mit diesem Kunden verknüpfen. Kommt die Münze aber zurück, dann kann er sicher sein, dass er sie damals einem seiner Kunden ausgestellt hat und dem Händler das Geld überweisen. Das heißt, technisch hat der Kunde beim Geldausgeben Anonymität – nicht, wenn er das Geld abhebt, nur wenn er es ausgibt. Der Händler ist hingegen transparent, weil er dem Betreiber des Taler-Bezahlsystems sagen muss, ich bin der Geldempfänger, bitte gib mir das Guthaben. Wir haben also Einkommenstransparenz, weil wir wissen, wer Geld bekommt.

Durch die Transparenz der Einnahmen und die Kundenidentifikation bei der Münzausgabe ist das Bezahlsystem auch rechtskonform, denn die „Know Your Customer“- oder KYC-Regel ist damit erfüllt: Die Bank weiß, wem sie Taler ausgestellt hat, und sie weiß, wer Taler bekommt. Aber sie weiß nicht, wie beides zusammenhängt, sie kann also die Transaktionshistorie nicht rekonstruieren. So können wir Rechtskonformität und Datenschutz gleichzeitig herstellen.

Taler ist ein Akronym und steht für „Taxable, Anonymous, Libre, Electronic Resources“, also „besteuerbare, anonyme, freie Ressourcen“. Warum ist die Besteuerbarkeit so wichtig, dass sie Namensbestandteil geworden ist?

Wir wollen für den Kunden, der Geld ausgibt, Anonymität. Aber wir sind keine Absolutisten in Sachen Anonymität. Wir sagen nicht, dass es keinerlei staatliche Kontrolle braucht. Gerade bei der Wirtschaft ist staatliche Kontrolle oder Regulation notwendig! Ein freier Markt und eine funktionierende Gesellschaft brauchen Regulierung und Steuern. Man kann zwar politisch diskutieren, wie hoch die Steuern sein sollen, aber ein Staat, der keine solide Finanzgrundlage hat, ist nicht in der Lage, in die Zukunft, in Bildung, in die Infrastruktur zu investieren. Ein funktionierendes Steuerwesen ist daher essenziell für eine moderne Gesellschaft. Deswegen machen wir das Bezahlen anonym, aber Einkommen transparent. Das T steht insofern auch für „transparent“. Wir haben aber „taxable“ gewählt, weil dann klarer ist, dass es um Einkommen geht, das besteuert werden kann.

Also, welchen Bus ich nehme, welchen Arzt ich besuche, welche Medikamente ich nehme, welche Zeitungen ich lese, wohin ich in den letzten Monaten gereist bin, an welche Organisationen ich spende, dafür brauche ich Datenschutz. Aber die Gesellschaft darf Transparenz verlangen, wenn es um Einnahmen geht. Einkommenstransparenz kann die Gesellschaft verlangen, weil es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder handelt es sich um Einkommen aus Erwerbstätigkeit, also um eine sozial erwünschte Tätigkeit, oder es ist eine kriminelle Tätigkeit, aus der das Einkommen erzielt wird. Und das Bezahlsystem sollte es nicht ermöglichen, das zu verschleiern.

Diesen Trade-off halten wir für gerechtfertigt, weil es darum geht, sich zwischen zwei Extremen zu bewegen: Einerseits der totalen Überwachung, also, der Staat weiß alles über die Individuen und andererseits einem Anonymitätsabsolutismus, der dazu führt, dass ein ökonomischer Wilder Westen entsteht, in dem sich der Stärkere durchsetzt. Wir meinen, dass ein Mittelweg möglich ist: Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen.

Sie haben gesagt, der Kunde macht die Kryptografie. Also die Taler-Wallet auf dem Device des Kunden macht die Kryptografie?

Genau, die Taler-Wallet macht die Kryptografie, die für den Datenschutz des Kunden relevant ist. Das heißt, er muss sich nicht darauf verlassen, dass beim Bezahldienstleister, bei der Zentralbank oder beim Händler die richtige Software läuft. Er muss nur dafür sorgen, dass auf seinem Gerät die richtige Software läuft. Wenn aber irgendwelche Malware auf seinem Gerät läuft, die alles auf seinem Bildschirm mitlesen kann, dann hat er ein Problem.

Das Taler-Bezahlsystem soll ein Micropayment-Dienst sein – warum dieser Fokus auf kleine Beträge?

Wir wollen Anonymität beim digitalen Geldausgeben ermöglichen, aber beim Bezahlen großer Summen gibt es gute Gründe, warum diese Anonymität aufgehoben werden muss: so soll Geldwäsche verhindert werden. Es geht also z.B. nicht um den Hauskauf. Das wäre mit Taler zwar theoretisch möglich, nur ist normalerweise der Käufer anonym und der Verkäufer muss dann gegebenenfalls feststellen, an wen er sein Haus verkauft. Das Bezahlsystem hat die Daten nicht, aber der Verkäufer kann sie selbst anfordern. Zentrale Vorteile von Taler gehen dann aber verloren.

Und der zweite Grund, warum es nur für kleinere Beträge wirklich gut geeignet ist: Ich habe die digitalen Münzen wie Bargeld in Eigenverwahrung. Wenn ich diese digitalen Token bekommen habe, dann sind sie auf meinem Rechner gespeichert, sie sind unter meiner Kontrolle. Ich kann sie ausgeben, wie ich will, aber, wenn ich sie verliere, habe ich sie endgültig verloren. Auch das ist wie beim Bargeld: Einer Bank kann ich auch nicht sagen: Ich habe aus ihrem Geldautomaten 1.000 Euro rausgeholt, ich habe sie leider verloren, gebt sie mir nochmal. Die meisten Leute würden mit 100 Euro durch die Stadt laufen, mit 1000 vielleicht einige, mit 10.000 würden sich die meisten mulmig fühlen, mit 100.000 rennt keiner mehr herum.

In Vorträgen betonen Sie, dass es sich bei Taler nicht um eine sogenannte Kryptowährung handelt. Was unterscheidet den GNU-Taler beispielsweise von Bitcoin?

Also erstmal: Bitcoin ist kein Coin, es ist keine digitale Münze. Bei Bitcoin handelt es sich eigentlich um Accounts, also um Konten, wo der Kontoinhaber über einen privaten Schlüssel identifiziert wird und das Konto über den Hash des öffentlichen Schlüssels. Und alle Transaktionen, die ich über mein Bitcoin-Konto tätige, werden öffentlich in einem verteilten Konto, einem Distributed Ledger, publiziert – in dem Fall einer Blockchain, einem öffentlich einsehbaren Verzeichnis aller Transaktionen. Ein Bitcoin-Wallet hat die privaten Schlüssel, die Kontozugriffsrechte darstellen. Einen Wert haben sie nur, wenn auf das Konto Geld überwiesen und noch nicht abgehoben wurde. Der Wert bestimmt sich somit aus dem Saldo dessen, was eingegangen ist und dem, was rausgegangen ist – ganz klassisch wie bei Bankkonten. Wo ist da ein „Coin“?

Ein Coin oder Token ist eigentlich etwas, das man nur einmal benutzt, wie eine Wertmarke oder ein Busticket für eine einfache Fahrt. Das Ticket wird erstellt, wird gekauft, genutzt und abgestempelt, Müll. Deswegen hat es keine Historie, ich kann also nicht rekonstruieren, wann derselbe Nutzer welche Fahrten gemacht hat. Das Ticket ist ein Token. Und wenn ich die beiden grundlegenden Ereignisse – Erstellung des Tokens, Entwertung des Tokens – nicht miteinander verknüpfen kann, dann handelt es sich um ein anonymes Token. Dieses Token ist datensparsam und datenschutzfreundlich, weil keine Profilbildung möglich ist.

Das ist bei Bitcoin nicht der Fall, bei Taler schon. Taler ist eine digitale Münze, die ich nur einmal ausgeben kann. Beim Taler-Bezahlsystem sind die Signaturen mit dem Token verbunden und nicht mit der Wallet und es kann keine Transaktionshistorie gebildet werden. So kommt der Datenschutz bei Taler zustande. Die Transaktionshistorie jedes Taler-Coins ist im Grunde: wurde ausgestellt, wurde verwendet, Ende. Und die beiden Ereignisse können nicht miteinander verknüpft werden. Es ist dadurch kryptografisch unmöglich, die Identität des Kunden, der das E-Geld abgehoben hat, mit dem Bezahlvorgang zu verbinden. Das ist ganz anders als beim kontenbasierten Bitcoin-System oder den anderen Cryptocurrencies, die auch fast alle de facto kontenbasiert sind.

Und was ist das Problem bei kontenbasierten Systemen?

Bei diesen kontenbasierten Systemen habe ich keinen guten Datenschutz. Wenn ich als Privatperson Datenschutz will, ist es immer möglich, dass ich einen kleinen Fehler begehe und jemand aufgrund meiner Transaktionen ein Bild zusammenträgt und sagen kann, „das Konto gehört Christian“. Dann ist bei einer Blockchain auf einmal meine gesamte Transaktionshistorie öffentlich einsehbar. Aber ohne diese Fehler kann es ebenfalls sein, dass ein Krimineller seine Transaktionen erfolgreich vor dem Staat verstecken kann. Dann wird das Bezahlsystem zum Vehikel für Kriminelle. Bitcoin hat also zu wenig und zu viel Anonymität: Man kann sich weder sicher sein, dass Transaktionsdaten geschützt sind, noch dass der Staat bei Bedarf Transaktionen nachvollziehen kann.

Also: Ein Token hat keine Historie, ein Konto hat einen Wert aufgrund seiner Historie. Das Token kann ich besitzen, es befindet sich unter meiner Kontrolle, während ein Konto etwas ist, was jemand anderes für mich verwahrt und verwaltet. Diese Instanz verwaltet die Liste der Bestände der Konten und ist dafür zuständig, dass mir Beträge gutgeschrieben werden oder Ausgaben abgezogen werden. Das ist auch bei Bitcoin der Fall: Wenn ich Bitcoin nutzen möchte, muss ich mit den Minern verhandeln, dass sie meine Transaktion in die Blockchain eintragen. Dafür muss ich ihnen Gebühren zahlen. Und wenn sie meine Transaktion nicht annehmen, dann wird sie nicht durchgeführt.

Ist der Unterschied, dass beim Taler-System die Keys mit dem Coin verbunden sind und bei Bitcoin mit der Wallet?

Bei Bitcoin gibt es primär den Account-Key, durch den ich die Berechtigung habe, auf die bisher noch nicht ausgegebenen Beträge zuzugreifen. Bei Taler habe ich den Token- oder Coin-Key, der mich dazu berechtigt, die Münze auszugeben. Kryptografische Schlüssel sowie eine Wallet, in der sich Geld befindet, die auf meinem Computer liegen sollte, haben wir in beiden Systemen.

In der Praxis haben ja die wenigsten Leute ihre Bitcoin in einem eigenen Wallet auf ihrem Computer. Die meisten nutzen irgendwelche Anbieter, die ihre Kryptowerte für sie verwalten. Wenn diese Anbieter pleitegehen oder gehackt werden, was ja nicht so selten passiert, dann sind die Bitcoins häufig verloren.

Der wichtigste Unterschied zwischen Taler und Bitcoin ist aber, dass bei Taler die ausgestellten Token nur deswegen einen Wert haben, weil ein regulierter Finanzdienstleister sagt bzw. verbürgt, dieser Token ist einen Euro wert. Er könnte aber auch sagen, dass er eine Feinunze Gold oder einen Schweizer Franken oder auch einen Bitcoin wert ist. Wir nehmen bestehende Assets, bestehende Ressourcen, und digitalisieren bzw. tokenisieren sie. Taler ist nur ein Bezahlsystem, es ist keine eigene Währung und will auch keine sein. Bitcoin hingegen möchte Geldpolitik machen, indem es einen konkurrierenden Mechanismus etabliert, wie und wieviel Geld erzeugt wird. Bitcoin ist 2008 unter anderem damit angetreten, die etablierte Geldpolitik zu kritisieren und eine Alternative zu etablieren. An die Stelle der alten soll eine sehr strikte algorithmische Geldpolitik treten. Klar, kann man über die Geldpolitik im Allgemeinen und über das, was Zentralbanken genau machen, streiten; aber das, was sich ein paar Programmierer ausgedacht haben, die von niemandem gewählt wurden und von Ökonomie häufig keine Ahnung haben, soll besser sein? Die Regeln, die sie sich irgendwann mal ausgedacht haben, sollen für immer gelten und unveränderlich sein? Sind die unfehlbar?

Inwiefern sind diese Regeln problematisch?

Bitcoin schlägt eine vermeintlich einfache Lösung für ein komplexes Problem vor: Unsere Geldpolitik soll darin bestehen, dass wir alle x Jahre ein „Halving“ durchführen, also die Belohnung für die Miner halbieren, sodass weniger Bitcoin in Umlauf gebracht werden, und die absolute Geldmenge deckeln wir auf knapp 21 Mio. Bitcoin, d.h. irgendwann werden gar keine neuen Bitcoins mehr erzeugt.

Vermutlich würde kaum jemand bestreiten, dass die Geldpolitik immer an die realwirtschaftliche Lage angepasst werden sollte: Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, sollte Geldpolitik dieses Problem adressieren, wenn volkswirtschaftliche Ressourcen nicht genutzt werden, sollte die Konjunktur angekurbelt werden und wenn die knapp sind, sollte die Konjunktur gedrosselt werden, damit die Preise nicht explodieren. Geldpolitik verfolgt durchaus politische Ziele: Ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wichtiger oder die Geldwertstabilität? Die Prioritäten können wir politisch debattieren, aber Bitcoin sagt einfach: „Uns interessiert die Realwirtschaft nicht. Wir machen eine fixe Geldpolitik, die wir vor 16 Jahren festgelegt haben. Und die ist automatisch besser als das, was Ökonomen sagen oder was politisch ausgehandelt wird.“

Wir haben es da mit einem Problem zu tun, das keine einfache Lösung hat. Wir können da eigentlich nur manövrieren und versuchen, gesellschaftlich tragfähige Lösungen auszuhandeln.

Wie andere Kritiker des Bitcoin bzw. der Blockchain-Technologien kritisieren sie deren Energiehunger, der beim Proof-of-Work-Verfahren extrem ist. In der Diskussion ist das Proof-of-Stake-Verfahren, das den Energiehunger deutlich senkt. Wie sehen Sie das?

Wenn ich annehme, dass Bitcoin mit Proof-of-Work ein kohlegetriebener Panzer ist, dann ist Proof-of-Stake ein SUV – also deutlich weniger Energieverbrauch, aber bei weitem noch nicht das Transportmittel, das wir in Zukunft brauchen. Um im Bild zu bleiben: Wir haben bisher in einer Welt gelebt, in der alle Fahrrad gefahren sind, wir müssten aber zu Fußgängern werden.

Auch Proof-of-Stake ist immer noch tausendmal ineffizienter als das traditionelle Bankensystem. Warum? Beispielsweise findet bei der Ethereum-Blockchain, die Proof-of-Stake anwendet, kein Mining mehr statt, also diese absolut sinnlose Verschwendung von Rechenleistung. Da wird eine Zahl geraten und immer wieder geraten, bis der erste Miner sie erraten hat. Die gesamte Rechenleistung und die Energie, die dafür aufgewendet wurde, sind verschwendet. Und wofür? Damit die Blockchain um ein paar Transaktionen verlängert wird. Die Rechenleistung wird nicht aufgewendet, um Klimaszenarien zu errechnen oder um Forschung zu betreiben, noch nicht einmal, um ein schönes KI-Bild zu rendern. 99,99 Prozent der Energie wird sinnlos verfeuert.

Proof-of-Stake ist ein anderer Konsensmechanismus, um zu bestimmen, wer die Blockchain verlängern darf. Wir führen jetzt nicht mehr diese sinnlosen Rechnungen durch. Gut. Aber wer darf dann Blöcke hinzufügen? Die, die einen bestimmten Stake der Währung, also einen bestimmten Anteil haben, also die Reichen. Weil sie zu denen gehören, die am meisten haben, dürfen sie Gebühren dafür kassieren, dass sie die Blockchain verlängern. Im Wesentlichen ist Proof-of-Stake also ein Algorithmus, der sagt, die Reichen werden automatisch reicher. Dieses Verfahren hat zwei Probleme: Es verschwendet immer noch unnötig viel Energie, weil die etwa 100.000 Validatoren, die prüfen und validieren sollen, die Transaktionen sehen müssen. Die Zahl wechselt, aber, wenn wir sagen, es sind grob so 100.000, dann brauche ich 100.000-mal die Bandbreite und muss 100.000-mal die Berechnung durchführen. Diese Bandbreite wird tatsächlich für die Validierung der Transaktionen genutzt, aber im Vergleich zu einer Transaktion im traditionellen Bankensystem ist Proof-of-Stake sehr grob gesprochen um den Faktor 1000 langsamer.

Im traditionellen Bankensystem wird die Transaktion von der Bank geprüft, vielleicht auch von der Bank des Empfängers der Transaktion und weiteren Institutionen, aber es sind insgesamt eher wenige Parteien involviert. Diese erstellen zwar auch ein paar kryptografische Signaturen und machen ein paar Datenbankeinträge, aber es sind nicht 100.000 Parteien. Es sind drei, vier oder fünf, bei internationalen Transaktionen vielleicht zehn Parteien.

Proof-of-Stake macht die Reichen reicher?

Genau, Proof-of-Stake ist plutokratisch, denn um mitentscheiden zu können muss ich nachweisen, dass ich einen Stake habe, dass ich also bereits viel Ether besitze, das ist die Währung von Ethereum. Dann darf ich mitmachen und mitverdienen. Das kennen wir aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit: Die Banker waren reiche Leute, die Banknoten herausgegeben haben. Die haben nicht viel mit unseren heutigen Banknoten zu tun, die von der Zentralbank ausgestellt werden, sondern es waren Scheine, die auf eine bestimmte Bank gelautet haben. Diese Altcoins, die Coins, die es neben Bitcoin gibt, sind eine Neuauflage dieses vormodernen Systems. Auch sie sagen: „Ich bin reich, Du kannst mir vertrauen, nimm meine Währung.“ Wie die vormodernen Bankiers, setzen sie ihre eigenen Zinssätze bzw. verlangen Gebühren und kassieren dann. Der Unterschied ist, dass heute jeder seine eigene Cryptocurrency erzeugen kann. Die meisten davon sind wertlos und die, die nicht wertlos sind, sind die, die Geld für Marketing haben. Proof-of-Stake will also zu Verhältnissen zurück, die wir im 16., 17. und 18. Jahrhundert hatten, als wir Privatbanken hatten, die ihr Privatgeld herausgegeben haben.

Redaktionelle Notiz: Im zweiten Teil des Interviews, der am 23. September erscheint, geht es um Christian Grothoffs Kritik am Digitalen Euro und inwiefern das Taler-System bzw. ein token-basierter Ansatz Abhilfe schaffen könnte.

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Autor: Erik Meyer eFin-Blog Farbe: blau

Entscheidet Krypto die US-Wahl?

Entscheidet Krypto die US-Wahl?

Ein Beitrag von Erik Meyer

6. September 2024

Trump tritt auf einer Bitcoin-Konferenz auf und aus der Krypto-Branche fließen Millionen Dollar in Kampagnen zur Unterstützung genehmer Kandidierender. In den USA könnte ein Politikwechsel bei staatlicher Regulierung und offizieller Relevanz von Kryptowerten anstehen.

Sicher ist es schwierig, die Reden des republikanischen Präsidentschaftskandidaten als konsistente Formulierung eines politischen Programms zu analysieren. Aber es sind relevante symbolische Signale, die Donald Trump mit seinen Auftritten sendet. So auch beim Besuch einer dieser Veranstaltungen, die mit dem Begriff „Bitcoin-Konferenz“ nur unzureichend beschrieben werden können. Vielmehr handelt es sich um Events zwischen Festival und Verkaufsveranstaltung. Wer hier hinkommt, gehört gewissermaßen zur Community, die ja zuweilen quasi-religiöse Züge trägt. Dementsprechend verkündete Trump bei der wohl weltweit größten Bitcoin Conference Ende Juli in Nashville, Tennessee, ungeachtet früherer kritischer Positionen, eine frohe Pro-Bitcoin-Botschaft. Er scheint also – auf Wählerstimmen aus diesem Lager spekulierend – konvertiert oder wie es im Krypto-Jargon heißt orange-pilled.1Vgl. den Titel des Buches von Ijoma Mangold: Die orange Pille. Warum Bitcoin weit mehr als nur ein neues Geld ist. München 2023.

Halten als Haltung

Im Fokus zumindest der deutschen Medienöffentlichkeit stand dabei die Ankündigung, im Falle eines Wahlsiegs eine strategische Bitcoin-Reserve anzulegen, also 100 Prozent aller Bitcoins zu behalten, die die US-Regierung derzeit besitzt oder in Zukunft erwirbt.2Gleichzeitig versprach er, während einer Präsidentschaft die Einführung digitalen Zentralbankgelds in den USA zu verhindern und alle betreffenden Vorbereitungen zu stoppen. Für eine Auflistung und Einordnung der zentralen Talking-Points seiner Rede siehe z.B. den Newsletter Cashless von Rich Turrin vom 29.7.2024 Damit bedient Trump ein zentrales Motiv der Szene, nämlich nicht auf Grundlage kurzfristiger Preisbewegungen zu handeln, sondern erworbene Coins langfristig zu halten. Diese Investitionsstrategie ist unter dem Titel HODL – vermutlich qua Tippfehler – zu einem mächtigen Meme avanciert, das gleichzeitig leidenschaftliche Hingabe und prinzipientreue Nervenstärke kommuniziert: Trump, der zukünftige HODLer-in-chief. Aus der Perspektive von Bitcoin-Besitzern wäre das auch die amtliche Anerkennung des Status ihrer Kryptowerte. Bitcoin wäre dann als ein Bestandteil der Währungsreserven zu verstehen, die womöglich die Zentralbank so wie Gold oder Devisen hält. Ein Szenario, das etwa in der Eurozone schwer vorstellbar ist, wo namhafte Vertreter der Europäischen Zentralbank darin ausschließlich ein durch finanzielle Fantasie getriebenes Spekulationsobjekt sehen.

Aber auch in Deutschland könnte die Forderung durchaus verfangen. Hier stand zuletzt die Veräußerung von fast 50.000 im Rahmen der Strafverfolgung beschlagnahmter Bitcoins im Fokus der Aufmerksamkeit. Mit dem Verkauf wollte die Sächsische Zentralstelle zur Verwahrung und Verwertung von virtuellen Währungen bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden nach eigener Darstellung verhindern, dass es zu einem Vermögensverlust durch den stark schwankenden Kurs kommt. Der Freistaat steht mit seiner als „Notveräußerung“ deklarierten Maßnahme demnach für einen anderen Verhaltensmodus, der als Fear of missing out (FOMO) charakterisiert werden kann. Auch ungewollt wird die öffentliche Hand so zum Player auf einem volatilen Markt, den sie durch Verkäufe dieser Größenordnung beeinflusst.

In Sachen „Krypto“ hat Donald Trump darüber hinaus nicht nur selbst mindestens eine Million Dollar in Kryptowerte investiert. Seine Ankündigung, nun selbst NFTs auf den Markt zu bringen, bewirbt er in einem Video mit dem Hinweis: „You know they call me the crypto president”.

Follow the Crypto

Einen ganz anderen Zugang zur Frage nach der Bedeutung von Krypto im aktuellen US-Wahlkampf bietet die politische Spendentätigkeit. Bereits im Mai hatte die Trump-Kampagne die Option implementiert, Spenden in Form von Kryptowerten anzunehmen. Bedeutsamer als das Fundraising mit Krypto ist aber die Einflussnahme durch von der Kryptobranche finanzierte Wahlkampffonds. Diesem Sujet widmet sich die für ihre krypto-kritische Ressource bekannte Molly White. Ihr neues, auf öffentlich zugänglichen Daten basierendes Online-Angebot heißt https://www.followthecrypto.org. Auch die zivilgesellschaftliche Organisation Public Citizen hat diese Angaben ausgewertet und einen Report dazu veröffentlicht. Demnach hat der größte betreffende Akteur zur Unterstützung von Krypto-Interessen Fairshake im Vergleich mit allen anderen Lobby-Organisationen dieses Typs bislang die meisten Spenden überhaupt eingesammelt, darunter etwa von der Kryptobörse Coinbase. Der aktuelle Stand in Millionen Dollar, woher das Geld kommt und wohin es zu welchem Zweck fließt, lässt sich unter https://www.followthecrypto.org fortlaufend aktualisiert nachvollziehen. Stand 5. September 2024 zählt Molly White insgesamt 174 Millionen Dollar, die so von der Krypto-Lobby zur Beeinflussung der US-Wahlen 2024 eingesammelt wurden. Eine klare Übereinkunft darüber, welche Kandidierenden auch abseits der Spitzenplätze unterstützt werden, gibt es seitens der Spender allerdings nicht. Vielmehr zog sich ein Großspender bereits zurück, weil ihm die bisherige Verteilung von Aufwendungen zu sehr auf die Absicherung einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus ausgerichtet schien.

Insofern wird deutlich, dass Krypto schon ein Faktor ist, der das politische Spiel in den Vereinigten Staaten beeinflusst. Dies konzedieren auch Vertreter:innen der Demokraten in einem im Netz zirkulierenden Brief an die Parteiführung und fordern u.a. das Thema positiv im Wahlprogramm aufzugreifen. Derweil hat sich nach der demokratischen Präsidentschaftskandidatur von Kamala Harris auch eine Unterstützergruppe „Crypto for Harris“ mit Branchenvertretern formiert. Also ist hier eine erste Annäherung zu konstatieren, die sich bislang aber nicht in entsprechenden programmatischen Aussagen niederschlägt. Sowohl Harris als auch ihr Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz stehen Digitalthemen sicher habituell aufgeschlossener als Joe Biden gegenüber. Allerdings sind von ihnen keine krypto-freundlichen Haltungen überliefert, sondern eher die Absicht zur Aktivierung von digitalen Potenzialen für die Staatstätigkeit sowie zur Einhegung von Big Tech. Überhaupt ist fraglich, ob die Regulierung von Kryptowerten ein Thema ist, das eine relevante Rolle für den Ausgang der Wahl spielt. Oder eben „nur“ special interest groups tangiert, die dementsprechend ihre Ressourcen zur Wahlkampfkommunikation mobilisieren. Und ob dies dann wahlentscheidend wird, hängt von vielen Faktoren ab, die sich kaum kalkulieren lassen.

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  • 1
    Vgl. den Titel des Buches von Ijoma Mangold: Die orange Pille. Warum Bitcoin weit mehr als nur ein neues Geld ist. München 2023.
  • 2
    Gleichzeitig versprach er, während einer Präsidentschaft die Einführung digitalen Zentralbankgelds in den USA zu verhindern und alle betreffenden Vorbereitungen zu stoppen. Für eine Auflistung und Einordnung der zentralen Talking-Points seiner Rede siehe z.B. den Newsletter Cashless von Rich Turrin vom 29.7.2024
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Akzentfarbe: gelb Autor: Laura Grosser eFin-Blog Farbe: gelb

Maut – Digitales Bezahlen bei Reisen im Ausland

Maut – Digitales Bezahlen im Ausland

Ein Beitrag von Laura Grosser

26. August 2024

Sommerzeit ist Reisezeit – und das nicht nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus, Bahn und Flugzeug, sondern häufig mit eigener oder gemieteter Motorisierung. Ob mit dem eigenen PKW (mit oder ohne Wohnwagen), Camper oder Motorrad, viele legen gerade in den Sommermonaten im In- und Ausland weite Strecken zurück in Gegenden, die sie für gewöhnlich nicht durchqueren. Dabei ist man nicht immer gebührenfrei auf den Straßen unterwegs: In bestimmten Autobahnabschnitten und Durchgangsstraßen, über manche Brücken und Pässe oder in gewissen Stadtteilen werden Mautgebühren verlangt. In insgesamt 24 Ländern Europas gibt es streckenabhängige Mauten, Vignettenpflicht und/ oder Sondermauten für Tunnel, Pässe oder Brücken. Das ist nichts Neues, übersichtlich kann man sich beispielsweise auf der Seite des ADAC informieren – und auch viele (digitale) Ländervignetten kaufen.1https://www.adac.de/reise-freizeit/maut-vignette/

Eine Straße windet sich durch eine Berglandschaft. Auf der rechten Fahrbahn erscheint eine Preisangabe von 50 Euro, Kronen oder anderem

Doch von Sommerurlaub zu Sommerurlaub fiel mir auf, dass sich die Bezahlweisen dieser Straßengebühren ändern. Mit Personal ausgestattete Mautstellen sieht man immer seltener, viele Mauthäuschen bleiben dauerhaft geschlossen. An manchen Stellen ist es unmöglich, die Gebühren bar zu entrichten. An anderen sind nur zwei von zehn dieser Stellen darauf ausgerichtet, lange Schlangen bilden sich vor ihnen. Den Nummernschildern entnehme ich, dass es vor allem Urlauber sind, die sich hier einreihen. Ob sie wohl auf Nummer sicher gehen wollen, dass der Bezahlvorgang funktioniert? Oder sehen sie sich lieber einem menschlichen Ansprechpartner gegenüber? Ein anderer Grund mag sein, dass sie nicht mehr Daten als nötig von sich übermitteln möchten. Alle anderen Bezahlmöglichkeiten sind maschinengestützt – mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen.

Die Vignette

Die Vignette ist die datenfreie Variante. Man klebt sie ans Auto, egal ob Privat- oder Mietwagen, es gibt keine Registrierung des Kennzeichens, keinen Vertrag. An Raststätten lässt sich gar bar bezahlen. Erst durch ihre Bestellung im Internet oder Kartenzahlung fallen Daten an. Allerdings wird sie mehr und mehr von ihrer digitalen Version abgelöst: die E-Vignette ist elektronisch mit dem Kennzeichen verknüpft. In der Schweiz kann man seit Februar 2024 so auch übers Internet direkt eine Vignette lösen, mit vorab 1,6 Millionen verkauften zeigt sich ein starker Trend.2https://www.blick.ch/wirtschaft/stichtag-am-1-februar-bereits-1-6-millionen-e-vignetten-im-umlauf-das-musst-du-wissen-id19372835.html

Die EC- oder Kreditkarte am Schalter

An Mautstellen wird gerade von Reisenden aus dem Ausland die Möglichkeit, mit EC- oder Kreditkarte zu bezahlen, nach der Barzahlung am häufigsten genutzt, wie ich der Einreihung in Schlangen vor Mautstellen beispielsweise in Frankreich entnehme. Wie bei jeder Kartenzahlung werden dadurch Daten generiert und übertragen, sodass nachverfolgbar ist, mit wessen Karte wann wo welcher Betrag gezahlt wurde. Welches spezifische Auto die Mautstrecke passiert, wird nicht registriert, nur Gewicht und Größe spielen für die Erhebung der Höhe der Maut eine Rolle. Von Vorteil ist das schnellere Prozedere. Bargeld in der jeweiligen Landeswährung muss nicht mit sich geführt werden, die Abbuchungen können auf dem eigenen Konto kontrolliert werden. Wird die Karte aber nicht angenommen, steht man vor einem Problem: wie aus der Schlange herauskommen und wen um Hilfe bitten?

Die Mautbox

Hat man eine Mautbox im Auto, die lediglich zur Erkennung gescannt wird, geht es noch schneller. Die Schranke öffnet sich bereits beim Anrollen. Und ebenso automatisiert werden die Gebühren abgebucht. Die Schnelligkeit der Durchfahrt wird allerdings auch mit Daten bezahlt: Es gibt eine Aufstellung, wo man wann auf Mautstrecken gefahren ist, das Kennzeichen des eigenen Fahrzeugs oder von mehreren, auch Mietwagen, werden registriert, und man muss seine Mailadresse, Kontodaten und Anschrift zur Versendung der Mautbox angeben. Zudem muss ein sich automatisch verlängernder Jahresvertrag abgeschlossen werden. Mautboxzwang gibt es für reisende Urlauber in kleinen Fahrzeugen nirgends, es bleibt eine Option (anders für LKW oder vergleichbar große Urlaubsgefährte).

ANPR-Kameras – Bezahlen im Internet oder über Apps

In meinem Norwegenurlaub habe ich im großen Stil eine neue Erfahrung gemacht: Überall wimmelt es  von ANPR-Kameras. Nicht nur auf Autobahnen, auch auf kleineren Landstraßen, Fähren und auf Parkplätzen. ANPR steht für „Automatic Number Plate Recognition“ – die Kennzeichen werden gescannt und somit registriert, wer wann welche Straße nimmt, welche Fähre man nimmt oder wo man parkt. An den großen Fährstationen mit Vorabbuchung wurde ich so von den Kontrolleuren bereits mit Namen gegrüßt. Denn schon bei der Anfahrt sind für sie im Kontrollhäuschen alle relevanten Daten einsehbar.

Die dadurch beschleunigten Abläufe sind mir durchaus willkommen, ein seltsameres Gefühl kommt auf, wenn man auf einen Parkplatz einbiegt und sogleich auf einer großen Anzeige mit Kennzeichen – also immerhin nicht mit Namen – begrüßt wird. Sofort weiß man: Ich bin registriert, der Parkplatz wird überwacht. Und: die Gebühren werden auf jeden Fall eingetrieben. Aber wie? Nicht immer ist es möglich, mit Bargeld an einem Automaten zu bezahlen. Ich hatte auch schon die leidige Erfahrung, gemeinsam mit Urlaubern aus einem anderen Land vor einem Automaten zu verzweifeln, da zunächst keine unserer Karten angenommen wurde. Was passiert, wenn man wegfährt, ohne, dass man bezahlen konnte? Die Kameras hatten das Kennzeichen registriert, wie sich den Bildschirmen bei der Einfahrt entnehmen ließ, bezahlen muss man unweigerlich. Doch wie hoch die Strafe ausfallen würde, konnte man keinem Schild entnehmen. Ebensowenig, ab wann eine Gebühr anfällt – bereits wenn man eine Runde über den Parkplatz dreht, sich aber doch umentscheidet oder schlicht keinen geeigneten Platz für sein Wohnmobil findet? In meinem Urlaub ist alles nochmal gut gegangen, aber es bauten sich Hemmungen auf, mit ANPR-Technologien operierende Parkplätze anzusteuern.

Zumindest, wenn man sich nicht auf den verknüpften Apps angemeldet hat. Diese können von Parkplatzbetreiber zu Parkplatzbetreiber variieren, sodass sich am Ende des Urlaubs eine Unzahl an Apps anhäufen kann, die Kennzeichen und Kreditkarte zur automatischen Abbuchung der Gebühren hinterlegt haben. Was aber die Straßen- und Fährgebühren in Norwegen und Schweden betrifft, stellte diese Bezahlweise einen Segen für einen entspannten Urlaub dar: Über die App Epass24 werden alle Gebühren bezahlt. Sind Kennzeichen und Kreditkarte einmal hinterlegt, wird die Maut einmal monatlich abgebucht. Auf den ersten Blick schlicht und einfach, auf den zweiten frage ich mich: Wo habe ich überhaupt in welcher Höhe für Überfahrten, Brückenüberquerungen und Straßennutzungen zahlen müssen? Denn es wird nur ein Gesamtbetrag am Ende abgebucht, nur die Fährkosten werden separat gelistet, aber ebenfalls nicht aufgeschlüsselt. Für wen ist es allerdings wie lange einseh- und rückverfolgbar? Welche Daten werden an wen übermittelt? Schließlich hat Epass24 neben Kennzeichen, Bezahlinformationen und Gebührenauflistung auch Name und Adresse, E-Mail-Adresse sowie Fahrzeugmodell und bei Verstößen gegen die Verkehrsordnung auch Fotos. Verschiedene Mautbetreiber nutzen die Dienste von Epass24, 3https://www.epass24.com/de/the-toll-operators/ die Daten werden auch zu Analysezwecken genutzt. Natürlich räumt Epass24 das zustehende Recht ein, die persönlichen Daten einzusehen und zu löschen, scheint sie aber so lange wie möglich zu speichern.4 https://www.epass24.com/data-protection-policy/ Entziehen kann man sich der Datenerhebung nicht, wenn man in Ländern wie Norwegen im Urlaub unterwegs ist.

Die Maut der Zukunft

Die Digitalisierung des Bezahlvorgangs von Mautgebühren ist so immer weiter auf dem Vormarsch. Die Fragen des Datenschutzes und der Transparenz sollten allerdings lauter gestellt werden, gerade weil man sich diesem Trend immer weniger entziehen kann. Mit Personal besetzte Mautstellen werden seltener, da sie einen Kostenfaktor darstellen, den Verkehr verlangsamen und Staus verursachen. Es ist nachvollziehbar, dass es sich wirtschaftlich und infrastrukturell lohnt, die Gebührenzahlung zu digitalisieren. Die Online-Registrierung der Fahrzeugtypen hat auch den Vorteil, dass Gebühren individuell angepasst werden können. Nicht nur die Kategorisierung in Motorrad, PKW, Bus und LKW kann hier wie bislang entscheidend sein, auf manchen Strecken oder Parkplätzen müssen Elektrofahrzeuge oder mit Wasserstoff betriebene Autos sowie PKW mit besonders niedrigen Emissionen keine Gebühren bezahlen. So können auch politische Interventionen und Fördermaßnahmen durch die Digitalisierung des Mautwesens leichter durchgeführt werden. Die Zukunft des Entrichtens von Mautgebühren liegt definitiv in digitalen Bezahlvorgängen.

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Autor: Marie Bröckling eFin-Blog Farbe: blau Mercator-Journalists in Residence

Wie die deutsche Justiz beschlagnahmtes Kryptogeld verkauft

Wie die deutsche Justiz beschlagnahmtes Kryptogeld verkauft

Ein Beitrag von Marie Bröckling

8. August 2024

Kryptowährungen gewinnen an Beliebtheit, auch bei illegalen Geschäften. Wird ein Täter gefasst, landen die Coins bei der deutschen Justiz. Doch was tun mit den unbeständigen, aber oft wertvollen Kryptowerten?

Wenn Ermittler:innen einen Darknet-Marktplatz hochnehmen, passiert es immer wieder, dass sie bei der Durchsuchung nebenbei Bitcoins entdecken, die viel wert sind und womöglich noch im Wert steigen werden. „Kryptos spielen eine Rolle als Tatmittel, Tatbeute und Tatobjekt“, erklärt Sebastian Büchner, Oberstaatsanwalt in Berlin. Vor allem bei Cybercrime-Ermittlungen der letzten zehn Jahre wurden Kryptowerte sichergestellt. Eingeleitet werden diese Ermittlungen meist wegen anderer Straftaten wie Drogen- und Waffenhandel im Darknet, Geldwäsche oder Betrug. Kryptowerte werden dabei beispielsweise als anonymes Zahlungsmittel genutzt. 

Auf den ersten Blick funktioniert Kryptogeld ähnlich wie Bargeld: Es erlaubt Zahlungen ohne dass Käufer und Verkäufer persönliche Daten austauschen müssen, etwa Name oder Herkunftsland. Bei Bitcoin wird jedoch jede Transaktion auf der Blockchain gespeichert. In diesem Sinne hinterlassen illegale Geschäfte, die mit Kryptowerten bezahlt wurden, mehr (digitale) Spuren als Bargeld. 

Noch nie wurden in Deutschland so viele Kryptowerte sichergestellt wie aktuell. 2023 beschlagnahmte die deutsche Polizei auf einen Schlag 44 Millionen Euro in Bitcoin, ein Rekord. Hintergrund waren Ermittlunggen gegen die Betreiber von ChipMixer wegen Geldwäsche. Nur ein Jahr später folgte der nächste Rekord: Im Januar 2024 wurden in Sachsen im Zusammenhang mit Ermittlungen zur Plattform für illegale Raubkopien movie2k.to Bitcoins im Milliardenwert sichergestellt. Deutschland galt kurzzeitig als einer der größten Bitcoin-Besitzer weltweit. Das stellt die Behörden vor neue Herausforderungen. Da Kryptos oft nur als Nebenprodukte in größeren Ermittlungen auftauchen, war lange unklar, wie die Staatsanwaltschaft sie sicherstellen und behandeln soll. Verwahren, verkaufen, versteigern – und falls ja, wann? 

Meine Recherchen im Rahmen der Mercator- Journalist- Residency zeigen, wieviel Kryptowerte in Deutschland durch Justizbehörden verkauft wurden und welche unerwarteten Vorteile die Kryptobörsen für die Polizei- und Justizbehörden bringen.

Große Unterschiede zwischen den Bundesländern

Besonders früh dran beim Verkauf von Kryptos war Sachsen. Bereits im Jahr 2015 haben Ermittler in Leipzig 1200 Bitcoins sichergestellt, die kurze Zeit später für 430.000 Euro verkauft wurden. Seit Juli 2024 ist Sachsen bundesweit unangefochtener Spitzenreiter beim Verkauf beschlagnahmter Kryptowerte. Die oben genannten movie2k.to-Bitcoin wurden für 2.64 Milliarden Euro verkauft. Das Geld wird derzeit verwahrt und fließt erst nach rechtskräftigem Urteil in die Landeskasse.

Auch Hessen hat einige Erfolge vorzuweisen beim Verkauf beschlagnahmter Kryptowerte. Zwischen 2021 und 2023 haben hessische Behörden Kryptowerte für etwa 200 Millionen Euro verkauft, so viel wie kein anderes Bundesland in diesem Zeitraum. Auch hier fließt das Geld erst nach rechtskräftigem Urteil in die Landeskasse.

Ganz anders sieht es in Berlin aus, denn dort passierte lange nichts. Erst im April dieses Jahres wurden erstmals sichergestellte Kryptowerte verkauft. Die zwanzig Bitcoins und 71 Bitcoin Cash brachten der Landeskasse der Hauptstadt dabei fast 1,3 Millionen Euro.

Zwischen dem ersten Verkauf von Bitcoins in Sachsen 2016 und dem letzten Verkauf in Sachsen im Juli 2024 liegen acht Jahre. In dieser Zeit wurden bundesweit Kryptos im Wert von mindestens 2.7 Milliarden Euro verkauft. Die Statistik ist unvollständig, da Sachsen-Anhalt und Thüringen keine Zahlen angegeben haben. 

Dass Hessen, Sachsen, Bayern und NRW die Statistik der verkauften Kryptowerte anführen, liegt laut Staatsanwälten schlichtweg daran, dass dort große Ermittlungen stattgefunden haben. Die Behörden dort haben Pionierarbeit im Umgang mit Kryptowerten geleistet.

Wie werden die Kryptowerte sichergestellt?

Grundsätzlich gibt es drei Wege, wie die Polizei Kryptowerte sicherstellt:

1. Der Beschuldigte übergibt seine Private Keys an die Ermittler.

2. Die Ermittler finden die Zugangsdaten beim Beschuldigten.

3. Die Transaktionen können bis zu einem Kryptoverwahrer nachvollzogen und dort sichergestellt werden.

Dass ein Beschuldigter die Zugangsdaten zu seinen Kryptos herausgibt oder die Private Keys bei der Durchsuchung gefunden werden, ist nicht ungewöhnlich. Oft werden die Ermittler:innen in Notizbüchern oder Handyfotos fündig, berichtet ein Oberstaatsanwalt, der anonym bleiben will.

Aber es gibt auch Fälle, in denen die Private Keys nicht gefunden werden. „Wir haben Fälle, wo wir jahrelang nach den Private Keys suchen, auch während die Täter schon in Haft sitzen“, erzählt der Oberstaatsanwalt. Es kommt deshalb regelmäßig vor, bestätigt ein Sprecher der Polizei in Berlin, dass Kryptowerte nicht sichergestellt werden können, da die Zugangsdaten nicht bekannt sind. So könne es passieren, dass, vergleichbar mit einer vergrabenen Schatzkiste in der analogen Welt, ein Täter nach Ende seiner Haftstrafe wieder Zugriff auf die erbeuteten Kryptowerte erlangt. 

Kryptoverwahrer sind ein Glück für die Justiz

Fast alle Nutzer:innen, auch solche mit kriminellen Absichten, kaufen Kryptowerte inzwischen über Tauschbörsen, erklärt Dominik Skauradszun, Jura-Professor an der Hochschule Fulda und Spezialist für Kryptowerte. Kaum jemand greift selbst auf die jeweilige Blockchain zu und nur wenige haben die nötigen technischen Fähigkeiten für Kryptografie. „Diese Entwicklung hin zu Kryptoverwahrern war überraschend,“ sagt Skauradszun, „aber für die Justiz ist sie ein großes Glück.“

Denn Kryptoverwahrer werden in der EU reguliert und in Deutschland von der Finanzaufsicht BaFin kontrolliert. Sie haben schon deshalb ein hohes Eigeninteresse, mit der Justiz zu kooperieren. 

Tatsächlich funktioniert die Sicherstellung bei Kryptoverwahrern sogar außerhalb von Europa. Die deutsche Polizei hat bereits erfolgreich Rechtshilfegesuche an Kryptoverwahrer in Übersee gestellt, darunter auch eines in Belize, in Zentralamerika. Die Kryptowerte werden dann eingefroren und an die deutsche Staatsanwaltschaft transferiert. Kooperativ sind die Kryptoverwahrer, weil sie keine Probleme wegen Geldwäsche bekommen wollen, erklärt ein Ermittler.

Wann und wie beschlagnahmte Kryptowerte verkauft werden

Sobald die Kryptowerte gesichert und auf einem Behörden-Wallet hinterlegt sind, stellt sich die Frage: verkaufen oder auf das Gerichtsurteil warten? Dazu gibt es keine Vorgabe in Deutschland. Im Großteil der Fälle wurde so bald wie möglich über eine sogenannte Notveräußerung verkauft. Mit dem steigenden Kurs von Bitcoin kommt jedoch immer wieder die Frage, ob man nicht doch abwarten sollte, erklärt Thomas Goger, leitender Oberstaatsanwalt in Bamberg. 

Auch die Frage, wie verkauft werden soll, war lange unklar. „Für den Verkauf von Kryptowerten wurden in den vergangenen Jahren neue Strukturen aufgebaut. Es gab lange kein Beispiel, wie man es richtig macht“, erklärt Markus Hartmann, Chef der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime in NRW (ZAC).

Die Justiz in NRW hat es beispielsweise im Jahr 2021 mit einer Auktion probiert. Die sichergestellten Bitcoin wurden über das Portal justiz-auktion.de versteigert. Finanziell war das ein Erfolg: Die Coins wurden über Marktwert versteigert. Dennoch sei dieses Modell nicht praktikabel, sagt Hartmann. Es gab viele Anrufe von Käufern, die nicht wussten, wie sie mit ihren ersteigerten Bitcoin umgehen sollten, das habe die Behörde überlastet. Es blieb bundesweit die einzige Auktion von sichergestellten Kryptos.

Banken verkaufen Kryptowerte für die Behörden

Die Festnahme der Betreiber des Darknet-Marktplatzes Wall Street Market im Jahr 2019 hingegen hat den Umgang der deutschen Behörden mit Krypto nachhaltig verändert. Bei den Ermittlungen gegen die ihrerzeit weltweit zweitgrößte Plattform für illegale Drogen und Waffen wurden damals Bitcoin, Monero und acht weitere Coins in einem bis dato nie dagewesenen Umfang sichergestellt.

Die zuständige Cybercrime-Staatsanwältin Jana Ringwald hat daraufhin im Jahr 2021 eine Kooperation mit dem privaten Bankhaus Scheich in Frankfurt am Main verhandelt. Die Bank sollte die Kryptowerte für die Behörde verkaufen, dafür wurde ein System entwickelt und ein Vertrag geschlossen. Die hessische Justizministerin Eva Köhne-Hörmann bezeichnete die Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaft mit einer privaten Bank bei einer Pressekonferenz damals als „einzigartig in der Bundesrepublik“.

Mittlerweile sind vier weitere Bundesländer diesem Beispiel gefolgt und kooperieren ebenfalls mit dem Bankhaus Scheich. Die Rahmenverträge zwischen den Behörden und dem Bankhaus sind geheim und auch auf Nachfrage für die Öffentlichkeit nicht einsehbar. Laut Medienberichten erhebt die Bank keine Kommission, sondern verdient beim richtigen Timing am schwankenden Kurs. Das Saarland arbeitet mit einer anderen Bank, der Futurum zusammen, die eine Vermittlungsgebühr von zwei Prozent des Erlöses erhebt.

White-Listing von Kryptowerten

Das Bankhaus Scheich wirbt damit, dass es das White-Listing für die Behörden übernimmt. Beim White-Listing weist die Behörde nach, dass die Kryptos zwar in einem Strafverfahren aufgetaucht sind, jetzt aber wieder legal in Umlauf gebracht werden. Die Bank überprüft diese Nachweise und informiert anschließend alle anderen Händler darüber, dass diese Coins wieder „sauber“ sind. Neben dem Bankhaus Scheich bieten auch andere Unternehmen White-Listing als Dienstleistung an, beispielsweise der österreichische Bitcoin-Broker CoinFinity.

Zwingend notwendig ist das White-Listing nicht. In vielen Bundesländern verkaufen die Behörden weiterhin Kryptos über reguläre Handelsplattformen wie Bitcoin.de, teilweise ohne ein aktives White-Listing. Auf Bitcoin.de wird beispielsweise eine feste Gebühr von 0,5 Prozent auf den Verkaufspreis erhoben.

Wie es weitergeht

Insgesamt scheint sich bei den deutschen Behörden der Weg über ein aktives White-Listing von sichergestellten Kryptowerten durchzusetzen. Das wird immer wichtiger, je größer die Mengen an Krypto werden, die von der Justiz verkauft werden. Und Kryptowerte dürften in den kommenden Jahren eine noch größere Bedeutung für die Justiz und die Strafverfolgung erlangen. 

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Autor: Sebastian Gießmann eFin-Blog Farbe: gelb

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Ein Beitrag von Sebastian Gießmann

25. Juli 2024

Die Kreditkarte ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Sie gehört zum Erbe der US-amerikanischen Konsumkultur und der „dreißig glorreichen Jahre“ des westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber trotz neuer Finanztechnologien im mobilen digitalen Bezahlen bleibt sie weltweit das führende Zahlungsmittel.

Alte Kreditkarten und neue Apps mischen sich dabei auf paradoxe Weise: Sechs Jahre nach dem Start von Apple Pay als smartphone-basiertem Bezahldienst bot Apple 2020 in Zusammenarbeit mit Goldman Sachs eine eigene physische Kreditkarte an. Nun mit einem Smartphone-Wallet gekoppelt, löste sie eine Neugestaltung der bestehenden Plastikkarten aus. Die schon länger obsolete, leichte Erhöhung der persönlichen Daten, die einst durch Papierabdruck die Nutzung von Kreditkarten per Formulardurchschlag erlaubt hatte, ist verschwunden. Das soziale Prestige der Kartennutzer:in äußert sich jetzt weniger darin, mit ihrem guten Namen zu bezahlen, sondern in den Werten der Walletdaten auf ihrem mobilen Bildschirm. Namen, Kreditkartennummer und weitere persönliche Daten sind in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Rückseite der Karten gewandert. Nach der Covid-19-Pandemie ist zudem die persönliche Unterschrift auf Rechnungen deutlich seltener geworden.

Mit dem Wechsel im Kartendesign reagiert die Banken- und Kreditkartenindustrie auf die von Big Tech gesetzten Maßstäbe im digitalen Bezahlen. Aber kann sie mit den nicht-westlichen Innovationsdynamiken von Finanztechnologien noch Schritt halten? Chinesische Unternehmen wie Alibaba und Tencent haben die bank-basierte Kartenform des digitalen Bezahlens durch app-basierte Dienste übersprungen. Vergleichbares gilt für die Entwicklung des mobilen Bezahlens in afrikanischen Ländern. Warum aber halten sich Kreditkarten trotzdem hartnäckig als Bezahlmittel und Geschäftsmodell, das sogar neue Allianzen mit der Welt der Krypto-Assets eingehen kann?

Charge it! Kredit, Überwachung und Konsum

Eine Antwort darauf liegt in der wechselhaften und immer wieder überraschenden Medien- und Sozialgeschichte des Kredits in den USA. Die Praktiken des gegenseitigen Einräumens und Einforderns von Kredit waren – und sind –konstitutiv für alltägliche Ökonomien und Big Business zugleich. Die auf indigenen Territorien im 19. Jahrhundert vollzogene geografische Expansion der USA war durch Bargeldmangel und die Absenz einer Zentralbank gekennzeichnet. Der ökonomische Austausch über große Distanzen erforderte wechselseitiges Vertrauen an der frontier ebenso wie in den rasant wachsenden Städten. Seit den 1840er Jahren boten sich Agenturen zur Überprüfung von Kreditwürdigkeit als vertrauensschaffende Vermittler an. Ein weitreichendes Netzwerk von Korrespondent:innen ermöglichte den Mercantile Agencies die private Überwachung wirtschaftlicher Aktivitäten.  Zunächst auf professionelle Akteur:innen beschränkt, klassifizierten und bewerteten Auskunfteien ab den 1870er Jahren in den großen Städten die Kreditwürdigkeit von Kund:innen.

Ab 1914 setzte Western Union für die Abrechnung von Telegrammen charge cards ein, die auf einem kleinen rechteckigen Stück Papier die Kontonummer, den Namen, die Adresse der jeweiligen Firma oder Person und ein Unterschriftsfeld enthielten. Auf dieser administrativen Basis setzte eine grundlegende Erweiterung der Kreditfähigkeit von Einzelpersonen durch neue Bezahlmedien nach dem Ersten Weltkrieg ein. In den 1920er Jahren wurde es in den USA erstmals möglich, gesammelte Schulden an andere Unternehmer:innen zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausketten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen. In den Kaufhäusern hatten sich credit departments etabliert, die die Kreditwürdigkeit von Kund:innen anhand von karteikarten-basierten Registraturen und persönlichen Interviews systematisch prüften. Die hohe Nachfrage nach Kredit für größere Anschaffungen, darunter Automobile und Schallplattenspieler, und rechtlich abgesicherten persönlichen Krediten traf auf das neue Kaufen und Verkaufen von angesammelten Schulden im Finanzsystem.

Kundenkarten erleichterten die Registrierung und Identifizierung der Konsument:innen. Neben der entsprechenden Buch- und Karteiführung beinhalteten diese ein spezielles Format, die sogenannten charge-a-plates oder charge plates. Sie ermöglichten basale Zahlungspraktiken in Kaufhäusern, Tankstellen und Hotels wie etwa die um bis zu 30 Tage verspätete Zahlung bei bewährten, ‚guten‘ Kundenbeziehungen. Die Zahlung mit den ab 1928 genutzten charge plates – oder mit den verwandten, älteren charge coins – war einerseits eine Angelegenheit des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits korrespondierte jede Karte mit einem lokalen Kundenkonto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv zur Personalisierung der Karten beitrugen.

Der „Fresno Drop“: Plastik für alle

Privaten Konsum mit aufgeschobenen Zahlungen und Schulden zu verbinden, wurde so zur weit verbreiteten neuen Praxis. Die bisherige Skepsis gegenüber persönlichem Kredit verflüchtigte sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg fragte insbesondere die weiße amerikanische Mittelschicht, als die Kriegsersparnisse aufgebraucht waren, intensiv neue Kredite nach. Die Finanz- und Immobilienindustrie (finance and real estate, kurz: FIRE) antwortete in den 1950er Jahren mit einer Vielzahl von neuen Angeboten, die die bereits akzeptierte Finanzierung von Käufen auf Kredit noch mehr zum Normalfall machten. Als ‚erste‘ Kreditkartenfirma dieser neuen Konsumwelten gilt nach wie vor Diners‘ Club. Zu ihrer Gründung 1949/1950 offerierte sie bequemes monatliches Bezahlen der bei Geschäftsessen in New York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners‘ Club zunächst kein Medium aus Metall oder Plastik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants.Die historischen Schreibweisen variieren. In den Gründungsjahren war Diners‘ Club üblich, später Diners Club (International).

Beim Material herrschte zunächst Vielfalt: Metallene charge cards, Karten auf Celluloid-Basis oder gedruckte Diners-Club-Ausweise waren üblich. Ölfirmen begannen Mitte der 1950er Jahre, ihrerseits charge cards auf Plastikbasis auszugeben. Ab 1958 bot die Bank of America mit der BankAmericard erstmals Plastikkarten an; 1959 folgte American Express. Der wichtigste Markttest erfolgte im September 1958 durch die Bank of America in der kalifornischen Stadt Fresno. Er ist als „Fresno Drop“ bekannt geworden. Nach einem initialen Massenmailing fanden 65.000 Haushalte unaufgefordert Plastikkarten für einen Bank of America charge account plan in ihren Briefkästen. Die Karte erlaubte ihren Nutzer:innen den Erwerb von Waren in anfänglich 300 kleineren Geschäften in und um Fresno. Einmal im Monat erhielten Kund:innen eine Rechnung, die entweder ohne Zinsen im vollem Umfang zu bezahlen war oder aber bei einer jährlichen Zinsrate von 18 Prozent später beglichen werden konnte. Trotz hoher Anfangsverluste gelang der Bank of America der Aufbau eines nationalen Franchise-Systems. Im Gegensatz zum Diners Club setzte es weniger auf Exklusivität denn auf Zugänglichkeit für die Mittel- und Unterschichten. Mit der 1977 erfolgten Umbenennung der BankAmericard in „Visa“ wurde die Internationalisierung des Bezahlens per Kreditkarte zum strategischen Programm.

Karten, Terminals und Großrechner: der globale Aufstieg von Visa und Mastercard

Als größter Wettbewerber der BankAmericard etablierte sich ab 1966 die Interbank Card Association. Die beteiligten Banken gründeten ihren Verbund in Reaktion auf die landesweite Lizensierung von BankAmericards. Interbank vereinte eine Vielzahl regionaler Zusammenschlüsse kleinerer und mittelgroßer Banken, die selbstbewusst mit dem Slogan „Join the revolution: Be a card carrying capitalist“ warben. 1969 ersetzte der Markenname Master Charge das kaum wiedererkennbare Logo der Interbank. Auf die Internationalisierung von Visa hin folgte 1979 die Umbenennung in MasterCard. Hatten sich Visa und Mastercard in ihrer Organisationsstruktur und -kultur zunächst stark unterschieden, wurden diese Differenzen durch den Wettbewerb der 1970er Jahre fast aufgehoben. So kam es in den 1980er Jahren zwei Mal zu Gedankenspielen, beide Firmen zu fusionieren, zumal sie vergleichbare digitale Infrastrukturen aufgebaut hatten.

Tatsächlich war der rasante Aufstieg der amerikanischen Kreditkarte zu globaler Hegemonie untrennbar mit Computern verbunden, die den schnellen mobilen Kredit verwalt- und prozessierbar machten. Schon die Ausgabe der ersten personalisierten BankAmericards 1958 wäre ohne die Nutzung von IBM-Rechnern, Lochkarten, einer Kartenprägemaschine namens Databosser und der Software Electronic Recording Machine-Accounting (ERMA) des Stanford Research Institute nicht möglich gewesen. Die Massenmailings der 1960er Jahre provozierten einen massiven Ausbau computer- und telefonbasierter Infrastrukturen, der mit den wilden Nutzungs- und Betrugspraktiken kaum Schritt halten konnte. „In a rush to get their plastic into the air, banks randomly fired off credit cards. Computers – key to controlling them – are still trying to catch up“, bilanzierte ein LIFE-Artikel im März 1970. Gebändigt wurde die Vielzahl an konkurrierenden Bezahlangeboten ab 1971 durch eine von Bank- und Computerindustrie gemeinsam betriebene Standardisierung.

1971 – der Anfang von etwas, das mittlerweile bestimmt werden kann

Die ersten Kreditkartenangebote europäischer Banken ab 1964 waren Teil des Wohlstandswachstums, der die westlichen Industriestaaten zwischen 1945 und 1975 prägte. Für Demokratiefragen des digitalisierten Finanzsektors sind aber nicht nur die berühmten trente glorieuses des Kapitalismus entscheidend. Die erste technische Standardisierung des Kreditkartenformats samt Magnetstreifen wurde just in jenem Jahr 1971 vorgenommen, in dem US-Präsident Richard Nixon per Fernsehansprache am 15. August die Aufgabe der Goldbindung des US-Dollars verkündete. Eine grundsätzliche Deckung von Geld, Währung und Kredit durch den Wert physischer Objekte ist seitdem nicht mehr gegeben. Diese muss nun jeweils durch vernetzte Buchhaltung neu geschaffen werden. So entwickelte sich der Kapitalismus durch digitale Infrastrukturen weiter, in denen Kredit qua Tastendruck in computerbasierter Buchhaltung gewährt wird. Neoliberale (und libertäre) Ideologien trieben diese beispiellose Finanzialisierung aller Lebensumstände, die noch die kleinste Transaktion im digitalen Bezahlen durchdringt, weiter voran.

Obwohl glamouröse Kreditkartenwerbung und Sticker an Ladengeschäften seit den 1960er Jahren etwas anderes suggerierten, etablierte sich die Kreditkarte bei den US-amerikanischen Mittel- und Unterschichten in einer Zeit ökonomischer Krisen. Die 1970er und noch die beginnenden 1980er Jahre waren durch ernste Rezessionen wie die Ölkrise und Stagflation gekennzeichnet. Unter Jimmy Carters Regierung, die Konsument:innenkredite begrenzen wollte, um die Inflation im Zaum zu halten, führte dies zu teils absurden Szenen. So trat der Präsident von Mastercard Russell Hogg 1980 in Werbespots auf, in denen er das Fernsehpublikum dazu aufforderte, seine Mastercard nur für notwendige Einkäufe und Notfälle zu verwenden.

„Card not present“: Bezahlen im World Wide Web

Die Kreditkarte ist eine der wenigen voll entwickelten digitalen Medien- und Finanztechnologien, die noch vor der allgemeinen Verfügbarkeit des Internets weltweit nutzbar wurde. In den 1980er Jahren prägten Plastikkarten die Konsum- und Medienkulturen im Globalen Norden. Visa und Mastercard etablierten ein ökonomisch ertragreiches, weltweites Duopol, sichtbar durch ihr Sponsoring globaler Sportereignisse, das ihnen vor allem im Fernsehen eine bis heute ungebrochene Präsenz verschafft. Parallel dazu entwickelten Europa und Japan eigene Zahlungssysteme wie die Eurocard und JCB, die der US-Hegemonie entgegen treten sollten und zumindest in den 1980er und 1990er Jahren durchaus erfolgreich waren.

Die physische Präsenz von Kredit- und Debitkarten stellte deren angenommenen Normalfall im 20. Jahrhundert dar: Plastikkarte, Magnetstreifen und Chips waren primär für die Offline-Interaktion im digitalisierten Handel entwickelt worden. Mit der telefonischen Nutzung hatte sich in den 1980er Jahren aber eine – durchaus betrugslastige – Praxis entwickelt, bei der Karte und Daten nicht vor Ort physisch präsent sein mussten. Eines der ersten Amazon-Patente, mit denen Jeff Bezos 1995 verlässliches Bezahlen in unsicheren Umgebungen absichern wollte, beinhaltete daher ein Konzept zur Nutzung von Telefonen für die Übermittlung von Kreditkartennummern im World Wide Web.

Das öffentlich zugängliche, den Wissenschaften entwachsende Internet traf nach 1990 auf die neue politisch-ökonomische Weltordnung. Sie zeichnete sich durch ihre stetige Globalisierung und offene Märkte aus. Gegenüber den gerade entstehenden Konzepten zum digital cash bot sich die Kreditkarte ganz praktisch zum Einsatz im eCommerce des World Wide Webs an. Die amerikanische Kreditkarte war in dieser Situation zu ihrem eigenen Vorteil schon da und wahrte so gegenüber den aufkommenden Debitkarten ihre Bedeutung. Mittels der Kombination einer älteren digitalen Technologie und des WWWs etablierte sich ein Medienverbund, in dem Visa und Mastercard als Plattformunternehmen und Fintechs avant la lettre fungieren konnten. Dies ermöglichte ihre Ausbreitung in immer mehr Märkte und Gesellschaften. Konsumorientierte Mittelschichten fragten schnelle Kredite und Zahlungen nach, ob nun in Brasilien oder im ehemaligen Ostblock – und amerikanisierten sich durch die Adaption neuer Finanzmedien zusehends. Zugleich nutzten die Kreditkartenunternehmen seit Ende der 1980er Jahre den verhaltensorientierten Mehrwert ihrer Transaktionsdaten, was jeder Zahlung einen zusätzlichen ökonomischen Wert verleiht.

Apps & Wallets: Finanzialisierung oder Demokratisierung?

Sollte die Kreditkarte künftig anderen Bezahloptionen weichen, wird dies voraussichtlich durch neue Allianzen von Big Tech und Finanzwirtschaft geschehen. Trotz aller Vorhersagen, das Finanzsystem würde durch Plattformunternehmen gefährlich unter Druck geraten, passt es sich Schritt für Schritt dem technischen Wandel an, den es einst selbst digitalisierend in Gang gesetzt hat. Wer hier neue digitale Praktiken besser antizipiert – seien es kommerzielle Bezahlsysteme wie Apple Pay, Super-Apps à la WeChat oder manche Krypto-Assets mit Bezahlfunktion –, liegt im Wettlauf um die Transaktionsgebühren und Verhaltensdaten einer bargeldlosen Gesellschaft vorn.

Diese Fortschreibung einer schnellen, infrastrukturell abgesicherten Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit für Konsument:innen hat ohne Zweifel ihren Preis. Er betrifft gravierende und weitestgehend unsichtbare soziale Differenzierungen, die anhand von Finanzdaten vorgenommen werden – und somit eine mit den feinen Unterschieden von scores operierende, digitalisierte Klassengesellschaft schaffen. Die Kreditkarte hat sich im 20. Jahrhundert als Lösung für sozioökonomische Fragen des Alltags angeboten, die sie selbst schafft und zugleich verschärft hat. Ihr Versprechen mobiler finanzieller Freiheit übernehmen im 21. Jahrhundert andere Bezahldienste. Hat die erste App damit ausgedient? Mitnichten. Denn die mit der Kreditkarte etablierte Verbindung von Konto, Körper und Person bleibt auch in neuen Apps und Wallets die ökonomische Bedingung unserer sozialen Medien.

Textlizenz: CC BY-SA 4.0

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Autor: Carolina Melches eFin-Blog EU-Politik Farbe: blau

Big-Techs im Finanzwesen: Warum wir klare Regeln für Alipay, Apple und Co. brauchen

Big-Techs im Finanzwesen: Warum wir klare Regeln für Alipay, Apple und Co. brauchen

Ein Beitrag von Carolina Melches

10. Juli 2024

Die Fußball-Europameisterschaft 2024 wird nicht nur wegen der sportlichen Leistungen in Erinnerung bleiben, sondern auch durch die prominente Präsenz großer chinesischer EM-Sponsoren. Unter ihnen ist der chinesische Finanzdienstleister Alipay. Als offizieller Sponsor der UEFA und Bezahlpartner der EM 2024 betritt das Unternehmen die europäische Bühne in großem Stil. Tickets für die Spiele konnten nur mittels Kreditkarte oder Alipay erworben werden. Alipay ist in der EU Stand heute nur wenig bekannt. Die Sponsorenschaft von satten 200 Millionen Euro über acht Jahre ist jedoch ein strategischer Schritt, um den Zahlungsdienstleister in Europa bekannter zu machen und den europäischen Markt zu erobern.1UEFA, Alipay unterzeichnet langfristige Vereinbarung als Sponsor des UEFA-Nationalmannschaftsfußballs, 9. November 2018, zuletzt aufgerufen am 08.07.2024.

Alipay ist das Paradebeispiel für die rasante Expansion und das enorme Wachstumspotenzial eines Technologiekonzerns im Finanzwesen. Seine Entwicklung in China verdeutlicht aber auch die Risiken, die mit einer ungebremsten Ausbreitung großer Technologieunternehmen („Big-Techs“) im Finanzsektor einhergehen können.

Alipay – Technologie-Gigant wird Finanzgigant

Alipay wurde 2004 als Zahlungsdienst des chinesischen Online-Marktplatzes und Big-Techs Alibaba entwickelt. Binnen weniger Jahre wurde es zur größten Finanz-App Chinas. Anfangs als einfacher Zahlungsdienst konzipiert, erweiterte Alipay sein Angebot kontinuierlich um Kreditvergabe, Vermögensverwaltung und Versicherungen. Heute umfasst die App ein großes Ökosystem an Finanzdienstleistungen und Millionen von Mini-Anwendungen von Drittanbietern.

Damit ist Alipay mittlerweile ein zentraler Bestandteil des täglichen Lebens in China. Die Zahlen sprechen für sich: Fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung nutzt die Plattform aktiv, weltweit sind es schon jetzt rund 1,3 Milliarden Nutzer:innen. Der Dienst wickelte im Jahr 2020 Transaktionen im Wert von mehr als 110 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ab –mehr als Visa und Mastercard zusammen.2Wall Street Journal, „Inside Ant, the Company Behind the World’s Biggest IPO“, 27. Oktober 2020, zuletzt aufgerufen am 08.07.2024.

Das ungebremste Wachstum von Alipay wurde 2020 durch den chinesischen Staat abrupt gestoppt. Die Begründung: zunehmende systemische Risiken durch den Technologie-Giganten im Finanzsektor. In der Folge musste Alipay weitreichende Konzernumstrukturierungen und neue Regulierungen umsetzen. Seiner Expansionsmöglichkeiten im chinesischen Markt beraubt, versucht das Unternehmen seitdem verstärkt ausländische Märkte zu erschließen – wie jetzt durch sein prominentes EM-Sponsoring.

Big-Techs sind mehr als traditionelle Finanzinstitute

Die rasante Entwicklung von Alipay ist eng mit den Vorteilen verbunden, die das Unternehmen als Big-Tech-Tochter von Alibaba genoss. Denn Big-Techs sind keine traditionellen Finanzinstitute, sondern Technologiekonzerne, die unter anderem Finanzdienste anbieten. Ihre Dienstleistungen reichen von E-Commerce über Social Media zu Telekommunikation und Cloud-Computing-Diensten. Sie verfügen daher über immense Datenmengen, technologische Kapazitäten, einen riesigen bestehenden Kundenstamm und große finanzielle Ressourcen. Diese können sie bei der Entwicklung von Finanzangeboten nutzen, was ihnen gegenüber traditionellen Finanzinstituten und kleineren FinTechs einen extremen Wettbewerbsvorteil verschafft.  

Auch westliche Technologie-Giganten wollen zu Finanzgiganten werden…

Doch nicht nur Alipay, auch westliche Technologie-Riesen wie Google, Apple und Meta drängen zunehmend in den Finanzsektor. In der EU werden Zahlungsdienste wie Apple Pay, Google Pay und Amazon Pay schon heute gern genutzt. Viele erinnern sich noch an Metas (damals Facebook) gescheiterten Versuch, die eigene digitale Währung Libra einzuführen. In anderen Bereichen der Finanzdienstleistungen sind die Tech-Giganten bereits erfolgreicher. Zwar verläuft ihr Einstieg in westlichen Märkten aufgrund der hohen Marktsättigung im Finanzbereich deutlich langsamer als in Südostasien, doch auch in der EU sind insbesondere die Zahlungsdienste wie etwa Apple Pay und Google Pay weit verbreitet. In ihrem Heimatmarkt, den USA, bieten die US-amerikanischen Big-Techs bereits Ratenkredite, Sparkonten und andere Finanzprodukte an.3BankingHub, Financial services categories served by Big-Techs, zuletzt aufgerufen am 15.04.2024.

Wie bei Alipay beruht ihr Geschäftsmodell auf einer einzigartigen Kombination aus Big Data, Technologie, finanziellen Ressourcen, einem großen Kundenstamm und Netzwerkeffekten. Diese Kombination wirkt wie ein Wachstumsmotor: Durch fortschrittliche Datenanalyse schaffen Big-Techs ein breites und optimiertes Angebot, das neue Nutzer:innen anzieht. Eine Rückkopplungsschleife, die das Wachstum der Tech-Unternehmen weiter beschleunigt und ihnen auch im Finanzwesen großen Erfolg verspricht.

…mit erheblichen Risiken für Verbraucher:innen…

Für Big-Techs bietet dieses Geschäftsmodell ein enormes Gewinn- und Wachstumspotenzial. Ihre ungehemmte Ausbreitung bringt jedoch gesamtgesellschaftlich große Gefahren mit sich. Ein zentrales Problem ist die zunehmende Konzentration von Marktmacht und Daten.

Big-Techs sind bereits für ihren problematischen Umgang mit Nutzer:innendaten bekannt. Der Zugang zu Finanzdaten könnte neue Missbrauchsmöglichkeiten eröffnen. Denn Finanzdaten sind äußerst aufschlussreich, verraten viel zum Beispiel über politische Ansichten, den Gesundheitszustand und die Wohnsituation der Nutzer:innen. Diese Informationen könnten für neuartige Risikobewertungsmethoden und Bonitätsprüfungen zusammengeführt werden – mit erheblichen Risiken der unfairen Exklusion oder etwa der Preisdiskriminierung bei Finanzprodukten.

… die Finanzstabilität…

Big-Techs sind schon heute zu groß und zu mächtig. Als Finanzdienstleister könnten sie binnen kürzester Zeit relevante Akteure werden, die – ähnlich wie die Großbanken in der Finanzkrise – „too big to fail“ sind. Durch die zunehmende Vernetzung mit traditionellen Banken entsteht ein zusätzliches systemisches Risiko: die Gefahr zu vernetzt zu sein, um scheitern zu können („too interconnected to fail”). Denn selbst wenn sie bei Finanzprodukten wie Ratenkrediten nur vermitteln, werden sie zu wichtigen Knotenpunkten im Finanzsystem. Diese Vernetzung könnte im Falle von internen Problemen der Big-Techs (z. B. Cyber-Angriffen oder IT-Problemen) Ansteckungseffekte auf die Finanzinstitute im Hintergrund haben.

… unsere politische Souveränität

Zahlungen und Zahlungsinfrastruktur bilden die Basis wirtschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Partizipation. Sie sind kritische Infrastruktur und ein weiterer Lebensbereich der Nutzer:innen, den sich die Big-Techs erschließen. Im Bereich des 5G-Netzausbaus ist längst eine Debatte um die Bereitstellung kritischer Infrastruktur durch nicht-europäische Akteure entfacht. Es ist erstaunlich, dass Unternehmen wie Huawei als Sicherheitsrisiko eingestuft werden, während der Vorstoß Alipays nach Europa sowie das wachsende Finanzangebot der Tech-Konzerne in der EU in der Debatte um politische Souveränität und kritische Infrastruktur kaum Beachtung finden.4Thierry Breton, Statement, 5G Security: The EU Case for Banning High-Risk Suppliers, 15. Juni 2023, zuletzt aufgerufen am 29.04.2024.

… und unsere Gesellschaft

Man muss sich fragen, ob es gesellschaftlich überhaupt gewünscht ist, dass sich die ohnehin omnipräsenten Big-Tech einen weiteren Lebensbereich, unsere Finanzen, erschließen. Ihre starken Netzwerkeffekte werden weiter befeuert und machen die Big-Techs im Alltag unumgänglich. Mark Zuckerberg, CEO von Meta Platforms, hat kürzlich seine Vision von WhatsApp als Super-App und damit zentraler Anlaufstelle für Chatten, Einkaufen, Banking und vielem mehr ausgerollt.5Handelsblatt, WhatsApp wird zur „Alles-App, 27. Juli 2024, zuletzt aufgerufen am 08.07.2024. Eine Vision, die andere Big-Techs sicher teilen. Das Angebot von Finanzdiensten durch die Big-Techs ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

Regulatorische Konsequenzen ziehen, so lange dies noch möglich ist

Es wird deutlich: Wenn Big-Tech-Unternehmen uneingeschränkt Finanzdienstleistungen anbieten dürfen, wächst ihre (Markt-)Macht weiter. Ein Blick nach China und insbesondere die USA zeigt, welche Entwicklung Europa noch bevorstehen könnte. Doch die EU hat noch die Chance, es besser zu machen. Das derzeit noch überschaubare Angebot finanzieller Dienstleistungen durch Big-Techs erlaubt es, notwendige regulatorische Maßnahmen einzuleiten und Risiken mit klaren Regeln vorzubeugen.

Durch den Digital Markets Act (DMA) und den Digital Services Act (DSA) hat die EU zwar bereits Maßnahmen im Bereich des Verbraucherschutzes, des Datenschutzes und des Wettbewerbsrechts ergriffen. Aber die Finanzdienstleistungen der Tech-Giganten werden derzeit unzureichend reguliert. Die spezifischen Risiken, die sich durch das spezifische Geschäftsmodell der Big-Techs ergeben, bleiben bisher unberücksichtigt. Denn die Lizenzen für Finanzdienstleistungen werden oft von Tochterunternehmen der Big-Techs gehalten, so dass die Aufsichtsbehörden nur den jeweils lizenzierten Teil des Konzerns, die Tochtergesellschaft, überwachen können. Risiken aus der Interaktion mit anderen Sparten wie E-Commerce oder Social Media bleiben weitestgehend unbeaufsichtigt.

Regeln für mehr Transparenz und Effizienz

Eine mögliche Lösung besteht darin, die Finanzdienstleistungen von den anderen Geschäftsbereichen der Big-Techs klar zu trennen. Finanzdienste wie etwa Kreditvergabe, Banking, E-Geld und Zahlungsdienste könnten unter einer Finanzholding-Gesellschaft gebündelt werden. So könnten sowohl die Finanzdienste selbst als auch die Interaktion der Finanzsparte mit dem Rest des Konzerns beaufsichtigt werden.

Regeln zum Datenaustausch, gemeinsamer Nutzung von Technologie sowie Finanzflüssen zwischen den Sparten könnten definiert werden. Der Grad der Trennung könnte unterschiedlich stark, bis hin zur eigentumsrechtlichen Trennung, kalibriert werden. So ließen sich die spezifischen Risiken der Big-Techs effizient und transparent überwachen und das Risiko von Interessenkonflikten und systemischen Risiken durch konzerninterne Ansteckungseffekte verringern. Ein ähnlicher Ansatz wurde bei der Regulierung Alipays durch den chinesischen Staat angewandt.

Es ist Tempo geboten

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Big-Techs im Finanzsektor wachsen, stellt die Trennung der Finanzdienstleistungen vom Kerngeschäft eine schnell umsetzbare Lösung dar. Alternativ wäre eine ganzheitliche Aufsicht der Technologieunternehmen auf Konzernebene unter Einbezug der Finanzsparte möglich. Eine solche Form der Regulierung wäre jedoch deutlich komplexer und würde genaue Kenntnisse der oft komplexen Konzernstrukturen und Interaktionen benötigen.

Insgesamt ist die wachsende Präsenz von Big-Techs im Finanzsektor eine nicht mehr zu übersehende Herausforderung. Die Omnipräsenz des Zahlungsdienstleisters Alipay bei der aktuellen Europameisterschaft zeigt, wie wichtig es ist, zeitnah einen geeigneten Rechtsrahmen auf EU-Ebenen zu schaffen. Denn wenn Big-Techs Finanzdienstleistungen anbieten, sollten sie auch auf ihre spezifischen Risiken hin reguliert werden. Ziel muss es sein, von der Innovation und den Potenzialen zu profitieren und gleichzeitig Verbraucher:innen, Finanzstabilität und unsere Demokratien zu schützen.

Weiterführende Literatur: In der aktuellen Studie „Mehr Geld, mehr Macht: Big-Techs im Finanzwesen“ hat Finanzwende Recherche die Risiken und Handlungsoptionen angesichts von Big-Techs im Finanzwesen ausführlich analysiert.

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Autor: Petra Gehring Coinzeit 3000 eFin-Blog Farbe: hellblau

Coinzeit 3000 #9: Politisierung

Ein Beitrag von Petra Gehring

25. Juni 2024

Seit zwei Jahren hat die Politikwissenschaft das Thema Geld entdeckt: Geldtheorien werden rekonstruiert, vor allem aber geht es um Gegenwartsdiagnosen. Haben in in den länger zurückliegenden Jahren nicht Politikwissenschaftler, sondern Soziologen wie Urs Stäheli oder Elena Esposito das Bankensystem, die Börse, Spekulationen und Derivate attackiert, so geht es nun um die Frage, ob politische Systeme – und auch gerade moderne Demokratien – „das Geld“ als eine vermeintlich bloß technische Angelegenheit in viel zu starkem Maße den Zentralbanken überlassen. Das Geld werde „zur unpolitischen Technologie verklärt“ (Sahr 2022, Ankündigungstext), demokratische Akteure kümmerten sich zu wenig um „grundlegende demokratische Fragen der monetären Gewalt“ (Eich 2023: 13). Die politische Theorie solle jedoch „dazu beitragen, den unklaren Ort des Geldes in der demokratischen Politik neu zu fassen“ (Eich 2023: 18), in den Blick zu nehmen sei dessen „genuin politische Architektur“ (Sahr 2022: 12).

Die Appelle sind mehr als plausibel – die Finanzkrise, die digitale Umgestaltung der Werte und Wertzeichen hätten dazu eigentlich gar nicht nötig sein sollen. Worüber man aber doch grübelt: Die Forderung der Autoren nach einer „Politisierung“ des Geldes, die konkret in einer Entzauberung der vermeintlichen Neutralität der Zentralbanken zu bestehen hätte, und die dann ohne Wenn und Aber zugleich eine „Demokratisierung“ sein soll. In den Worten von Stefan Eich: „Die Welt braucht dringend eine neue globale monetäre Verfassung und eine Währungsordnung, die demokratischer gesteuert wird.“ (276) Was meint das konkret? Mehr Rechenschaftslegung, mehr Aufsicht, mehr „finanzielle Bürgerrechte“ gegenüber Banken, mehr öffentliche Kreditversorgung, vor allem aber: Zentralbanken sollten „Labore“ werden für eine offene Demokratie. Es gälte, Personen hinein zu wählen, dabei alle gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren, sie zwar nicht der Exekutive, aber umso mehr den Bürgerinnen und Bürgern zu unterstellen, im Sinne einer eigenständigen monetären Gewalt (vgl. 284).

Dezentral organisierte Kryptowährungen lehnt Eich als „eine Fälschung demokratischen Geldes“, und Plattformwährungen lehnt er als „Vorstoß zu einer Privatisierung des Geldes“ ab (vgl. 277). Das Geld selbst bezeichnet er als „kollektive Fiktion“ (287) und sieht eben darin dann auch das Versprechen der Gestaltbarkeit: „Anstatt uns vom fiktiven Charakter des Geldes blenden oder verängstigen zu lassen, können und sollen wir seine nie vorab festgelegten politischen Potenziale ausschöpfen …“ (287). Möglicherweise falle ich genau hier aus dem Film: Wie kann ich eine kollektive „Fiktion“, ohne sie zu zerstören, kollektiv steuern? In welchem Sinne heißt „fiktiv“ in einem ergebnisoffenen Sinne „unfestgelegt“ (wo wir doch an Fiktionen – als Annahmen, Setzungen, vielleicht sogar Erfindungen – ein Stück weit auch glauben müssen)? Und woher nimmt der demokratische Diskurs den Sinn für die „politischen Potenziale“ einer Fiktion – ohne dass diese Potenziale nicht auch verflixt leicht „fiktiv“ zu nennen wären?

So berechtigt der Hinweis darauf ist, am Geld sei nichts natural, wenig neutral und vieles politisch – Politisierung ist jedenfalls nicht automatisch Demokratisierung. Auch Krypto und Libra „politisieren“ die kollektive Fiktion.

Stefan Eich: Die Währung der Politik. Eine politische Ideengeschichte des Geldes (2022). Hamburg: Hamburger Edition 2023.

Aaron Sahr: Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft. München: C.H. Beck 2022.

 

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Autor: Konstantin Schönfelder eFin-Blog Farbe: gelb Uncategorized

„Eigenes Risiko als Gefahr für andere“

„Eigenes Risiko als Gefahr für andere“ – ZEVEDI Citizen Lecture mit Joseph Vogl

Ein Beitrag von Konstantin Schönfelder

11. Juni 2024

Eine „Bestandsaufnahme“ nennt der nun emeritierte Professor Joseph Vogl, von Haus aus Literaturwissenschaftler, seine Analysen über den Finanzmarkt, die er seit 2010 anstrengt, dem Erscheinungsjahr vom „heimlichen Bestseller“1 Das Gespenst des Kapitals. Seitdem ließ er mit Souveränitätseffekt (2015) und zuletzt mit Kapital und Ressentiment (2021) zwei weitere monographische und vieldiskutierte Teile einer düsteren Finanzwirtschaftssaga folgen, die wohl auch nach seiner Emeritierung noch fortgesetzt werden wird. Doch es ist „nur“ eine „Bestandsaufnahme“, wie sich Vogl an jenem Vortragsabend in der Technischen Universität Darmstadt bescheidet, als er im Rahmen der Citizen Lecture „Finanzen, Staat, Digitalisierung & Demokratie“ seinen Beitrag zu „Souveränitätsproblemen im Finanzmarktkapitalismus“ ausführt.2 Vogl entwirft keine spekulative Dystopie, keine (etwa marxistische) Parteinahme, dafür interessiere er sich derzeit nicht sonderlich, sondern eine historisch geleitete Beschreibung von der Entstehung, Expansion und Ermächtigung von Finanzmärkten, die in den letzten Jahrzehnten vor allem von Technologien des Digitalen gepusht wurden, um schließlich in etwas, was Vogl „Plattformkapitalismus“ nennt, zu münden. Die aber zuweilen dystopische Züge annimmt. Aber gehen wir es doch einmal schrittweise durch.

Vogl diagnostiziert der Digitalökonomie, der Finanzindustrie, dem Informationskapitalismus – für ihn alles Synonyme – eine diabolische Lüge im Grunde ihres Wesens. Sie gibt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Denn in Wahrheit ist, laut Vogl, die Finanzindustrie eine machtvolle „vierte Gewalt“, die er auch die monetative Gewalt nennt. In seinem jüngsten Buch hat er dieser ein ganzes Kapitel gewidmet. Diese monetative Gewalt liegt in den unsichtbaren Händen der Finanzregime, die „mehr und mehr staatlichen Ehrgeiz entwickeln“, ohne dabei aber rechtlich gebunden zu sein, wie es andere staatliche Akteure sind. Bei diesen Finanzregimen denkt Vogl vor allem an Plattformen mit „transgouvernementaler Handlungsmacht”3, also an die milliardenschweren Digitalkonzerne Google, Meta und Co., die es in ausgeklügelten Systemen geschafft haben, ihre gewinnbringenden Geschäftsmodelle exponentiell auszuweiten und Haftung in entgegengesetzter Richtung abzustreifen.

Möglich gemacht hat es unter anderem die bis ins Unheimliche gesteigerte Geschwindigkeit der Übertragung von Information. Schon die Zeitung, so leitet es Vogl her, war ursprünglich ein Medium zur Übertragung von Finanznachrichten. Und jene Kaufmänner mit diesem Informationsvorsprung hatten einen Marktvorteil, den sie kapitalisieren konnten. Der gamechanger dahingehend kam durch die Einführung des World Wide Web in den 1990er-Jahren, das Information instantan und massenhaft verfügbar machte. Auswüchse der Finanzindustrie, wie etwa das high frequency trading, sind nur eine logische Folge dieser technologischen Disruption. Die Frage, die sich im Nachhinein damit aufgetan hat, ist: Wie kann man diese nicht rivalisierenden Güter zu Waren machen?

Aus Informationen Waren machen

Mit nicht rivalisierenden Gütern sind jene gemeint, die durch ihren Verbrauch nicht verknappt werden. Benzin wird durch den Verbrauch verknappt, zum Beispiel. Aber Information und Kommunikation wird im Einsatz nur weiter vervielfältigt. Die Antwort, die die Plattformunternehmen darauf gefunden haben, ist, die Daten wie Rohstoffe zu behandeln:

Sie wissen, dass man mit jeder Googlesuche, jedem Tweet oder jeder Bewegung auf sozialen Märkten, Datenrohstoffe produziert. Rohstoffe, die unter der Bedingung stehen, dass man selbst über sie nicht verfügen kann, also dass man digital enteignet wird. Das ist der enorme Gewinn dieser Unternehmen.

Enteignet werden die Nutzenden also dadurch, dass sie bestimmte niedrigschwellige Informationsangebote wahrnehmen – Karten, Datenbanken, Kommunikationsdienste -, aber damit im Gegenzug all ihre angesammelten Daten irgendwo und außer Sichtweite gespeichert, verarbeitet und verkauft werden. Lukrativ ist dieses Geschäftsmodell zunehmend deshalb, da die Datenpakete im Web 2.0 bereits gewinnbringend verbandelt sind. So heißt es in Kapital und Ressentiment:

Unter den technischen Bedingungen des Web 2.0 und der Plattformkommunikationen sollten vielmehr alle Daten, die durch die verfolgbaren Online-Tätigkeiten der gesamten Netzpopulation hervorgebracht werden, als immer schon extrahierte Daten, als Metadaten und somit relationale Objekte begriffen werden, in denen Daten bereits mit Daten korreliert und kollationiert sind und sich zur weiteren Verarbeitung anbieten.4

Nun liegt es nahe, dass die Internetriesen mit dieser selbstwachsenden Saat nicht nur Schnittstellen oder Medien sein wollen, die sich mit Vermittler- und Werbeeinnahmen begnügen. Es geht vielmehr darum, diesen Prozess beschreibt Vogl in der Vorlesung sehr anschaulich, dass sie beginnen, öffentliche Aufgaben zu übernehmen, Infrastrukturen bilden, Krankenhausdienste anbieten etc. Und während die Unternehmen das tun, lancieren sie die These, „und das ist neu […], dass der Kapitalismus, der wirkliche Kapitalismus, keinen Wettbewerb, sondern Monopolisten benötigt.” Diese quasi-staatlichen Akteure mit dem Wunsch, Monopol sein zu dürfen, sind so auch ins Finanzgeschäft vorgedrungen, denn sie haben ja alles, was sie dafür brauchen. Angebote von Bezahldiensten zum Beispiel, neben Investmentfonds und Finanzierungsinstrumenten, gehörten schon seit Längerem zu den „wesentlichen Treibsetzen” amerikanischer und chinesischer Plattformunternehmen. „Sie bieten den Vorzug, dass sie die verlässlichsten Daten zur gezielten Platzierung von Produkten und Werbung liefern und dass sich mit ihnen überdies der dezentrale internationale Zahlungsverkehr zentral überwachen lässt.“ Schon PayPal, so Vogl, sei mit dem Anspruch angetreten, eine Art Internetwährung zu schaffen, um den Dollar im internationalen Zahlungsverkehr zu ersetzen und staatliche Währungsmonopole zu unterlaufen. Und zuletzt hatte Meta versucht, mit Diem (ehemals Libra) eine eigenständige Internetwährung zu gründen, oder wie es Vogl sagt, „private Kontrolle mit para-staatlicher Ausweitung der Konzernmacht zu kombinieren“ – ein Vorhaben, das erst am Einspruch der Federal Reserve Bank gescheitert ist.

Entbunden vom Recht?

Nun scheint an diesem Beispiel ebenso deutlich zu werden, dass diese Plattformakteure nicht gänzlich rechtlich entbunden sind, aber dass sie ein sonderbarer Rechtsstatus kennzeichnet. Vogl rekonstruiert den Moment des Jahres 1996, als im Telecommunications Act, zur Beförderung des Internets, festgelegt wurde, dass die Plattformen für die Daten, die sie zirkulieren, nicht verantwortlich sind. Dieser Ausnahmefall habe uns einen „neuen Kapitalismus beschert“, denn die „Unternehmen machen mit Produkten ihre Geschäfte, die tief in das Soziale, in die Öffentlichkeit hineinwirken, für die diese Unternehmen aber nicht verantwortlich sind.“ Oder kurz: „Nutzer erzeugen, was Konzerne verkaufen.“5

Dies alles berührt das „Souveränitätsproblem des Finanzmarktkapitalismus“ ganz wesentlich. Kurz vor Schluss definiert Vogl schließlich den titelgebenden Begriff seines Vortrags so: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.“ Sollten mit den Gläubigern letzter Instanz die Plattformunternehmen gemeint sein, lohnt es sich, im subversiven Potential dieses Satzes zu lesen. Von der anderen Seite des Plattformunternehmens aus gesehen, den Nutzenden, ist die „Gefahr für andere“, also ebenso die Gefahr für einen selbst, womöglich ein Handlungsspielraum. Die Idee einer sozialen Vernetzung, auch die Vorstellung einer direkten oder indirekten finanziellen Teilhabe an dieser wirtschaftlichen superpower, muss ja keine sonderbar einerseits privatisierte und andrerseits quasi-staatlich-monopolistische Angelegenheit sein, wie es Vogl mit einer für ihn typischen Wortneuschöpfung „Dämonokratie“ ins Wort setzt. Die EU, so bringt Vogl auf Nachfrage das Referat noch einmal auf eine andere Note, versuche ja, diese Entwicklung der Finanzmärkte einzudämmen. Der Digital Markets Act sei etwa ein außergewöhnlich gutes Beispiel. Es gäbe sicher noch andere. Nun wäre das dann allerdings ein anderes Kapitel, vielleicht ja für ein weiteres Buch, und damit die Fortsetzung der Finanzsaga, die sich vor den kritischen Augen von Joseph Vogl und unseren weiter abspielt – mit offenem Ausgang.


  1. Dietmar Hawranek et al.: „Märkte außer Kontrolle“. In: Der Spiegel, 22.08.2011. ↩︎
  2. Joseph Vogl: „Souveränitätsprobleme im Finanzmarktkapitalismus“. Citizen Lecture Finanzen, Staat, Digitalisierung & Demokratie, 27.05.2024, https://tu-darmstadt.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=3df89c29-7164-460b-8aed-b17d0103dc33.  Alle weiteren, nicht ausgewiesenen Zitate oder Belege sind als Wortlaute der Vorlesung entnommen. ↩︎
  3. Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment, C.H. Beck: München 2021, S. 60. ↩︎
  4. Ebd., S. 80. ↩︎
  5. Ebd. ↩︎

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