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Autor: Petra Gehring Coinzeit 3000 eFin-Blog Farbe: hellblau

Coinzeit 3000 #7: Token

Ein Beitrag von Petra Gehring

15. Februar 2024

Rachel O’Dwyer schreibt als kluge Ethnologin des digitalisierten Bezahl-Alltags. Ihre Umschau zum schillernden „Wert“ nicht nur von Kryptotoken liest sich hinreißend: man ist fasziniert von Vouchern, Giveaways, Amazon-Wishlists, Fortnite-Skins wie überhaupt Gaming-Währungen aller Art, des Weiteren: virtuellen Trophäen, Andenken, Memes – alles das ist informelles Digitalgeld!

„Throughout history, tokens have littered the edges of the economy …” (7). Dieser Ausgangsthese zufolge erscheint offizielles, staatlich abgesichertes und quasi vereindeutigtes Geld geradezu als moderne Ausnahme. Diesseits davon existieren Welten voller Wert-Zeichen, die zirkulieren, temporär in Geltung sind, Käuflichkeit organisieren und Macht verleihen. O‘Dwyer, die am National College of Art and Design in Dublin Digital Culture lehrt, nennt die Träger solcher Wertmarkensysteme (und ihr Buch) Tokens: „As something that is ‘not quite money’, tokens blur the hard edges between legitimate and illegitimate work and legitimate and illegitimate transactions.” (7) Vor der Digitalisierung kannten wir das vereinzelt auch: Rabattmarken, Lebensmittelkarten, Sammelbildchen. Im Netz kommen informelle Bezahlformen nun jedoch in großem Stil zurück: Aus Spiel wird Ernst.

“Tokens confer identity and access.” (10) Digitales Blingbling – nicht Geld, aber money-ish und überall klickbar zu haben sowie spielfigurenartig zu bewegen – ist auch Anerkennungsmittel. Das Wertzeichen kann besagen: Du bist wertvoll, und: Du bekommst genau deshalb, weil du so aussiehst oder dies tust, virtuelles Kapital. Das Spielgeld schafft also vertragsartige Bindungen und steuert: „Tokens can thus […] be a way of attaching special conditions to payments. They can bring spending, eating, parenting, and, well, living in line with the issuer’s objectives. Not just value, then, but values.” (vgl. 10) Ebenso schafft dieses Geld schlimme Belohnungssysteme: physische Demütigungswetten, sadistische “Mutproben”, Online-Sex: „The token is a communication designed to express itself not only with the channel, but immediately and directly on the body of the performer.” (23)

Im Ganzen ist Tokens nicht nur ein cooles, sondern auch ein politisches, zorniges Buch über Geld. Es gibt Kapitel über Tracking durch Geld, über Geld und Identitätsfeststellung, über Code als schlechten Ersatz für Recht und über das Metaverse („Litter is there to create Realism“, 271). Unbedingt lesenswert. Ein einziges Aber: die Begriffswahl. Was alles um Himmels willen nennt O‘Dwyer „Token“? Die Entscheidung für einen Schlüsselbegriff ist sicher immer ein kniffeliger Tauf-Akt. Und sicher ist mein Störgefühl dasjenige einer Philosophin. Token meint aber eben nicht nur Wertzeichen, sondern Zeichen ganz generell. Wären also alle Zeichensysteme letztlich Wertsysteme? Ist das die These: Bedeutung ist (oder wird im Netz) per se Wert?

Zum Einstieg bemerkt O’Dwyer selbst kurz, ihre Verlegerin fände den Begriff zu weit gefasst. Sie räumt ein: Tokens faszinieren als Grenzfall. „A token can be a game, a passcode, a ticket, a social tie, a keepsake, a bribe, a secret message, a gift, a promise, a vote, an ownership stake, a joke, a meme, an art, a flex, a bet, a law, another token.” (11 f.) Die Frage bleibt: Was genau meint more and less than money (11)? Absorbiert die digitale Bezahlfunktion letztlich sogar das Konzept des Zeichens selbst? Oder sprechen wir doch besser dezidiert von Wertzeichen, also von einer zusätzlichen Performance, die – sagen wir: einem digitalen Symbol oder Schriftzug zuwächst, sobald er als bezahlmittelartiger Anreiz Macht gewinnt? Zumindest theoriebegrifflich hieße letzteres: Zwischen „Token I“ (digitales Bezahlen) und „Token II, III, … n“ (Zeichensysteme ohne genau diesen beinahe-Geld-Effekt) wären zu unterscheiden. Auch einen Kapitalismus neuen Typs könnte man wohl nur dann scharf analysieren, wenn man nicht gleich alles im selben Sinne – und sei es ironisch – „Token“ nennt.

Rachel O’Dwyer: Tokens. The Future of Money in the Age of the Platform. London/New York: Verso 2023.

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Autor: Erik Meyer eFin-Blog Farbe: gelb

Coole Commons statt Krypto-Kapitalismus?

Coole Commons statt Krypto-Kapitalismus?

Ein Beitrag von Erik Meyer

1. Februar 2024

Der öffentliche Blockchain-Diskurs spielt sich, vereinfacht formuliert, zwischen zwei polarisierten Positionen ab: Die Befürworter:innen halten Blockchain und Kryptowerte für die ultimative Digital-Innovation eines technologiegetriebenen (Finanz-)Kapitalismus. Zuweilen gilt Tokenisierung hier gar als Lösung für die planetaren Probleme des Wachstumsparadigmas. Die Kritiker:innen sehen den gesamten Krypto-Komplex hingegen als einen Scam wie Schlangenöl oder als Ausdruck einer Ideologie der Lösbarkeit gesellschaftlicher Probleme durch immer neue Technologie-Konzepte und haben dafür den Begriff des Techno-Solutionism geprägt.

In dieser Diskurskonstellation bespielt Joshua Dávila als Content Creator mit der Medienmarke The Blockchain Socialist (Blog, Newsletter, Podcast und nun Buch) eine Nische. Er lässt sich als „organischer Intellektueller“1Dieser Begriff geht auf Antonio Gramsci zurück und bezeichnet bei ihm Intellektuelle, die aus einer sozialen Formation hervorgehen und deren Ideen artikulieren. einer Szene verstehen, die mit Blockchain & Co im weitesten Sinne sozialreformisch experimentiert. Mit Blockchain Radicals: How Capitalism Ruined Crypto and How to Fix It liefert der Autor gewissermaßen DEN Text dazu: historische Erzählung, weltanschauliche Einordnung, fachliche Er- und Aufklärung sowie jede Menge Beispiele für existente Anwendungen.

Ausgangspunkt seiner Abhandlung ist die Genese von Bitcoin aus dem Geist der Cypherpunks und im Kontext der Finanzkrise von 2008. Ohne (Zentral-)Banken fungiert hier die Blockchain als dezentrales Buchungssystem. Doch ist Bitcoin überhaupt Geld bzw. sein funktionales Äquivalent? Da hat Dávila seine Zweifel. Aus seiner Sicht ist dies eine – wenn nicht ideologische, dann doch interessierte – Engführung, die dann in einem reduktionistischen Verständnis von Krypto als Finance mündet. Doch „money-like“ sei eben nicht gleich Geld (73). Er versteht Kryptowerte vielmehr als Platzhalter für Geld (66). Mit dieser Interpretation rückt Dávila Krypto in den theoretisch-ökonomischen Horizont der Commons. Dort werden Ressourcen jenseits des kapitalistischen Marktes gemeinsam hergestellt und genutzt. Es wird ausgetauscht statt getauscht und Eigentumsrechte werden relativiert bzw. verflüssigt. Ein praktisches Problem dieser im Digitalen (z.B. Creative Commons) gebräuchlichen Komplementär-Ökonomie des Teilens ist in real life häufig die Skalierbarkeit. Oder generell die Governance.Weshalb auch die Rede von „The Tragedy of the Unmanaged Common“ (Garret James Hardin) der allgemeinen Klage über die Tragik der Allmende vorzuziehen sei. Ethisch designte Token-Ökosysteme könnten in diesem Kontext eine Möglichkeit für die Regulierung von Commons sein (116).

Im zweiten Teil des Werkes wendet der Autor seine so gewonnene Perspektive an, um DeFi zu dekonstruieren. Das ist analytisch originell, wie etwa Krypto als ein Schattenbanksystem zu verstehen (119). Der sozialutopische Tenor ist, dass mit den Möglichkeiten der Blockchain-Architektur nicht nur eine (echte) Dezentralisierung, sondern auch eine (echte) Demokratisierung der ökonomischen Sphäre machbar ist. Das wird nun weder libertär-staatsfern, noch neo-reaktionär gedacht, sondern genossenschaftlich-kooperativ. Aus der Orientierung am Paradigma der Koordination (161) folgt fast zwangsläufig ein historischer Verweis auf das aktuell wieder angesagte Projekt Cybersyn. Unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende intendierte die chilenische Regierung eine rechnergestützte Steuerung der Wirtschaft.2Ein Militärputsch beendete 1973 auch dieses kybernetische Experiment. Zum 50. Jahrestag erfuhr es zahlreiche Würdigungen und wurde u.a. ausführlich von Evgeny Morozov in seinem monumentalen Podcast-Projekt The Santiago Boys (https://the-santiago-boys.com) dokumentiert. Wer nun dem Blockchain-Sozialisten auf dem von ihm proklamierten Pfad des Techno-Probabilism (286) folgen mag, braucht aber nicht nur ein positives Menschenbild. Voraussetzung ist auch das Interesse an den Spielarten digital-linker Szenen und eines entsprechenden Jargons zwischen Informatik-Seminar und Theorie-Lesekreis.

Joshua Dávila: Blockchain Radicals: How Capitalism Ruined Crypto and How to Fix It (2023). London: Repeater 2023.

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    Dieser Begriff geht auf Antonio Gramsci zurück und bezeichnet bei ihm Intellektuelle, die aus einer sozialen Formation hervorgehen und deren Ideen artikulieren.
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    Ein Militärputsch beendete 1973 auch dieses kybernetische Experiment. Zum 50. Jahrestag erfuhr es zahlreiche Würdigungen und wurde u.a. ausführlich von Evgeny Morozov in seinem monumentalen Podcast-Projekt The Santiago Boys (https://the-santiago-boys.com) dokumentiert.
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Autor: Andreas Kerkemeyer Digitaler Euro eFin-Blog Farbe: gelb

Der digitale Euro: Ein erster Blick auf drei Herausforderungen

Der digitale Euro: Ein erster Blick auf drei Herausforderungen

Ein Beitrag von Andreas Kerkemeyer

15. Januar 2024

Langsam wird es ernst. Nach zahlreichen Diskussionspapieren der EZB, diversen Grundsatzreden von Mitgliedern des EZB Direktoriums, zahlreichen Stellungnahmen aus der Wissenschaft und ersten politischen Debatten hat die Kommission am 28. Juni 2023 ihren Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung des digitalen Euro» (dEuroVO-E) veröffentlicht. Im Anschluss hat die EZB im November 2023 die Vorbereitungsphase» eingeläutet, prüft also ganz konkret, ob und wie der digitale Euro eingeführt werden könnte. Damit schickt sich die Eurozone wahrscheinlich an, digitales Zentralbankgeld einzuführen.

Digitales Zentralbankgel lässt sich als Zahlungsmittel verstehen, das einen Anspruch gegenüber der herausgebenden Zentralbank begründet, in der jeweiligen Währung denominiert ist und ausschließlich digital emittiert wird. Der Verordnungsvorschlag der Kommission sieht genau dies vor. So wird der digitale Euro als „digitale Form der einheitlichen Währung“ (Art. 3 dEuroVO-E) umschrieben, der „eine direkte Verbindlichkeit der Europäischen Zentralbank bzw. der nationalen Zentralbanken gegenüber den Nutzern des digitalen Euro“ begründet (Art. 4 Abs. 2 dEuroVO-E). Diesem soll zudem der Status als gesetzliches Zahlungsmittel zukommen (Art. 7 Abs. 1 dEuroVO-E). Der digitale Euro soll also als weiteres gesetzliches Zahlungsmittel neben das Bargeld treten und im Euroraum allen natürlichen und juristischen Personen zur Verfügung stehen. Die EZB wird ihn nicht direkt „vertreiben“, vielmehr sollen Zahlungsdienstleister, also regelmäßig private Unternehmen, ihren Kundinnen und Kunden den Zugang zum digitalen Euro ermöglichen (vgl. Art. 13 dEuroVO-E).

Die Einführung des digitalen Euro wirft sehr unterschiedliche Fragen auf. Ich möchte an dieser Stelle nur drei herausgreifen: Erstens die Frage nach der Verbands- und Organkompetenz, also die Frage, ob die Union den digitalen Euro einführen darf und wenn ja, welche Organe dies tun dürfen. Zweitens die Frage, wie Desintermediationsgefahren und Bank Runs begegnet werden, also die Systemstabilität gesichert werden kann. Und drittens werden auch datenschutzrechtliche Belange zu klären sein.

Kompetenzfragen

Kompetenzfragen sind in einem politischen Mehrebenensystem unvermeidbar. Gleichzeitig gelten sie – diplomatisch ausgedrückt – gemeinhin als wenig spannend. Zudem werden Diskussionen darüber, wer welche Kompetenzen besitzt oder nicht, schnell als „Bremsklotz“ empfunden, geht es bei solchen Diskussionen doch zuvörderst um die rechtstechnische Machbarkeit und nicht oder weniger um die konkrete Ausgestaltung des jeweiligen politischen Anliegens. So gesehen liegen Kompetenzfragen quer zur Erörterung der politischen Alternativen.

Gleichwohl haben Kompetenzfragen innerhalb der Europäischen Union eine hohe Bedeutung. Denn die Union kann nur auf die Kompetenzen rekurrieren, die ihr in den Verträgen, also im Vertrag zur Europäischen Union (EUV) und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nebst ihrer Protokolle eingeräumt wurden. Für die Organe der EU gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die Union hat also nicht das Recht, eigene Kompetenzen selbst zu begründen. (Im deutschsprachigen verfassungsrechtlichen Schrifttum wird ein solches Recht als „Kompetenz-Kompetenz“ umschrieben.) Diese Beschränkung der unionalen Kompetenz hat einen wichtigen Grund: der Einschränkung ihrer Gestaltungsspielräume haben die Parlamente der Mitgliedsstaaten zugunsten der Union zugestimmt, wollten dieser aber nur bestimmte Kompetenzen übertragen. Die unionale Rechtsordnung ist auch heute noch eine abgeleitete.

Der Verordnungsentwurf zur Einführung eines digitalen Euro stützt sich auf Art. 133 AEUV, demzufolge Rat und Parlament „Maßnahmen, die für die Verwendung des Euro als einheitliche Währung erforderlich sind“ erlassen. Allerdings sieht der Entwurf auch vor, dass der digitale Euro den Status eines gesetzlichen Zahlungsmittels erhalten soll (Art. 7 dEuroVO-E). Art. 128 AEUV bestimmt indes, dass die von der „Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken ausgegebenen Banknoten die einzigen Banknoten [sind], die in der Union als gesetzliches Zahlungsmittel gelten.“ (Art. 128 Abs. 1 S. 2 AEUV). Andere gesetzliche Zahlungsmittel werden in den Verträgen hingegen nicht erwähnt.

Hieraus lässt sich aber nicht der Schluss ziehen, dass Art. 128 AEUV eine Art Kompetenzschranke begründet, die bei der Auslegung von Art. 133 AEUV zu berücksichtigen wäre und die zur Folge hätte, dass andere Zahlungsmittel nicht als gesetzliche Zahlungsmittel anerkannt werden könnten. Eine solche Lesart erscheint aus unterschiedlichen Gründen als deutlich zu weitgehend. Zunächst spricht bereits eine wortlautfixierte Betrachtung beider Artikel hiergegen. So spricht Art. 128 AEUV eben nicht aus, dass nur Euro-Banknoten gesetzliches Zahlungsmittel sein sollen. Vielmehr beschränkt er sich darauf, dass sie im Euroraum die Banknoten sind, denen der Status eines gesetzlichen Zahlungsmittels zukommt. Zentrales Ziel der Regelung war es, den vor der Einführung des Euro existierenden nationalen Banknoten den Status des gesetzlichen Zahlungsmittels dauerhaft zu entziehen. Bei Art. 133 AEUV deutet nicht nur die weite sprachliche Fassung auf eine weitreichende Kompetenz der EU-Organe hin, auch eine Betrachtung, die nach der systematischen Einbettung von Art. 133 AEUV fragt, kommt zu keinem anderen Ergebnis. Denn mit der Einführung eines neuen gesetzlichen Zahlungsmittels werden zum einen die anderen gesetzlichen Zahlungsmittel nicht abgeschafft oder verdrängt; die entsprechenden Wertungen der Verträge werden also nicht überspielt. Zum anderen ist es unmittelbar einleuchtend, dass die nähere Ausgestaltung des Euro in die Hände derjenigen Körperschaft gehört, die für diesen verantwortlich zeichnet, also der Union. 

Im Ergebnis trägt Art. 133 AEUV den Verordnungsentwurf der Kommission. Da die Währungspolitik eine ausschließliche Kompetenz der Union darstellt, findet jedenfalls der kompetenzrechtliche Grundsatz der Subsidiarität, demzufolge die Union wenn sie nicht die ausschließliche Zuständigkeit hat, nur dann handelt, wenn ihre Maßnahmen wirksamer sind als nationale, regionale oder lokale, keine Anwendung.

Der zu verabschiedende Rechtsakt muss vom Rat und vom Europäischen Parlament beschlossen werden. Beide Organe müssen sich im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens einig werden. Die EZB ist in dem Verfahren „nur“ anzuhören (S. 2), kann aber auf diesem Wege ihre Expertise einbringen.

Systemstabilität

Eine Vielzahl der Diskussionspapiere, die von der EZB im Rahmen der Diskussion über die Einführung des digitalen Euro lanciert wurden, beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkungen der digitale Euro auf die Stabilität der Finanzmärkte haben könnte (siehe bspw. hier» und hier»). Diskutiert wird etwa die Frage, ob die Einführung von digitalem Zentralbankgeld die Gefahr von Bank Runs für einzelne Banken erhöhen würde. Unter einem Bank Run lässt sich der plötzliche Liquiditätsabfluss einer Bank verstehen, durch den diese in Zahlungsschwierigkeiten gerät oder gar in die Insolvenz rutscht». Dieses Szenario lässt sich nie ganz ausschließen, denn die von Banken betriebene Finanzintermediation trägt dieses Risiko in sich.1Wegweisend: Diamond/Dybvig, Journal of Political Economy, 1983, 401. Auch im besten aller denkbaren Finanzsysteme ist also die Gefahr eines Bank Runs, der weitere Bank Runs nach sich ziehen kann, nie vollständig auszuschließen. Digitales Zentralbankgeld kann dieses Risiko allerdings erhöhen, weil diese Form des öffentlichen Geldes gerade im Krisenfall als besonders sicher wahrgenommen wird. Schließlich wird digitales Zentralbankgeld genauso wie Bargeld von der Zentralbank garantiert, die eine herausgehobene Stellung im Finanzsystem einnimmt und deren Insolvenz mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Dementsprechend wäre es rational, im (vermuteten) Krisenfall Bankeinlagen umzuschichten, also sie in digitale Euro zu tauschen.

Darüber hinaus ist aber auch die Gefahr einer sogenannten Desintermediation, also eines Bedeutungsverlusts von Geschäftsbanken als klassischen Finanzintermediären, nicht zu leugnen. Sollte es dauerhaft zu einer Umschichtung bestehender Einlagen in digitale Euro kommen, stehen den Banken weniger Einlagen zur Verfügung, weshalb sie dann auch nur noch in einem geringeren Maße ihrer zentralen Intermediationsfunktion nachkommen können, also beispielsweise Einlagen in einen Kredit zu transformieren und so Nachfrage und Angebot nach Kapital zusammenzubringen. 

Wie aber lässt sich der Gefahr eines schnelleren Liquiditätsabflusses aufgrund der Konvertierung von Giralgeld in digitales Zentralbankgeld sowie der Desintermediationsgefahr begegnen? Eine denkbare Lösung besteht in der Zweiteilung der Guthaben in digitalen Euro. So hat Bindseil bereits 2020 in einem Diskussionspapier der EZ ein zweistufiges Vergütungssystem („two-tier remuneration system“) vorgeschlagen. Guthaben in digitalen Euro bis zu einer bestimmten Höhe (als Diskussionspunkt genannt werden 3.000 Euro pro natürlicher Person) könnten frei genutzt werden (tier 1 bzw. Stufe 1). Die Guthaben auf dieser ersten Stufe würden in erster Linie als Zahlungsmittel fungieren. Darüber hinausgehenden Guthaben in digitalen Euro (tier 2 bzw. Stufe 2) käme hingegen allein eine Wertaufbewahrungsfunktion zu, sie könnten nicht (direkt) als Zahlungsmittel genutzt werden. Gleichzeitig könnten diese-Anlagen auf dieser Stufe über Zinsregeln auch so ausgestaltet werden, dass die Attraktivität des digitalen Euro als Wertaufbewahrungsmittel gemindert würde. So könnte Desintermediation und möglichen Bank Runs begegnet werden.

Derzeit wird allerdings insbesondere über einen „Wasserfall-Ansatz“ (waterfall functionality) diskutiert. Dieser ist bereits im Entwurf der Rulebook Development Group der EZB, die Regeln für die Distribution des digitalen Euro ausarbeiten soll, vorgesehen (siehe jüngst hier»). Auch mit diesem Ansatz soll die Menge an digitalen Euro, die eine Person halten darf, begrenzt und damit Bank Runs und Desintermediation vorgebeugt werden. Allerdings unterscheidet sich der „Wasserfall-Ansatz“ deutlich vom zweistufigen Vergütungsmodell. Denn die Guthaben würden hier nicht in zwei „Stufen“ (tiers) eingeteilt. Die Idee ist vielmehr, die Beträge, die über das festgesetzte Maximalvolumen in digitalen Euro hinausgehen, auf ein (mit der „Brieftasche“ für den digitalen Euro verknüpftes) Bankkonto zu überweisen, um so die Einhaltung der (zu definierenden) Höchstgrenzen sicherzustellen. Dieser Ansatz dürfte technisch relativ leicht zu realisieren sein, setzt aber die dauerhafte Verknüpfung von Bankkonto und „Brieftasche“ voraus. Jedenfalls entbindet er die EZB von der im zweistufigen Modell notwendigen und ebenso schwierigen Aufgabe der adäquaten und situationsangepassten Ausgestaltung der zweiten Stufe (sprich: der Anpassung der Zinsen).

Natürlich kommt es hier (und bei anderen Lösungsoptionen) auch stark auf die Umsetzung im Einzelfall an. Deswegen soll die EZB nach dem Verordnungsentwurf zur Sicherung der Finanzstabilität (auch) „Instrumente zur Beschränkung der Nutzung des digitalen Euro als Wertaufbewahrungsmittel“ entwickeln (Art. 16 Abs. 1 dEuroVO-E). Diese Formulierung ist bewusst vage gehalten; nur so kann sie flexible Reaktionen auf schwer antizipierbare Entwicklungen zulassen. Die EZB wird sicher nicht nur die im Verordnungsentwurf erwähnten „Instrumente“ entwickeln, sondern auch fortlaufend anpassen. Gleichzeitig werden die Instrumente klar kommuniziert werden müssen, wenn sie die Akzeptanz des digitalen Euro fördern sollen.

Datenschutz

Gerade in Deutschland, wo Bargeld eine stark freiheitsermöglichende Funktion zugewiesen und auch sonst der Datenschutz (relativ) hochgehalten wird, dürfte sich die Diskussion über den digitalen Euro in Zukunft vor allem um die Gewährleistung eines angemessenes Datenschutzniveaus drehen. Klar ist, dass jede digitale Transaktion in einem höheren Maße für Dritte nachvollziehbar ist als eine Bargeldtransaktion – jede digitale Transaktion hinterlässt elektronische Spuren. Zudem werden beim digitalen Euro große Mengen an Transaktionsdaten anfallen, die relativ leicht Personen zugeordnet werden können. Um den datenschutzrechtlichen Herausforderungen zu begegnen, setzt der Verordnungsentwurf der Kommission zum einen auf die Ermöglichung von Offline-Zahlungen und zum anderen auf weitgehende datenschutzrechtliche Standards.

Mit Offline-Zahlungen werden Transaktionen mit einem geringen Transaktionsvolumen von der digitalen Nachverfolgung ausgenommen, weil sie nicht systematisch erfasst werden. Hiermit wird ein erheblicher Zugewinn an Anonymität erreicht, auch wenn die für die jeweilige Transaktion eingesetzten Endgeräte natürlich ausgelesen werden können, etwa wenn sie beschlagnahmt werden.

Besonders hohe Anforderungen an den Datenschutz müssen allerdings Online-Zahlungen erfüllen, denn deren Transaktionsdaten müssen systematisch gespeichert werden und lassen sich den beteiligten Parteien zuordnen. Der Verordnungsentwurf schafft kein vollständig neues Datenschutzrecht, sondern adaptiert die Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung, die sich – bei allen Streitigkeiten im Detail – grosso modo bewährt haben. Dies bedeutet auch: die aus der Datenschutz-Grundverordnung bekannten datenschutzrechtlichen Grundsätze und Rechtfertigungstatbestände finden Anwendung. Die EZB2Genau genommen trifft diese Pflicht nicht nur die EZB, sondern auch die nationalen Zentralbanken, die Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken sind. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, wird aber hier und im Folgenden jeweils nur die EZB genannt, wenn diese und die nationalen Zentralbanken verpflichtet werden. und die Zahlungsdienstleister nehmen bei der Abwicklung von Transaktionen in digitalen Euro Aufgaben von öffentlichem Interesse wahr (Art. 34 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 dEuroVO-E). Dies schafft einen nach der Datenschutz-Grundverordnung notwendigen Rechtfertigungsgrund für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten. Insoweit verläuft alles weitgehend in den bekannten datenschutzrechtlichen Bahnen.

Der Verordnungsentwurf geht aber über die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung hinaus. So werden in den Anhängen III und IV des Entwurfs all jene personenbezogenen Daten, die im Zusammenhang mit einer Transaktion verarbeitet werden dürfen, abschließend aufgezählt. Weitere Daten dürfen also von vornherein nicht erfasst werden. Deutlich wird hier das Bemühen der Kommission, nur jene Daten zu erfassen, die für die Verarbeitung der Transaktionen dringend erforderlich sind.

Darüber hinaus sind sowohl die Zahlungsdienstleister auf der einen als auch die EZB auf der anderen Seite verpflichtet, „geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, einschließlich modernste[r] Sicherheits- und Datenschutzmaßnahmen“ zu treffen (Art. 34 Abs. 4, 35 Abs. 4 dEuroVO-E). Das ist zwar keine einklagbare Pflicht, aber sehr wohl ein weitgehendes Optimierungsgebot, das fortlaufend zu beachten ist. Zudem soll insbesondere die Identifizierbarkeit der Nutzer:innen erschwert werden. Um nicht direkt identifizierbar zu sein, wird von der EZB eine „klare Trennung der personenbezogenen Daten“ (Art. 35 Abs. 4 dEuroVO-E) verlangt. Die Daten, die Rückschlüsse auf die natürlichen Personen zulassen, sind also getrennt von den Transaktionsdaten zu speichern. Selbst wenn jemand also Zugriff auf die Transaktionsdaten hat, kann sie/er nicht ohne Weiteres nachvollziehen, wer an der Transaktion beteiligt war. Auch hiermit wird ein hohes Maß an Datenschutz gewährleistet.

Die aufgezeigten datenschutzrechtlichen Standards sind also durchaus ambitioniert und es wird bereits aus dem Verordnungsentwurf deutlich, dass die technische Umsetzung fortlaufend weiterzuentwickeln ist. Auch wenn über Einzelheiten gewiss noch politisch gestritten werden wird (und sollte), gelingt dem Entwurf doch grundsätzlich der Spagat zwischen dem technisch-operativ Notwendigen und dem Datenschutz. 

Zu weiterführenden Beiträgen zum Thema im Dossier Digitaler Euro»

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    Wegweisend: Diamond/Dybvig, Journal of Political Economy, 1983, 401.
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    Genau genommen trifft diese Pflicht nicht nur die EZB, sondern auch die nationalen Zentralbanken, die Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken sind. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, wird aber hier und im Folgenden jeweils nur die EZB genannt, wenn diese und die nationalen Zentralbanken verpflichtet werden.
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Autor: Petra Gehring Coinzeit 3000 eFin-Blog Farbe: hellblau

Coinzeit 3000 #6: Metaverse

Ein Beitrag von Petra Gehring

vom 4. Januar 2024

Ich seufze. Mein erster lesender Anlauf, zu verstehen, womit Zuckerbergs Firma Meta in den nächsten Jahren alles revolutionieren will. „Metaverse“: Einerseits geht es um virtuelle Realität, um fancy 3D-Spaß, Helm auf und los. Andererseits hat „alles“ mit Geld zu tun – so jedenfalls Matthew Ball, ehemaliger Chefstratege bei Amazon Studios und derzeit wohl Wirtschaftsjournalist. Das Metaverse, schreibt Ball, werde ein „Unternehmensinternet“ sein, es werde „von privaten Unternehmen mit dem ausdrücklichen Ziel des Handels, der Datenerfassung, der Werbung und des Verkaufs virtueller Produkte entwickelt und aufgebaut.“ (31) Und weiter: „Das Metaverse ist als eine parallele Ebene für menschliche Freizeit, Arbeit und Existenz im weiteren Sinne gedacht.“ (173)

Im zehnten Kapitel seines Buches stellt Ball die These auf, „das zentrale Schlachtfeld“ für das ganze Projekt werde der Kampf darum sein, die dominierende „Zahlungsschiene“ im Metaverse zu werden. Zahlungsdienste stehen gegeneinander, aber auch Spieleplattformen, die einerseits Gebühren­systeme, andererseits Erfolge, Trophäen, Level etc. – also symbolische Guthaben – verwalten (und behalten): im Grunde Vorformen von Zahlungsdiensten oder eigentlich sogar mehr. Denn Spieleplattformen ähneln sozialen Netzwerken, verwalten die spielgebundene Online-Existenz, Freund­schaften und Datenspuren der Aktivitäten ihrer Nutzer:innen. Auch der App Store von Apple ist nicht bloß ein Shop, sondern ein gigantischer Zahlungsintermediär. Das zugrundeliegende Geschäftsmodell sichert Apple 30% des Ertrags, den der Verkauf App-Anbieter:innen einbringt. Billiger wird es, wenn Anbieter:innen sich ihrerseits verpflichten, den Nutzer:innen beim Bezahlen zusätzlich Werbung zu zeigen (Werbezeit, die Apple dann auch wiederum verkauft). So bauen virtuelle Bezahlgeschäftsmodelle aufeinander auf. Und die Endkund:innen zahlen mit Geld und Daten. Firmen wie Apple (mit Apple Pay) oder eben auch Facebook, jetzt Meta, streben eine Art Jokerrolle an: Sie liefern Produktportfolios und zugleich Portfolios von Zahlungswegen. Dass es für einen solchen Universaldienst viel profitabler ist, virtuelle Güter zu verkaufen als Dinge, die man „physisch“ produzieren, versenden und zustellen muss, versteht sich von selbst.

Das Metaverse wiederum? Wäre wohl – habe ich es richtig verstanden – eine Art Riesen-Obervermieter für Dienste, die auf allen möglichen Geräten und Betriebssystemen laufen. Aber ein exklusiv Meta gehörendes 3D-Portal würde genutzt, um in virtuellen Räumen wiederum 3D-Versionen von was auch immer im Netz oder in einer Cloud abspielbar bzw. „besuchbar“ ist, vorzuhalten – zwecks Kaufs oder kostenpflichtiger Teilnahme, kostenpflichtigem Konsum. Ball nennt: Bildung, Lifestyle, Unterhaltung, dazu Sexarbeit und „Mixed-Reality-Orgien“ (263). Er findet das Leistungsspektrum okay, mir scheint es deprimierend. Was könnten Applikationen an noch Hässlicherem vermarkten? Kriege? Sklaverei? Voodoo-Verfluchungen? Gladiatoren? Gehirnwäsche? Folter?

Im relativ besten Fall dürfte es jede Menge Kontrollen, Aufsicht, Überwachung – und neue Kosten – geben, um das zu verhindern.

Matthew Ball: Das Metaverse. Und wie es alles revolutionieren wird (2022). München: Vahlen 2022.

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Autor: Christian Person eFin-Blog Farbe: gelb

Bank Run 2.0: Das Phänomen des Bankensturms im Spiegel des digitalen Wandels

Bank Run 2.0: Das Phänomen des Bankensturms im Spiegel des digitalen Wandels

Ein Beitrag von Christian Person

20. Dezember 2023

Prolog: Das Bankensystem am Abgrund – der Kollaps von Lehman Brothers und die Furcht vor dem Bank Run

„Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, 5. Oktober 2008)1Siehe https://www.spiegel.de/wirtschaft/merkel-und-steinbrueck-im-wortlaut-die-spareinlagen-sind-sicher-a-582305.html

Am Sonntag, dem 5. Oktober 2008, traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück gemeinsam vor die Fernsehkameras und verkündeten mit ernster Miene ein Garantieversprechen für alle Spareinlagen in Deutschland. Was war geschehen? Warum sah sich die Bundesregierung zu einem solch außergewöhnlichen Schritt genötigt?

Im Herbst 2008 erreichte die globale Finanzkrise der Jahre 2007/2008 ihren Höhepunkt. Nach dem Kollaps der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 stand das internationale Finanzsystem am Abgrund. Starke Unsicherheit und Misstrauen prägten das System. Fehlendes Vertrauen zwischen den Finanzinstituten brachte den Interbankenmarkt weltweit zum Erliegen. Diese Vertrauenskrise übertrug sich auch auf die privaten Sparerinnen und Sparer.

In Deutschland beobachteten die zuständigen Behörden einen auffälligen Anstieg von Geldauszahlungen. Insbesondere 500-Euro-Scheine wurden stark nachgefragt. Dies weckte bei den Aufsichtsbehörden die Sorge vor einem möglichen Bank Run, zu Deutsch einem Banken- oder Schaltersturm. Dass dies keineswegs ein bloß hypothetisches oder allenfalls historisch relevantes Szenario aus Zeiten der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre war, verdeutlichten die noch frischen Erinnerungen an den Fall der britischen Bank Northern Rock. Schließlich war es gerade einmal ein Jahr her, dass sich die Kundschaft dieser Bank, die infolge des Platzens der Immobilienblase in den USA in Turbulenzen geraten war, in langen Schlangen vor den Filialen versammelte, um ihre Einlagen abzuziehen. Womit sich die Probleme der Bank verschärften. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, gaben Merkel und Steinbrück die erwähnte politische Erklärung ab. Die Zusicherung, dass alle Spareinlagen sicher seien, sollte die Sparerinnen und Sparer beruhigen. Ob dieses Versprechen im Fall der Fälle überhaupt hätte eingelöst werden können, ist eine offene Frage. Aber es genügte, um das nötige Vertrauen herzustellen und einen Bank Run zu verhindern.

15 Jahre nach der globalen Finanzkrise kam es zu Beginn dieses Jahres erneut zu Turbulenzen im US-Bankensektor. Nachdem zahlreiche Kundinnen und Kunden innerhalb kürzester Zeit Einlagen in beachtlicher Höhe abgezogen hatten, gerieten mehrere US-Regionalbanken, die Silicon Valley Bank, die First Republik Bank und die Signature Bank, ernsthaft in die Bredouille. Die amerikanische Regierung reagierte entschlossen, indem sie Kundeneinlagen bei den betroffenen Banken vollständig garantierte und zusammen mit der US-amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve, Kreditlinien zur Stützung der Banken bereitstellte.2FAZ vom 14.03.2023, S. 1.. Zeigten sich auch hier typische Elemente eines Bank Runs – schwindendes Vertrauen und schneller Abzug von Einlagen – war dieses Mal doch etwas anders: vor den Filialen bildeten sich kaum lange Schlangen; zeitintensives Anstehen am Schalter, um die eigenen Einlagen zurückzuerhalten, schien diesmal die Ausnahme zu sein. Nach Ansicht zeitgenössischer Beobachter handelte es sich hierbei um den ersten Fall eines digitalen Bank Runs.3Vgl. Berliner Zeitung vom 30.03.2023, S. 16; Handelsblatt vom 21.03.2023, S. 30.

Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, wie sich das Phänomen des Bank Runs durch die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verändert und ob sich dadurch die Gefahr entsprechender Ereignisse erhöht. Hierzu wird in drei Schritten vorgegangen: In einem ersten Schritt wird der klassische Ablauf eines Bankensturms skizziert. Anschließend wird dargestellt, wie sich der digitale Wandel auf das Phänomen Bank Run auswirkt. Abschließend werden mögliche Lösungsoptionen aufgezeigt.

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – der klassische Ablauf eines Bank Runs

Eine zentrale Funktion von Geschäftsbanken ist die Fristentransformation: Banken sammeln potenziell kurzfristig verfügbare Einlagen von Sparerinnen und Sparern ein und vergeben diese als langfristige Kredite an Kreditinteressentinnen und -interessenten. Lediglich ein Bruchteil der gesammelten Einlagen wird als Liquiditätsreserve vorgehalten, um den täglichen, in der Höhe schwankenden Auszahlungswünschen der Kundinnen und Kunden nachkommen zu können. Große Teile der Einlagen werden als Kredite weitergereicht und sind somit langfristig gebunden. Eine Bank verfügt also nie über ausreichend liquide Mittel, um all ihre Einlagen gleichzeitig auszahlen zu können. Über der Bank schwebt somit permanent das Damoklesschwert des sprunghaften Einlagenabzugs und damit zusammenhängend die Gefahr eines Liquiditätsengpasses. Da üblicherweise nicht alle Sparerinnen und Sparer gleichzeitig ihre Einlagen auflösen möchten, ist das im Normalfall unproblematisch. Es genügt den Kundinnen und Kunden, zu wissen, dass sie jederzeit auf ihr Geld zugreifen könnten.

Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit von Banken ist somit essentiell für die Stabilität des Finanzsystems. Die Grundfunktion der Fristentransformation kann nur dann dauerhaft durch die Banken erbracht werden, wenn deren Kundschaft darauf vertraut, dass die Banken jederzeit fähig sind, ihren Verpflichtungen nachzukommen, d.h. bei Bedarf Einlagen aufzulösen und Auszahlungen zu leisten. Ohne Vertrauen bricht dieser Mechanismus zusammen. Vertrauen ist die zentrale Währung des Bankgeschäfts, das Prinzip der Fristentransformation aber anfällig für plötzlichen Vertrauensverlust.

Grundlage eines Bank Runs ist daher stets eine Vertrauenskrise, ein plötzlich auftretendes Misstrauen in die Zahlungsfähigkeit eines Finanzinstituts. Sobald Sparerinnen und Sparer Zweifel daran haben, ob sie im Falle der Fälle ihre gesamten Einlagen zurückerhalten, beginnen sie, diese panisch abzuziehen. Sobald andere Bankkundinnen und -kunden sich dieses Verhaltens gewahr werden, werden sie nachziehen; es kommt zu verhaltensbezogenen Ansteckungseffekten. Wenn aus Sorge um ihr Erspartes viele Sparerinnen und Sparer gleichzeitig ihre Sparguthaben auflösen möchten, kann eine Bank unter diesem Ansturm zusammenbrechen und in die Pleite rutschen: ihre Sicherheitsreserve wird überlastet  und mangels ausreichend liquider Mittel, können nicht alle Einlagen gleichzeitig aufgelöst und ausgezahlt werden. Dies gilt selbst für solche Banken, die im Kern gesund sind.

Dabei handelt es sich aus Sicht des einzelnen Individuums um durchaus rationales Verhalten, wie eine spieltheoretische Betrachtung nahelegt. Spieltheoretisch handelt es sich bei einem Bank Run um ein klassisches Koordinationsspiel, das sogenannte Gefangenendilemma: alle Beteiligten profitieren von koordiniertem Verhalten. Im Normalzustand, wenn die Zahlungsfähigkeit der Bank nicht grundsätzlich in Frage steht, ist es individuell rational, der Bank zu vertrauen, solange alle anderen sich ebenso verhalten. Alle haben so immer dann Zugriff auf ihre Einlagen, wenn sie sie benötigen. Hierbei handelt es sich allerdings um ein labiles Gleichgewicht: Denn wird die Zahlungsfähigkeit der Bank plötzlich bezweifelt und erwartet, dass alle ihre Einlagen möglichst schnell auflösen möchten, dann ist es aus Sicht des einzelnen Kunden/der einzelnen Kundin rational, sich selbst der oder die Nächste zu sein und zu versuchen, seinen/ihren Konkurrenten möglichst zuvorzukommen. Es gilt zu agieren, solange die Bank noch liquide ist. Diejenigen, die als Erstes ihre Einlagen abziehen, können noch bedient werden. Für die übrigen gilt: den Letzten beißen die Hunde. Aus kollektiver Sicht ist ein Bank Run jedoch irrational:  eine möglicherweise grundsätzlich solide Bank wird in die Zahlungsunfähigkeit getrieben, ihre Kundschaft schadet sich letztlich selbst. Individuell rationales Verhalten führt somit zu kollektiver Irrationalität: Würden sich trotz Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit einer Bank alle Kundinnen und Kunden gedulden und die geordnete Rückzahlung ihrer Einlagen abwarten, käme es überhaupt nicht zu einem Zusammenbruch der Bank. Alle Sparerinnen und Sparer würden ihr Geld zurückerhalten, sobald die Kredite an die Bank zurückgezahlt wären. Ein Bank Run ist somit ein Musterbeispiel einer selbsterfüllenden Prophezeiung: eine ursprünglich falsche Situationswahrnehmung führt zu Handlungen, in deren Konsequenz die vormals unzutreffende Beschreibung der Wirklichkeit erst wahr wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Sturm auf eine einzelne Bank schnell auf andere Banken überschwappen und systemische Auswirkungen entfalten kann. Denn in einer solchen Situation würde eine Bank zunächst versuchen, Vermögenswerte zu veräußern, um frische liquide Mittel zu generieren. Schreitet die Krise voran, ist dies nur noch mit Preisabschlägen möglich. Folglich müssen die eigenen Aktiva neu bewertet werden; es kommt zu Wertberichtigungen und Verlusten. Dies schränkt wiederum ihre Fähigkeit ein, neue Kredite zu vergeben; eine Kreditvergabe kann nur noch zu restriktiveren Bedingungen erfolgen, der Kreditfluss an die Unternehmen kommt ins Stocken. Auch untereinander leihen sich die Banken weniger oder gar kein Geld mehr. Die Panik wirkt auch hier ansteckend, selbst gesunde Banken können davon betroffen sein. Der somit ausgetrocknete Interbankenmarkt provoziert neue Pleiten im und außerhalb des Bankensektors, überträgt sich letztlich auf die Realwirtschaft und kulminiert schlimmstenfalls in einer Banken- und Wirtschaftskrise.

„Bank Run 2.0“: Bankensturm unter veränderten Rahmenbedingungen – die dunkle Seite der Digitalisierung des Bankwesens

In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Art und Weise, wie Bankgeschäfte durchgeführt werden, durch die Digitalisierung massiv verändert. Diese Veränderungen wirken sich sowohl auf die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch den konkreten Ablauf eines Bank Runs aus, weshalb diesbezüglich vom Phänomen des „Digitalen“ Bank Run gesprochen wird. An Warnungen vor digitalen Bankenstürmen hat es in den vergangenen Jahren nicht gefehlt, insbesondere in Zusammenhang mit digitalem Zentralbankgeld (CBDC) oder daran gekoppelten Kryptowährungen (Stablecoins). Doch was grenzt diese Spielart des Bank Run von seiner klassischen Variante ab und macht ihn besonders?

Ein wichtiger Aspekt ist das veränderte Kommunikationsverhalten moderner Gesellschaften. Die anhaltende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft geht mit einer zunehmenden Vernetzung der Menschen im Rahmen sozialer Medien einher. Informationen verbreiten sich heutzutage in Windeseile, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Information. Das Tempo der Informationsverbreitung hat dabei in den letzten Jahren stetig zugelegt. Selbstverständlich gilt dies auch für die Finanzwelt. Die Kundschaft der Finanzinstitute ist mittlerweile hochgradig vernetzt und tauscht sich niedrigschwellig und in Echtzeit über Finanzthemen aus. Zweifel an der Stabilität und Zahlungsfähigkeit einer Bank lassen sich in Sekundenschnelle via Social-Media-Post veröffentlichen und können sich schlimmstenfalls wie ein Lauffeuer verbreiten. Dabei ist es unerheblich, ob diese Zweifel echt sind oder in böswilliger Absicht (Fake News, Gerüchte, Desinformation) geäußert wurden, um einer Bank zu schaden. Wie bereits geschildert, ist das Geschäftsmodell der Banken durch die Praxis der Fristentransformation inhärent instabil und fragil; Vertrauen ist der zentrale Pfeiler des Systems. Die verbreitete Nutzung von sozialen Medien kann bestehende Vertrauensstrukturen im Bankensystem unterminieren und erleichtert es, das Misstrauen zu schüren, das Bankenstürme erst entstehen lässt. Wie real diese Gefahr ist, zeigt der Fall der Silicon Valley Bank, die im Frühjahr 2023 infolge eines blitzartigen Einlagenabzugs durch ihre Kundschaft zusammenbrach. Der rasante Abzug von Einlagen wurde durch Äußerungen in den sozialen Medien beschleunigt. Auf Twitter wurde munter über Zahlungsausfälle einzelner Kreditinstitute spekuliert und damit Öl ins Feuer gegossen. Der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank gilt daher als erster Bank Run, der durch soziale Medien ausgelöst wurde.4Vgl. Berliner Zeitung vom 30.03.2023, S. 16; Handelsblatt vom 21.03.2023, S. 30.

Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Prozessdimension des Bankwesens. Aus Sicht der Endkundinnen und -kunden reduziert sich durch die zunehmende Digitalisierung des Bankgeschäfts und den rasanten technologischen Wandel im Finanzsektor sowohl der Aufwand, den es erfordert, eine Geschäftsbeziehung mit einem Kreditinstitut anzubahnen, als auch der Aufwand, um Finanztransaktionen durchzuführen. Ein Konto bei einer neuen Bank ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger schnell und mit überschaubarer Anstrengung eröffnet, auch mehrere Bankkonten bei verschiedenen Kreditinstituten zu führen, ist kein Hexenwerk. Und dank Online-Banking und Smartphone lässt sich Geld jederzeit mit ein paar Mausklicks schnell und unkompliziert zwischen Finanzinstituten hin und her schieben. Im Falle einer Vertrauenskrise müssen Sparerinnen und Sparer daher nicht mehr stunden- oder gar tagelang in langen Schlangen vor den Bankfilialen ausharren, um sich ihre (kurzfristigen) Einlagen auszahlen zu lassen. Vielmehr erlauben es die digitalisierten Geschäftsmodelle der Banken  Kundinnen und Kunden mit einigen wenigen Klicks ihre Sichteinlagen in Windeseile abzuziehen, indem sie diese zu anderen Finanzinstituten transferieren. Den Banken wird in kürzester Zeit ihre Geschäftsgrundlage entzogen. Bank Runs dauern anders als früher nicht mehr Tage oder gar Wochen, sondern im Extremfall nur wenige Stunden. So erging es der bereits genannten Silicon Valley Bank: innerhalb von gerade einmal fünf Stunden verlor sie 42 Milliarden US-Dollar an Einlagen! Angesichts des blitzartigen und dramatischen Einlagenabzugs, der bei der Silicon Valley Bank zu beobachten war, sprach Andrea Enria, Vorsitzender des Aufsichtsgremiums der Europäischen Zentralbank, von der dunklen Seite der Digitalisierung, denn eine solche Geschwindigkeit des Einlagenabzugs habe es zuvor nicht gegeben.5Vgl. FAZ vom 03.05.2023, S. 23. Banken müssen sich daher darauf einstellen, dass ihre (kurzfristig fälligen) Einlagen in Zeiten des Online-Bankings weniger verlässlich sind als zu Zeiten, als das Bankgeschäft noch weitgehend analog und traditionell ablief.

Lösungsoptionen – wie lassen sich Bankenstürme eindämmen?

Um das Risiko und das Gefährdungspotential von Bank Runs wirksam einzudämmen, stehen dem Staat kurz- und langfristige Maßnahmen zur Verfügung. Lässt sich in einer akuten Krise ein panikartiger Abzug von Bankeinlagen beobachten, gilt es vor allem, Vertrauen zu schaffen. Um bei den Sparerinnen und Sparern den Glauben an die Sicherheit ihrer Einlagen zu stützen oder wiederherzustellen, kann eine staatliche Garantie für die Sparguthaben ausgesprochen werden, entweder für einzelne Finanzinstitute, wie es die US-amerikanische Regierung im Frühjahr 2023 getan hat, oder generell wie im einführend genannten Fall der deutschen Bundesregierung im Herbst 2008. Flankierend kann die Notenbank dem Bankensystem zusätzliche Liquidität bereitstellen, indem sie beispielsweise qua eines sogenannten Schnelltender innerhalb weniger Stunden Geldmittel an Banken auktioniert oder den Kreis der Wertpapiere ausweitet, den sie als Sicherheit für die Bereitstellung von Notenbankgeld akzeptiert. Dadurch soll die Kreditvergabe zwischen Banken sichergestellt und ein Austrocknen des Interbankenmarktes verhindert werden. Als ultima ratio kann der Staat auch die Höhe von Auszahlungen auf einen fixen Betrag pro Tag begrenzen oder sogenannte Bankfeiertage/Bankferien (eine euphemistische Bezeichnung für die zeitweilige Schließung der Geschäftsbanken) verordnen, um den Abfluss von Einlagen zu begrenzen. Letzteres kommt einem partiellen und temporären Einfrieren der Bankkonten gleich, geht allerdings auch mit massiven Verwerfungen des Geschäftslebens einher.

Mittel- und langfristig sind verschiedene regulatorische Maßnahmen denkbar, um das Risiko eines Bankensturms zu begrenzen. Ein wichtiges Instrument stellt hierbei eine Einlagensicherung dar, durch die der Glaube der Sparerinnen und Sparer an die Sicherheit ihrer Einlagen gestärkt wird. Diese Einlagensicherung kann durch die Banken selbst oder staatlich erfolgen und der Höhe nach begrenzt sein. Im ersten Fall garantiert eine Gruppe von Banken die Einlagen bei ihren Mitgliedsbanken. Hierzu leisten sie regelmäßig Beiträge in einen Sicherungstopf, aus dem im Falle der Insolvenz einer Bank deren Kundschaft entschädigt wird.6In Deutschland haben sowohl die Sparkassen als auch die Genossenschaftsbanken sowie die privaten Banken separate Einlagensicherungssysteme, mit denen die Einlagen der Kunden, auch über die gesetzlich garantierte Einlagensicherung hinaus, garantiert werden. Allerdings ist zu beachten, dass diese privaten Sicherungssysteme schnell an ihre Grenzen stoßen, sollten mehrere und/oder große Banken von einem Bankensturm betroffen sein. Die zweite Option ist eine gesetzliche Einlagensicherung durch den Staat, die jedoch in der Regel der Höhe nach begrenzt ist: in Deutschland auf einen Maximalbetrag von 100.000 Euro Einlagen pro Kunde/Kundin je Institut, in den USA auf 250.000 US-Dollar. Die betragsmäßige Begrenzung birgt allerdings das Risiko, dass auch das Vertrauen der Kunden auf den gesetzlich geschützten Einlagenbetrag beschränkt bleibt. Entsprechend ließ sich beim Zusammenbruch der Silicon Valley Bank beobachten, dass erst Einlagen oberhalb der gesetzlichen Sicherungsgrenze abgezogen wurden. Eine Lösung könnte die Ausweitung der staatlichen Einlagensicherung sein, also die Erhöhung bestehender Grenzwerte. Speziell im EU-Kontext wird auch die Idee einer länderübergreifenden Einlagensicherung verfolgt. Durch sieh entstünde ein gemeinsames europäisches Rückversicherungssystem, das die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der bestehenden nationalen Einlagensicherungssysteme in Ausgleich bringen könnte.7Eine gemeinsame Einlagensicherung wäre neben gemeinsamer Bankenaufsicht und dem sogenannten gemeinsamen Abwicklungsmechanismus potenziell die dritte Säule der Bankenunion. Aktuell kann das Fehlen einer solche europaweit harmonisierten Einlagensicherung die Gefahr von Bank Runs verschärfen, da Sparerinnen und Sparer in unterschiedlichen EU-Staaten die Sicherheit ihrer Einlagen unterschiedlich wahrnehmen. Beide Maßnahmen sollen präventiv wirken. Im Gegenzug dürften die Banken mit höheren Kosten belastet werden, sofern sie in entsprechende Absicherungsfonds einzahlen müssten. Aber Garantien dieser Art könnten auch Fehlanreize auf Seiten der Kundschaft, sogenannte moral hazard-Risiken, verstärken, da die Sparerinnen und Sparer versucht sein könnten, die Solidität und Vertrauenswürdigkeit ihrer Hausbanken nicht mehr so genau zu prüfen.

Insbesondere angesichts des rasanten Einlagenabzugs bei den Bankturbulenzen zu Beginn dieses Jahres und ob der Tatsache, dass Kunden ihre Sichteinlagen heutzutage mit wenigen Klicks verschieben können, stellt sich zudem die Frage, ob die geltenden Liquiditätsregeln noch zeitgemäß sind. Zwar unterliegen Finanzinstitute derzeit diversen quantitativen und qualitativen Liquiditätsanforderungen, die sicherstellen sollen, dass Banken auch in einer Stresssituation über einen längeren Zeitraum hinweg über ausreichend Liquidität verfügen. Allerdings, so bemängeln die Aufsichtsbehörden, wird in den Modellen zur Berechnung der Liquiditätspuffer nicht berücksichtigt, wie viel schneller Einlagen inzwischen in Krisen abgezogen werden könnten. Dass in der vergangenen Niedrigzinsphase die Kundinnen und Kunden der Banken ihre Sparguthaben verstärkt in Sichteinlagen umgeschichtet haben, hat in Kombination mit der Schnelligkeit des heutigen Bankwesens zu einer „doppelte[n] Verletzlichkeit im System [geführt]: eine höhere Geschwindigkeit von Abflüssen und viel mehr Sichteinlagen als in der Vergangenheit“, wie Bafin-Chef Mark Branson warnt.8Vgl. Handelsblatt online vom 05.07.2023, URL: https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/nach-bankenturbulenzen-im-maerz-finanzaufsicht-bafin-prueft-hoehere-liquiditaetspuffer-fuer-banken/29238806.html. Vieles spricht daher dafür, die bestehenden Vorgaben für Liquiditätspuffer rasch nachzuschärfen, um die aus dem Geschäft der Fristentransformation resultierenden Risiken durch eine wirksamere Liquiditätsregulierung besser einzugrenzen und an die neuen Gegebenheiten anzupassen.

Vor dem Hintergrund der besonderen Rolle, die soziale Medien bei den oben aufgeführten Bankturbulenzen gespielt haben, wäre indes auch zu überlegen, das Monitoring sozialer Medien in den Aufgabenkatalog der Aufsichtsbehörden zu integrieren. So forderte es jüngst Bundesbank-Chef Joachim Nagel.9FAZ vom 20.07.2023, S. 23. Dadurch könnten blinde Flecken der bestehenden Aufsicht reduziert und eine frühzeitige Risikoerkennung ermöglicht werden. Denn wenn einzelne Finanzinstitute unter einer schwelenden Vertrauenskrise leiden, die Situation also bereits angespannt ist, können Äußerungen in sozialen Medien, mögen sie echter Besorgnis entspringen oder schlicht Fake News sein, wie ein Brandbeschleuniger wirken und einen Bankensturm auslösen oder verstärken. Darüber hinaus wären die Aufsichtsbehörden gut beraten, ihre regelmäßigen Stresstests um neue Szenarien zu ergänzen, die auch die Gefahr digitaler Bankenstürme abbilden.

Auch eine Stärkung der Eigenkapitalbasis der Finanzinstitute könnte dazu beitragen, das Gefahrenpotential eines Bankensturms zu begrenzen. Zwar bedeutet eine höhere Eigenkapitalausstattung nicht per se, dass eine Bank einer Liquiditätskrise besser widerstehen kann. Schließlich sagt sie nichts darüber aus, wie liquide die Aktiva einer Bank sind. Dennoch kann mehr Eigenkapital das Vertrauen – die härteste Währung der Finanzwelt – der Anleger- und Kundschaft stärken, dass sie im Falle von Liquiditätsproblemen ihr Geld zurückbekommen, zumindest irgendwann. Außerdem reduziert eine bessere Eigenkapitalausstattung der Banken das Risiko, dass staatliche Liquiditätshilfen zu Verlusten führen. Dies dürfte es dem Staat erleichtern, in einer Bankenkrise notleidenden Banken beizuspringen und entsprechende Hilfen aufzulegen.

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Bilder: 1. Andrang vor einer Berliner Sparkasse (Mühlendamm) nach dem Zusammenbruch der Darmstädter- und Nationalbank  im Juli 1931 (Bundesarchiv, Bild 102-12023 / Georg Pahl) / 2. Unsplash/Markus Spiske

  • 1
    Siehe https://www.spiegel.de/wirtschaft/merkel-und-steinbrueck-im-wortlaut-die-spareinlagen-sind-sicher-a-582305.html
  • 2
    FAZ vom 14.03.2023, S. 1.
  • 3
    Vgl. Berliner Zeitung vom 30.03.2023, S. 16; Handelsblatt vom 21.03.2023, S. 30.
  • 4
    Vgl. Berliner Zeitung vom 30.03.2023, S. 16; Handelsblatt vom 21.03.2023, S. 30.
  • 5
    Vgl. FAZ vom 03.05.2023, S. 23.
  • 6
    In Deutschland haben sowohl die Sparkassen als auch die Genossenschaftsbanken sowie die privaten Banken separate Einlagensicherungssysteme, mit denen die Einlagen der Kunden, auch über die gesetzlich garantierte Einlagensicherung hinaus, garantiert werden.
  • 7
    Eine gemeinsame Einlagensicherung wäre neben gemeinsamer Bankenaufsicht und dem sogenannten gemeinsamen Abwicklungsmechanismus potenziell die dritte Säule der Bankenunion. Aktuell kann das Fehlen einer solche europaweit harmonisierten Einlagensicherung die Gefahr von Bank Runs verschärfen, da Sparerinnen und Sparer in unterschiedlichen EU-Staaten die Sicherheit ihrer Einlagen unterschiedlich wahrnehmen.
  • 8
  • 9
    FAZ vom 20.07.2023, S. 23.
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Autor: Tom Leonhardt eFin-Blog Farbe: blau

Simmels Erbe im Zeitalter des Digitalen: Neue Perspektiven auf Geld

Simmels Erbe im Zeitalter des Digitalen: Neue Perspektiven auf Geld

Ein Beitrag von Tom Leonhardt

7. Dezember 2023

Die Rolle des Geldes in unserer Gesellschaft ist ambivalent. Als Wertträger und Tauschobjekt weitet es Handelsmöglichkeiten aus, stärkt unseren Wohlstand und löst Begehrlichkeiten aus. Logisch, es präsentiert sich als Mittel zur Erfüllung unserer Träume. Gleichzeitig bringt es aber auch einen entfremdenden Effekt mit sich, wenn es in seinem Wert überschätzt wird, zum Selbstzweck verkommt und den Blick auf natürliche Wertvorstellungen verstellt. Entwickeln wir als Gesellschaft anders geartete, nämlich digitale Geldformen, jetzt wo der digitale Raum von großen Teilen der Gesellschaft erschlossen ist und die einhergehenden Möglichkeiten zunehmend ausgeschöpft werden können, ergeben sich damit Chancen wie Risiken. Im Hinblick auf das technische Design der neuen Geldformen sind die Möglichkeiten vielfältig und die Weichen der Ausgestaltung noch nicht gestellt.

Um den Blick für die Ausgestaltungsmöglichkeiten und die damit einhergehenden ambivalenten Wirkungen digitalen Geldes zu schärfen, lohnt es, dieses gedanklich kurz beiseitezulegen, den Blick zunächst auf grundlegende Fragen zu werfen und mit dem Soziologen Georg Simmel zu fragen: wie funktioniert Geld, woraus entspringt der ökonomische Mehrwert und inwiefern beeinflusst es subtil auch unser subjektives Erleben. Abschließend soll zum Spekulieren eingeladen werden: Inwiefern hilft die kritische Perspektive Simmels auf das Geld und könnten aus dieser heraus auch andere Potenziale digitalen Geldes sichtbar oder entwickelt werden?

Als Symbol für die Objekte unserer Begierde entfaltet sich Geld in einem zweistufigen Symbolisierungsprozess

Ein facettenreicher Zugang zum Thema Geld findet sich bei dem Soziologen und Philosophen Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes (1900), in der sowohl die Funktionalität des Geldes als auch  dessen kultureller Einfluss erläutert wird. In wenigen Worten zusammengefasst stellt Simmel fest, dass Geld über die Nutzung als Tauschobjekt einen von seiner Materialität unabhängigen, eben „nominalistischen Wert“ erhält, der sich daraus speist, dass es gegen andere Güter eintauschbar ist. Als solches Tauschobjekt stellt Geld eine Art abstrakte Repräsentation unserer Werte und Bedürfnisse dar und kann zwischen verschiedenen Wertvorstellungen vermitteln. Sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner gemeinsamen Interesses eröffnet es neue Handels- und Produktionsmöglichkeiten. Mit dem ökonomischen Mehrwert geht aber auch eine Bedeutungsverschiebung der produzierten Güter einher und es verändert sich die Art und Weise, wie wir Menschen zur Erfüllung unserer Wünsche wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Damit droht die Gefahr, dass das Geld zunehmend zwischenmenschliche Interaktion ersetzt, mehr Raum in unserem Denken einnimmt und letztlich zum Selbstzweck verkommt.

Der nominalistische Wert des Geldes, und die Zusammenhänge, aus denen sich dieser ergibt, ist ein guter Ausgangspunkt für weiterführende Gedanken. Er kristallisiert sich bei Simmel logisch-systematisch in einem zweistufigen Prozess heraus: 1) Ursprung der Wertzuweisung ist der einzelne Mensch. Dieser bewertet die ihn umgebenden Objekte auf ihr Potenzial hin, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Durch die subjektive Einschätzung des Wertes der Dinge, ergibt sich im Vergleich dieser eine Art ordinaler Bewertungsskala, über die sie eine erste Sortierung finden. 2) Im zweiten Schritt erfolgt eine Vergesellschaftung der individuellen Wertzuschreibungen. Indem das Geld als Transaktionsmittel wiederholt in Tauschprozessen genutzt wird, ergibt sich aus den Abwägungen, für wieviel Geld ein Gut eingetauscht werden soll, ein marktüblicher Preis. Es folgt eine Art absoluter Bewertungsskala, in welcher der Wert der Wert der Dinge numerisch bestimmbar wird. Simmel dazu:

„[D]as bloße Begehren eines Objektes [führt] noch nicht dazu, daß dieses einen wirtschaftlichen Wert hat – denn es findet sich allein nicht das hierfür erforderliche Maß:
erst die Vergleichung der Begehrungen, d.h. die Tauschbarkeit ihrer Objekte, fixiert
jedes derselben als einen seiner Höhe nach bestimmtem, also wirtschaftlichem Wert.“

Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 76.

Um im Folgenden auf diese Gedanken Bezug nehmen zu können, soll mit: „(1)“ und „(2)“ auf die individuellen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen in Simmels Symbolisierungsprozess Bezug genommen werden. Ein Pfeil „(1->2)“, „(1<-2)“ bezeichnet den wechselseitigen Einfluss dieser Wertinstanzen, der sich beim Handeln und Nachdenken über Geldwerte einzelner Objekte ergibt.

Zwei ergänzende Facetten: Informationsverlust und Nutzen des Geldes

Im Hinblick die Möglichkeiten digitalen Geldes und für das Verständnis der im nächsten Abschnitt dargestellten vor- und nachteiligen Auswirkungen von diesem auf gesellschaftlicher Ebene sind zwei weitere Aspekte interessant. Bei dem Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann fällt in Die Wirtschaft der Gesellschaft“ (1988) ein Begriff, der einen bestimmten Aspekt der oben geschilderten Zusammenhänge unterstreicht. Luhmann stellt fest, dass in der preismäßigen Wertdarstellung der Dinge durch Geld (1->2) eine irreversible Informationsreduktion stattfinde. Der Preis finde seinen Ausgangspunkt zwar in den Eigenschaften eines Objektes (Seltenheit, Nützlichkeit o.Ä.), vom Preis ausgehend könne aber nicht rückwirkend auf die verursachenden Qualitäten geschlossen werden1Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019, S. 17f.). In dieser Diagnose einer irreversiblen Informationsreduktion des materiellen Geldes liegt eine Ursache für die im nächsten Abschnitt geschilderten gesellschaftlichen Probleme, die das Geld mit sich bringt und bietet gleichzeitig eine Chance für digitales Geld, mittels zusätzlicher Informationen, die es möglicherweise liefert, sie zu entschärfen. Für diese Überlegung soll im letzten Abschnitt Platz sein.

Geläufigen Darstelllungen zufolge – beispielsweise der EZB2Vgl. Geld und Geldpolitik. 1.2 Funktionen des Geldes, Europäische Zentralbank: https://www.geld-und-geldpolitik.de/funktionen-und-formen-des-geldes-kapitel-1.html – erfüllt Geld grundlegend drei Funktionen: es wird zum Tauschen und Bezahlen, zur Wertaufbewahrung und zum Wertmessen genutzt. Praktikabel ist es dafür aufgrund seiner numerischen Darstellungsform (die es mathematisierbar macht) und seiner Unverderblichkeit. Außerdem löst es das beim Handeln auftretende Problem der doppelten Koinzidenz: Würde man ein begehrtes Buch statt gegen Geld direkt für ein Gemälde eintauschen wollen, müsste jemand gefunden werden, der gleichzeitig am Angebotenen interessiert ist und das Gewünschte vorrätig hat. Mit dem Geld als Tauschmittel kann hingegen flexibel über eine dritte Person zwischengehandelt werden.

Die Kehrseiten der Medaille – Ökonomische Vorteile des Geldes und die Gefahren der Entfremdung

Die mit der Existenz des Geldes einhergehenden Folgen werden bei Simmel über die Teilung in eine objektive und subjektive Kulturwelt deutlich. Ihm zufolge führt das Geld zu einer Intensivierung des ökonomischen Treibens, in dessen Folge neue Werkzeuge und Technologien geschaffen werden, die zum Voranschreiten der objektiven Kulturwelt beitragen. Im Kontrast dazu lässt sich die subjektive Kulturwelt, die als Begriff das Interpretationsvermögen der Menschen, ihr Verständnis der philosophischen Zusammenhänge und ihre Erlebensperspektive reflektiert, nicht gleichermaßen beschleunigen. Um den drohenden Missstand zu erläutern, gibt Simmel drei Beziehungsebenen an, auf die Geld Einfluss ausübt: die von Mensch zu Mitmensch, von Mensch zu Sachgut und von Mensch zum eigenen Wertesystem. Spannend ist, dass sich auf diesen Ebenen die Vorteile für die objektive Kulturwelt mit den Nachteilen der subjektive Kulturwelt kontrastieren lassen.

Geld beeinflusst zwischenmenschliche Beziehungen

Im Hinblick auf die Vorzüge, die das Geld im zwischenmenschlichen Bereich im Hinblick auf die objektive Kulturwelt mit sich bringt, stellt Simmel fest:

„Je mehr Menschen miteinander in Beziehung treten, desto abstrakter und allgemeingültiger muß ihr Tauschmittel sein; und umgekehrt, ist erst einmal ein solches geschaffen, so gestattet es eine Verständigung auf sonst unzugängliche Entfernung hin, eine Einbeziehung der allermannigfaltigsten Persönlichkeiten in die gleiche Aktion, eine Wechselwirkung und damit Vereinheitlichung von Menschen, die wegen ihres räumlichen, sozialen, personalen und sonstigen Interessenabstandes in garkeine andere Gruppierung zu bringen wären“

Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S.470.

Hier zeigt sich, dass Geld als kleinster Nenner gemeinsamen Interesses interpretiert werden kann, aus dessen Existenz sich verbesserte Kooperationsmöglichkeiten ergeben. Mit Simmel folgt durch diese Vereinheitlichung der Menschen eine Verdichtung und Intensivierung der Handelsverflechtungen und Arbeitsteilungen. Insbesondere können Freiheiten und Wohlstand folgen. Es gibt aber eine Kehrseite der Medaille, die sich in der subjektiven Erlebenswelt zeigt.

„Das Geld […] schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es lässt die Menschen außerhalb derselben, es ist das genaue Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen“

Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 404.

Das Geld verändert die Art und Weise, inwiefern wir Menschen zur Erfüllung unserer Wünsche aufeinander angewiesen sind. Dabei wird es häufig zum „Maß der Dinge“, persönliche Beziehungen hingegen werden zurückgedrängt. Es schleicht sich die Gefahr einer zwischenmenschlichen Entfremdung ein, teilweise mit weitreichenden Folgen. Moralisches findet beispielsweise weniger Berücksichtigung, wenn über das Geld bereits alles gesagt zu sein scheint.

Die wachsende Kluft zwischen der objektiven und subjektiven Kulturwelt drängt das Geld in den Mittelpunkt

Ökonomisch betrachtet bringt das Geld durchweg Vorteile mit sich. Die gesteigerte Produktion verändert aber auch die subjektive Bedeutung der Güter. Aus ein paar Besitzgegenständen werden zunehmend viele. Es ergeben sich Freiheiten, aber das Verständnis der geschaffenen Dinge verringert sich. Mit Simmels Worten:

„Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern.“

Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S.621f.

Im Endeffekt, das ist eine der zentralen Botschaften der Philosophie des Geldes, öffnet sich eine Kluft zwischen der voranschreitenden objektiven und der subjektiven Kulturwelt, weil sich das Geld als Katalysator zur Produktion, aber nur kaum zur Ausdifferenzierung der geistigen Perspektive eignet. Der Prozess der Wertbildung (1->2) wird gestört, was Orientierungslosigkeit auslöst. Es droht die Gefahr, dass Geld in seiner Rolle als Mittel aller Mittel zunehmend zum Selbstzweck verkommt. Simmel schreibt dazu:

„Die Tatsache, daß immer mehr Dinge für Geld zu haben sind, sowie die damit solidarische, daß es zum zentralen und absoluten Wert auswächst, hat zur Folge, daß die Dinge schließlich nur noch so weit gelten, wie sie Geld kosten, und daß die Wertqualität, mit der wir sie empfinden, nur als eine Funktion des Mehr oder Weniger ihres Geldpreises erscheint.“

Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S.361.

Er nennt die Steigerung dieses Phänomen, bei der das Geld schlussendlich zum Selbstzweck verkommt und lediglich dem Ziel dient, angehäuft zu werden, Mammonismus.

Eine veränderte Perspektive auf digitales Geld

Im Zeitalter der Digitalisierung scheint das Geld als objektives Kulturgut selbst in den Strudel beschleunigter Innovationen geraten zu sein. Ein gänzlich immaterielles und doch werttragendes Tauschobjekt kann befremdlich wirken. Über Simmels nominalistische Werttheorie wird allerdings nachvollziehbar, dass es nicht wichtig ist, welcher Stoff als Geldmittel genutzt wird. Ob Kauri-Muschel, Geldschein, oder Zigarette; es ist Geld, solange es das genannte Funktionsportfolio abdeckt und über einen Tauschprozess (2) einen symbolischen Wert zugeschrieben bekommt.3Der abduktive Schluss: „If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it probably is a duck” findet bezogen auf das Geld wegen dessen selbstreferenziellen Wertzuschreibung überraschend sinnvoll Anwendung. Das gilt auch für digitales Geld.

Möglicherweise erfordert die Existenz der Token es, Wertsymbolisierung und ihre Konsequenzen neu zu denken. Versteht man digitales Geld nicht als „Coin“ (Münze) sondern als „Token“ (Zeichen), zeigt sich, dass es als digitales Wertsymbol anders funktioniert als bloß abzählbar zu sein.

Zunächst ist es möglich, digitales Geld mittels der Einbettung in den IT-Kosmos in Programmcode zu integrieren, wodurch gänzlich neue Geschäftsmodelle erschlossen werden könnten. Die resultierende Ausweitung der Innovations- und Produktionsmöglichkeiten können als weitere Beschleunigung der objektiven Kulturwelt gedeutet werden und würden so eine Verschärfung der von Simmel dargestellten Entfremdungserscheinungen androhen.

Auf der anderen Seite scheint es möglich, die subjektive Erlebensperspektive in die digitalen Werteinheiten zu integrieren, da diese zusätzlich Bilder, Töne und Text speichern könnten. Im Handelsprozess könnten darüber zusätzliche Informationen und Restriktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Anders als bei Simmel wäre der Einzelne dann bei der Wertorientierung der Dinge am Markt (2->1) weniger mit dem Preis als wertabbildendes Symbol allein. Luhmann schreibt zu den Auswirkungen des Informationsverlust materiellen Geldes:

„Weder brauchen die Bedürfnisse oder Wünsche, die man über Geldzahlungen befriedigen kann, besonders erläutert oder begründet zu werden, noch gibt der Zahlende über die Herkunft des Geldes Aufschluss. Insofern wirkt die Geldform sozial destabilisierend, sie kappt kommunikativ mögliche Bindungen […]. Dieser Informationsverlust verstärkt sich nochmals auf der Ebene derjenigigen Konditionierungen, die als „Preise“ allgemein festgesetzt sind; denn solche Preise geben nicht einmal darüber Auskunft, ob und wie häufig zu diesem Preis tatsächlich Zahlungen erfolgt sind.“

Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019, S.18f.

Als spezifische Repräsentation einzelner Objekte, aber auch in seiner numerischen Form könnte digitales Geld hier weitere Informationen liefern. Luhmann unterstreicht aber auch, dass jener Informationsverlust eine Bedingung der ausdifferenzierten Wirtschaft ist und zu einem diskriminierungsfreien Wirtschaften führt. Mit dem Internet als zusätzlicher Vernetzungsmöglichkeit und digitalen Token als digitalen Wertsymbolen scheint es möglich, das Monopol der Wertsymbolisierung klassischen Geldes aufzubrechen, über parallele Wertdarstellungen die Freiheiten der Handelsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die soziale Komponente in das Kalkül zurückzuholen.

Die gesellschaftlichen Implikationen digitalen Geldes sollten nicht unterschätzt werden, insbesondere auch da die mit den Möglichkeiten digitaler Werteinheiten zusammenhängenden Missbrauchsgefahren die Kehrseite derselben Medaille sind. Das Spannungsfeld aus Freiheit und Entfremdung bleibt auch beim digitalen Geld besorgt zu beachten.

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Zum Diskursprojekt Demokratiefragen des digitalisierten Finanzsektors

  • 1
    Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019, S. 17f.)
  • 2
    Vgl. Geld und Geldpolitik. 1.2 Funktionen des Geldes, Europäische Zentralbank: https://www.geld-und-geldpolitik.de/funktionen-und-formen-des-geldes-kapitel-1.html
  • 3
    Der abduktive Schluss: „If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it probably is a duck” findet bezogen auf das Geld wegen dessen selbstreferenziellen Wertzuschreibung überraschend sinnvoll Anwendung.
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Autor: Erik Meyer Digitaler Euro eFin-Blog Farbe: gelb Uncategorized

Anträge, Aussprache und Anschlusskommunikation – Der digitale Euro im Bundestag

Anträge, Aussprache und Anschlusskommunikation – Der digitale Euro im Bundestag

Ein Beitrag von Erik Meyer

20. November 2023

Die mögliche Einführung digitalen Zentralbankgelds (CBDC) in der Eurozone ist ein voraussetzungsvolles Unterfangen. Nachdem die Europäische Kommission im Juni 2023 einen Legislativvorschlag zur Schaffung des Rechtsrahmens dafür vorgelegt hat, hat die Europäische Zentralbank (EZB) im Oktober 2023 eine weitere Weichenstellung verkündet, die die Deutsche Vertretung der EU-Kommission so resümiert: „In der Vorbereitungsphase wird die EZB nun ihre Analyse der möglichen Gestaltungsoptionen, der Nutzererfahrung und der technischen Lösungen für einen digitalen Euro vertiefen, um sich auf dessen mögliche Entwicklung und Ausgabe vorzubereiten. Die Vorbereitungsphase beginnt am 1. November 2023 und wird voraussichtlich zwei Jahre dauern. Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeiten und Analysen kann der EZB-Rat beschließen, auf die Erprobung eines möglichen digitalen Euro hinzuarbeiten.“1 Pressemitteilung» der Deutschen Vertretung der Europäischen Kommission

Auf diese Konstellation hat die Bundestagsfraktion der Union mit einem parlamentarischen Antrag reagiert. Ebenso hat die AfD-Fraktion zu dieser Initiative einen Antrag vorgelegt, und beide wurden am 8. November 2023 im Plenum debattiert. Die CDU/CSU-Fraktion will die „Abstimmung über den digitalen Euro im Bundestag bindend machen“, so der Titel des Antrags. Ausgangspunkt ist hier, dass der politische Prozess zur europäischen Rechtssetzung im vorliegenden Fall keine Dezision durch den Deutschen Bundestag vorsieht. Der Antrag verweist aber darauf, dass die „Herstellung eines Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung bei wichtigen Fragen des Euro (…) unserer Gesetzgebung (…) keinesfalls fremd sind.“ Vor diesem Hintergrund werden vor allem zwei Forderungen gegenüber der Bundesregierung erhoben:

„1. sich im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung dazu zu bekennen, der Einführung eines digitalen Euro im Rat der Europäischen Union nur dann zuzustimmen, wenn sich der Deutsche Bundestag zuvor für dessen Einführung ausgesprochen hat;

2. sich gegenüber der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und den EU-Mitgliedstaaten für eine Zustimmungspflicht der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten einzusetzen“. (Drucksache 20/9133 -PDF»)

Hier wird primär eine prozedurale Absicht bezüglich der Beschlussfassung verfolgt. Demgegenüber positioniert sich die AfD-Fraktion auch inhaltlich ablehnend gegenüber dem Vorhaben und hat ihren Antrag mit „Bargeld als einziges gesetzliches Zahlungsmittel bewahren und Überwachung der Bürger durch digitales Zentralbankgeld verhindern“ betitelt. Sie verleiht damit ihrem Verdacht Ausdruck, dass trotz anderslautender Einlassungen aller administrativ Beteiligten und ebenso verfolgter regulatorischer Festlegungen des europäischen Gesetzgebers eine Abschaffung des Bargelds politisch intendiert wird. Der Antrag versucht diese Annahme durch Angabe diverser Indizien zu plausibilisieren. Gemäß der Argumentation, dass digitales Zentralbankgeld Zwecken wie staatlicher Überwachung diene und zur Abschaffung von Bargeld führe, wird von der Bundesregierung unter anderem gefordert:

„2. sicherzustellen, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken (NZBs) des Eurosystems keine digitalen Zentralbankwährungen ausgeben dürfen;

3. sich auf europäischer Ebene gegen die Einführung einer digitalen Zentralbankwährung einzusetzen
(…)

7. noch bevor die EZB über die Einführung des digitalen Euros beschließt, eine Volksbefragung nach Art. 20 Abs. 2 GG darüber abzuhalten, ob die Bürger die Einführung eines digitalen Euros in der von der EZB dann vorgeschlagenen Ausgestaltung zustimmen oder nicht“. (Drucksache 20/9144 – PDF»)

Vom Rede- zum Arbeitsparlament

In der dazu anberaumten Bundestagsdebatte setzten sich die Redner:innen dann weniger mit den Details der beiden Anträge auseinander als mit übergeordneten Fragestellungen und Implikationen. Die dominante Konfliktlinie war dementsprechend pro oder contra digitaler Euro und artikulierte unterschiedliche Vorstellungen bezüglich dessen Ausgestaltung. Bis auf die AfD-Fraktion sowie fraktionslose Abgeordnete begrüßten alle Fraktionen die Initiative zur Einführung digitalen Zentralbankgelds mehr oder weniger. Bei der Positionierung gegen die Abschaffung von Bargeld bestand überwiegend Übereinstimmung. Allerdings differierte die Bewertung dessen respektive Spekulation darüber, was (supra-)staatliche Akteure und Zentralbanken mit einem digitalen Euro beabsichtigen. Die aufgeworfene Frage, ob das Verhalten der Bundesregierung im europäischen Gesetzgebungsprozess an die parlamentarische Mehrheitsmeinung zu binden sei, wurde unterschiedlich beurteilt. Gerade die Regierungsfraktionen vertraten die Auffassung, dass die in Deutschland vorgesehenen Verfahren parlamentarischer Beratung inklusive einer vorgesehenen Anhörung ausreichend seien. Einem gar in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durchgängig umzusetzenden Parlamentsvorbehalt fehle darüber hinaus schlicht die Rechtsgrundlage.

Auf der symbolischen Ebene waren Auftritte aus der AfD-Fraktion sowie der fraktionslosen Abgeordneten Cotar (Ex-AfD) bemerkenswert. Neben inhaltlichen Aspekten liegt das vornehmlich an der inzwischen etablierten Praxis, die Aufzeichnungen des Parlamentsfernsehens in den jeweiligen Social-Media-Kanälen der Akteure auszuspielen. Dies führt zu einer Veränderung der Kommunikation, die die Parlamentsmehrheit nicht goutiert: Ausdrucksformen außerhalb der eigentlichen Rede gelten als nicht zulässig. Dagegen verstieß auch in dieser Debatte ein Abgeordneter der AfD-Fraktion durch das demonstrative Hantieren mit goldfarbenen Geldscheinen und kassierte dafür einen Ordnungsruf. Solche Inszenierungen sind im außerparlamentarischen Resonanzraum allerdings kommunikativ erfolgreich wie die Rede von Cotar zeigt. Sie wurde etwa im Blog des bei YouTube reichweitenstarken „Blocktrainers“ Roman Reher als „Erste Pro-Bitcoin-Rede im Bundestag“ aufgegriffen. Darüber hinaus verbreitete der Dienstleister Swanbitcoin.com eine Version des betreffenden Videos, die anmutet, als wäre die Rede in englischer Sprache gehalten worden. Die Caption bei X (Ex-Twitter) dazu lautet: „German member of Parliament @JoanaCotar bashes CBCDs in the Bundestag WHILE WEARING a #Bitcoin T-shirt. (English via AI translation)”

Die Plenardebatte endete mit der Überweisung an diverse parlamentarische Ausschüsse unter Federführung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, in denen die Anträge später zur weiteren Beratung aufgerufen werden. Für alle Details, das Protokoll sowie die Dokumentation von Anträgen, Redner:innen sowie den Aufzeichnungen ihrer Beiträge siehe die Mediathek» des Bundestages. Eine Zusammenfassung liefert darüber hinaus der Bericht „Bares ist Wahres“» in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Das Parlament.

Update: Am 4. Juli 2024 wurden beide Anträge abschließend durch den Bundestag abgelehnt.

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Autor: Carola Westermeier und Marek Jessen Digitaler Euro eFin-Blog Farbe: hellblau

Den digitalen Euro als öffentliches Gut entwickeln

Den digitalen Euro als öffentliches Gut entwickeln

Ein Beitrag von Carola Westermeier und Marek Jessen

15. November 2023

Auch wenn der Mehrwert eines digitalen Euros auf den ersten Blick vielleicht nicht gleich ersichtlich ist, bringt er doch viele Chancen mit sich: auf mehr Souveränität für europäische Anbieter und Bürgerinnen und Bürger. Dafür müssen allerdings noch ein paar Weichen gestellt werden.

Das Eurosystem hat eine wichtige, vielleicht sogar historische Entscheidung getroffen. Die Notenbanken der Länder, die den Euro eingeführt haben, und die Europäische Zentralbank (EZB) werden die Entwicklung eines digitalen Euro weiter vorantreiben und in einigen Jahren könnten europäische Bürgerinnen und Bürger Zugang zu einer neuen Art des Geldes haben. Kritische Stimmen werfen dem Projekt vor, dass es keinen Mehrwert habe. Ob ich 50 Euro mit meiner EC-Karte oder mit dem digitalen Euro ausgebe, ist meinem Kontostand egal, er wird verringert. Allerdings reduzieren die Kritikerinnen das Bezahlen mit einer solchen Argumentation auf den Austausch von Werten. Im digitalen Zeitalter sind Bezahlen und der Einsatz des Geldes in Transaktionen jedoch weit mehr.

Alles neu macht der digitale Euro – aber was eigentlich genau?

Es scheint paradox: Der digitale Euro wird unser Bezahlverhalten womöglich kaum verändern, obwohl er eine völlig neue Form des Geldes darstellt. Mit dem digitalen Euro nimmt Zentralbankgeld – die sicherste Form des Geldes, da die Zentralbank hinter ihr steht – eine digitale Form an, die für alle zugänglich sein soll. Bisher war diese Form des Geldes und die damit verbundene direkte Forderung gegen die Zentralbank lediglich mit dem Bargeld vorhanden.

Derzeit jedoch liegen alle digitalen Formen des Geldes in den Händen der Privatwirtschaft und stellen eine Forderung der Bürgerinnen gegen diese dar. Entsprechende Einlagen sind bei dem jeweiligen Kreditinstitut über die gesetzliche Einlagensicherung bis zu 100.000 € geschützt. Der digitale Euro soll die Versorgung mit Zentralbankgeld, für das es keine Einlagensicherung braucht, auch im digitalen Zeitalter und bei gleichzeitig rückläufigem Gebrauch von Bargeld sicherstellen.

Eine Frage der europäischen Souveränität

Derzeit ist digitales Bezahlen vor allem ein Markt, in dem Unternehmen um Anteile kämpfen, um über Gebühren Gewinne zu erzielen. Zahlungsdienstleister können Transaktionen aufgrund ihrer Geschäftsbedingungen untersagen und sind verpflichtet, Sanktionen durchzusetzen. In Europa dominieren vorwiegend nicht-europäische Akteure diesen Markt, während europäische Transaktionen über ihre Netzwerke laufen. Ein Umstand, den europäische Institutionen bereits zu Zeiten der Trump-Administration in den USA als Gefahr für die Souveränität des Euroraums identifiziert haben.

Der digitale Euro hingegen soll auf Infrastrukturen basieren, die in europäischer Hand liegen. Die Ausgestaltung dieser technischen Infrastrukturen wird in den kommenden Jahren konkretisiert und könnte entscheidend für die Akzeptanz des neuen Geldes sein. Die besten Chancen für eine breite Adaption bieten sich, wenn sich der digitale Euro von den genannten Marktlogiken löst und vielmehr als öffentliches Gut entwickelt wird, bei dessen Entwicklung die Rolle des Geldes in all seinen Facetten überdacht und digitales Geld im Interesse der Bürgerinnen und Bürger gestaltet wird.

Datenschutz als höchste Priorität

Ein zentrales Thema wird dabei der Schutz der Privatsphäre und der Umgang mit den anfallenden Daten sein. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist dies der zentrale Aspekt des Bezahlens, das haben Befragungen im Auftrag der EZB gezeigt. Zugleich fehlt das Bewusstsein, was bereits im derzeitigen Modell mit den eigenen Daten passiert und wie diese ausgewertet werden können.

Transaktionen im digitalen Raum hinterlassen Daten, die für die Abwicklung von Zahlungen notwendig sind. Bereits heute werden Transaktionsdaten genutzt, um gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung vorzugehen. Hierbei arbeiten Banken, die etwa verpflichtet sind, verdächtige Transaktionen zu melden, und Strafverfolgungsbehörden eng zusammen. Die Analyse von Transaktionsdaten beruht also auf der einen Seite auf regulatorischen Vorgaben, sie sind aber auch für kommerzielle Zwecke interessant. Finanztransaktionsdaten bieten umfangreiche Einblicke in das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer und sind somit besonders aussagekräftige und sensible Daten. Die EZB hat wiederholt betont, dass sie kein Interesse an der kommerziellen Nutzung von Transaktionsdaten hat. Dennoch wird es eine Herausforderung sein, die Interessen der unterschiedlichen Akteure im Laufe des weiteren Prozesses in Einklang zu bringen.

Die konkrete Rollenverteilung für den digitalen Euro und welche Intermediäre eingebunden werden, ist noch nicht abschließend geklärt. Grundlegend ist vorgesehen, dass die EZB den digitalen Euro ausgibt und er Nutzerinnen und Nutzern durch Intermediäre, wie Banken und Zahlungsdienstleister, über Wallets zugänglich gemacht werden soll. Der digitale Euro soll für alltägliche Bezahlfunktionen, wie beispielsweise an der Ladenkasse oder im Onlinehandel, aber auch zwischen Privatpersonen, genutzt werden.

Gesetzesvorschlag muss Datensammelwut besser vorbeugen

Obwohl die EZB eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des digitalen Euro spielt, sollte nicht übersehen werden, dass sie nicht allein über dessen Ausgestaltung entscheidet. Die Einführung des digitalen Euro erfordert die Schaffung einer entsprechenden rechtlichen Grundlage. Die Europäische Kommission hat im Sommer einen ersten Legislativvorschlag vorgelegt, der nun Rückmeldungen erhält. Der Datenschutz spielte darin eine wichtige Rolle. Laut aktuellem Bericht der EZB sollen Intermediäre dabei personenbezogene Daten lediglich im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für Aufnahme von Kundinnen und Kunden und die Abwicklung der Zahlung verarbeiten. Jegliche Nutzung dieser Daten für kommerzielle Zwecke erfordert nach den Plänen der EZB die ausdrückliche Zustimmung vonseiten der Nutzerinnen und Nutzer. Diese Klarheit sollte sich auch im Gesetzesentwurf wiederfinden. Ein klar umrissener Katalog, der die Zwecke der Datenverarbeitung präzise darlegt, schafft Rechtssicherheit für die Intermediäre und fördert das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.

Gleiches gilt für die EZB und das Eurosystem. Es muss klar sein, welche Daten verarbeitet werden und dass keine nachträgliche Zuordnung der Identität der Nutzerinnen und Nutzer der Daten möglich ist. Um dem Überwachungspotential einer zentralisierten Datensammlung vorzubeugen, empfehlen europäische Datenschützerinnen und Datenschützer, die mit dem Kundenmanagement (insbesondere Verwaltung digitaler Euro-Accounts) verbundenen Aufgaben dezentral und damit über Intermediäre zu organisieren. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass ab einem bestimmten Punkt Daten in aggregierter Form der EZB zur Verfügung stehen, da sie den digitalen Euro ausgibt und über die im Umlauf befindliche Geldmenge Kenntnis hat. In dem gesetzlichen Rahmenwerk sollte eindeutig festgelegt werden, dass diese Daten nach Pseudonymisierung keine nachträgliche Identifizierung der Nutzerinnen und Nutzer ermöglichen.

Auch wenn die Vorzüge des Bargelds nicht vollständig in den digitalen Raum transferiert werden können, ist es wünschenswert, dass Zahlungen zumindest unter einem gewissen Schwellenwert komplett anonym möglich sein sollen. An vielen – vor allem ländlichen – Orten sind Bargeldzahlungen nicht mehr möglich, weil die entsprechenden Geschäfte außer Reichweite und Online-Bestellungen die einzige Möglichkeit sind, an bestimmte Waren zu gelangen. Der Schutz der Privatsphäre beim Bezahlen sollte jedoch keine Frage des Wohnortes sein, sondern ist im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger.

Nach Aussage von Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank, wird es voraussichtlich noch etwa fünf Jahre dauern, bis der digitale Euro für Zahlungen genutzt werden kann. Diese Zeitspanne sollte als eine Gelegenheit betrachtet werden, den digitalen Euro nicht als kommerzielles Projekt, sondern im Interesse der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu entwickeln. Ein starker Datenschutz spielt dabei eine wichtige Rolle.

Redaktionelle Notiz: Dieser Text wurde im Tagesspiegel Background (KI & Digitalisierung: Standpunkte») am 6. November erstveröffentlicht.

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Autor: eFin Blog Digitaler Euro eFin-Blog EU-Politik Farbe: gelb

Digitaler Euro: Zum Stand des politischen Prozesses

Digitaler Euro: Zum Stand des politischen Prozesses

Letztes Status Update: 10. Juli 2024

Die Debatte über eine mögliche Einführung von digitalem Zentralbankgeld in der Eurozone läuft schon länger. Hier informieren wir über die Entwicklungen und den jeweils aktuellen Stand. Im Juni 2023 hat der betreffende Entscheidungsprozess auf EU-Ebene begonnen.

Der digitale Euro ist zunächst ein Projekt der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese hat im Juli 2021 offiziell damit begonnen, Anwendungsfälle und Möglichkeiten der Ausgestaltung eines solchen Zahlungsmittels zu untersuchen. Diese Phase soll im Oktober 2023 enden. Dann entscheidet der EZB-Rat als das oberste Beschlussorgan der EZB darüber, ob zur nächsten Phase übergegangen wird. Für die konkrete Realisierung wird derzeit eine dreijährige Auseinandersetzung angesetzt.

Auch wenn die EZB erst im Anschluss daran endgültig über eine Einführung des bis dahin im Detail ausgestalteten digitalen Euros entscheidet, hat die EU-Kommission mit dem begonnen, was als „Rechtsetzungsarbeit” bezeichnet wird, denn: „Gemäß Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die EU die ausschließliche Zuständigkeit für die Währungspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist. Für die Ausgabe eines digitalen Euro und die Entscheidung über seine technischen Merkmale ist die EZB zuständig, doch muss der digitale Euro zuvor durch eine EU-Verordnung, in der seine wesentlichen Aspekte festgelegt sind, eingeführt werden”, heißt es in einem Dokument der Kommission.1Die Aufforderung zur Stellungnahme zu einer Folgenabschätzung (19.4.2022) findet sich zum Download hier»

EU-Vorschlag zur rechtlichen Regulierung

Am 28. Juni 2023 hat die EU-Kommission dementsprechend einen Legislativvorschlag zur Schaffung des Rechtsrahmens für einen möglichen digitalen Euro als Ergänzung zu Euro-Banknoten und -Münzen vorgelegt. Und zwar im Paket mit einem Legislativvorschlag über Euro-Bargeld als gesetzlichem Zahlungsmittel, der sicherstellen soll, dass dieses weithin akzeptiert wird und im gesamten Euro-Währungsgebiet leicht zugänglich bleibt.2Angaben zum Paket zur einheitlichen Währung: Neue Vorschläge zur Gewährleistung der Möglichkeit, Bargeld zu verwenden, und zur Schaffung eines Rechtsrahmens für einen digitalen Euro sowie betreffende Dokumente finden sich zum Download hie

Damit beginnt ein Gesetzgebungsverfahren, an dem das Europäische Parlament und der sogenannte Ministerrat beteiligt sind. In diesem Rat der Europäischen Union sind die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten. In mehreren Lesungen wird der Legislativvorschlag von Parlament und Rat überarbeitet. Sobald sich die beiden Institutionen auf entsprechende Änderungen geeinigt haben, wird der Vorschlag angenommen. Dies ist nicht zuletzt deshalb so komplex, weil die betreffenden Organe wiederum in sich heterogene Interessen repräsentieren, die umfangreiche Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse notwendig machen.

Eine relevante Rolle dürfte in diesem Kontext die Euro-Gruppe spielen. Dabei handelt es sich um ein informelles Gremium, in dem die Finanzminister:innen der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets über den Euro betreffende Fragen, die in die gemeinsame Verantwortung ihrer Länder fallen, beraten. Darüber hinaus findet Anfang Juni 2024 die nächste Europawahl statt, bei der dieses Thema eine Rolle spielen könnte.

Die Europawahl könnte darüber hinaus weitere Konsequenzen für das Verfahren haben:

“Für all jene Gesetzesvorlagen, über die das Plenum vor den Wahlen nicht mehr abgestimmt hat, gibt es keine rechtswirksame Position des Europäischen Parlaments. Die Geschäftsordnung des Parlaments sieht daher vor, dass in solchen Fällen die Arbeit der Abgeordneten (zum Beispiel in Form von Beschlüssen auf Ausschussebene) verfällt. Allerdings kann die neue Konferenz der Präsidenten – die aus dem Präsidenten/ der Präsidentin des Parlaments und den Fraktionsvorsitzenden besteht – zu Beginn der neuen Legislaturperiode beschließen, die Arbeit an diesen Gesetzesvorlagen unter Nutzung des bereits erreichten Standes fortzusetzen (vgl. Artikel 240 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments).”3 Siehe hierzu die Antwort in den FAQs des Europäischen Parlament

Reaktionen auf Bundesebene

Parallel dazu hat auch in den Mitgliedsländern die Befassung mit dieser Materie begonnen. Im Rahmen seiner Mitwirkung in europäischen Angelegenheiten» hat sich der Bundesrat bei seiner Sitzung am 29. September 2023 mit den EU-Vorschlägen für einen Rechtsrahmen zur Einführung des digitalen Euro befasst und eine Stellungnahme» beschlossen.

Im Bundestag hat die Unionsfraktion einen Antrag mit dem Titel „Abstimmung über den digitalen Euro im Bundestag bindend machen“ vorgelegt, der am Mittwoch, den 8. November 2023, im Plenum debattiert wird. Die finanzpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Antje Tillmann, führt dazu aus: „Nachdem das Projekt digitaler Euro nun voranschreitet, muss die Bundesregierung dem Parlament ein wirkliches Mitspracherecht einräumen. Dies bedeutet, dass die Bundesregierung der Einführung eines digitalen Euro nur zustimmt, nachdem der Deutsche Bundestag eine Einführung befürwortet hat.”4 Siehe die entsprechende Pressemitteilung. Nach der Debatte soll der Antrag gemeinsam mit einer Initiative der AfD-Fraktion zur weiteren Beratung an den federführenden Finanzausschuss überwiesen werden. Der Titel des AfD-Antrags lautet „Bargeld als einziges gesetzliches Zahlungsmittel bewahren und Überwachung der Bürger durch digitales Zentralbankgeld verhindern“. Zur Dokumentation der Anträge und zu weiteren Informationen siehe hier. Beide Anträge werden nach einer entsprechenden Beschlussempfehlung des Finanzausschusses schließlich am 4. Juli 2024 durch den Bundestag abgelehnt. Zur Dokumentation der Debatte siehe hier.

Im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags fand am 19. Februar 2024 eine zweistündige öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Thema „digitaler Euro“ sowie den vorgelegten Anträgen statt. Ein Fragenkatalog wurde dafür nicht erstellt; für Details zum Termin siehe hier.

Dieser Beitrag wird um aktuelle Angaben ergänzt, wenn der politische Prozess fortschreitet. Siehe zum jeweiligen Stand auch den Eintrag zum Verordnungsentwurf auf der Seite EUR-Le der Europäischen Union.

  • 1
    Die Aufforderung zur Stellungnahme zu einer Folgenabschätzung (19.4.2022) findet sich zum Download hier»
  • 2
    Angaben zum Paket zur einheitlichen Währung: Neue Vorschläge zur Gewährleistung der Möglichkeit, Bargeld zu verwenden, und zur Schaffung eines Rechtsrahmens für einen digitalen Euro sowie betreffende Dokumente finden sich zum Download hie
  • 3
  • 4
    Siehe die entsprechende Pressemitteilung.
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Autor: Caroline Marburger eFin-Blog Farbe: hellblau

Von eingefrorenen Konten und ungleichen Bedingungen im internationalen Zahlungsverkehr

Von eingefrorenen Konten und ungleichen Bedingungen im internationalen Zahlungsverkehr

Alexandra Keiner im Interview mit Caroline Marburger

2. November 2023

Alexandra Keiner ist Soziologin und forscht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weizenbaum-Institut Berlin zu Finanzinfrastrukturen, Plattformökonomie und Regulierung von Internetpornographie. Beim von ZEVEDI in Kooperation mit dem Mousonturm Frankfurt veranstalteten Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen mit dem Titel Follow the Money. Von analogen Werten, digitalem Geld und der Bezifferung der Welt war sie als Expertin für Bezahlverbote dabei. Caroline Marburger von eFin & Demokratie hat mit ihr über ihre Forschung geredet und darüber, wie sie diesen Abend und die 1:1-Gespräche mit Nichtexpert:innen wahrgenommen hat.

Frau Keiner, wie sind Sie eigentlich auf Ihr Thema „Bezahlverbote im Netz“ gekommen und mit welchen Fragen befassen Sie sich in Ihrer Forschung?

Meine Abschlussarbeit habe ich über die staatliche und private Regulierung von Pornographie im Internet geschrieben. Darüber, wie eine Art Zweiteilung des kommerziellen Internets entstanden ist: Auf der einen Seite stehen Big-Tech-Unternehmen, die die Darstellung pornografischer und sexueller Inhalte zunehmend einschränken. Und auf der anderen Seite die Internet-Pornographie-Industrie, wo eine starke Machtkonzentration zugunsten der großen Pornographie-Plattformen zu beobachten ist.

Und dann wurde mir schnell klar, welche wichtige Rolle Zahlungsdienstleister im Netz spielen – und zwar für beide Seiten. Daraus ergab sich für mich eine breitere und intensivere Auseinandersetzung mit Fragen der Rolle von Zahlungsinfrastrukturen und finanzieller Inklusion: Wer wird warum und wie von der Nutzung bestehender, insbesondere grenzüberschreitender Zahlungsinfrastrukturen ausgeschlossen? Inzwischen untersuche ich dies insbesondere am Beispiel der Digitalisierung von Auslandsüberweisungen.

Wie können wir uns das denn konkret vorstellen? Haben Sie ein Beispiel für Ausschlussverfahren durch Zahlungsdienstleister, die Sie aus Ihrer Forschung kennen?

Zum Beispiel bei der Internetpornographie, wo viele Performer:innen in Lateinamerika leben, aber ihre Kund:innen in Europa oder den USA: Die Performer:innen sammeln ihre Einkünfte, die sie meist über Plattformen erwirtschaften, meist auf ihrem Paypal-Account. Erfahrungsberichte in Interviews, Studien oder Social Media Posts, die sich mit dem Konsum und dementsprechendem Bezahlen von pornografischen Inhalten im Netz beschäftigen, zeigen: Meist ist Paypal die komfortabelste Option oder sogar die einzige Option, die die Plattformen überhaupt anbieten. Außerdem sind Brasilien, Bolivien, Argentinien zum Teil Länder mit unglaublich hoher Inflation. Anbieter:innen von dort haben also gute Gründe, die Zahlungen, die sie in Euro oder Dollar erhalten, als Paypal-Guthaben auf ihrem Account liegen zu lassen.

Paypal hat 2019 beschlossen, die Zahlungen auf einer der größten Porno-Plattformen einzustellen. Aber die Frage ist: Für wen gilt das? Wenn ich jetzt dort bei Pornhub ein Premiumkonto habe, dann wird mein Paypal-Konto nicht gesperrt. So ein Konto bleibt natürlich unangetastet, die Konsument:innen bleiben unbelangt. Der einzige Nachteil ist, dass Paypal auf dieser Plattform nicht mehr als Zahlungsoption zur Verfügung steht.

Aber auch das Konto der betreibenden Unternehmen bleibt unberührt. Pornhub bzw. das dahinterliegende Unternehmen Mindgeek sagt, sie seien nur eine Werbe- oder Datenplattform. Die Werbetreibenden wiederum sagen, sie würden nur Werbung schalten. Die Einzigen, die davon betroffen sind und ihr Geld nicht bekommen, sind Hunderttausende von Performer:innen oder Produzent:innen, weil dort, so die Aussage, die Situation klar sei. Die verdienen ihr Geld zu 100 Prozent mit Pornographie, die anderen nicht.

Ihr Paypal-Konto mit, sagen wir, 5000 Euro, wird eingefroren. Die Darsteller:innen haben dann vorerst keinen Zugang mehr. Gemäß der AGB ist Paypal zu solchen Maßnahmen berechtigt. Wie Performer:innen bezahlt werden oder ob sie überhaupt bezahlt werden, wird immer undurchsichtiger und trotzdem läuft das Geschäft natürlich weiter, nur die Bezahlung wird schwieriger.

Was wird von Zahlungsdienstleistern denn konkret reguliert?

Im beschriebenen Fall verwies Paypal auf seine AGBs, wonach Zahlungen für sexuell orientierte Produkte und Dienstleistungen untersagt werden können. Sie geben in ihren AGBs auch an, dass sie Zahlungen von terroristischen Organisationen oder extremistischen Gruppen verbieten.

Die Frage bleibt aber: Was tun sie konkret? Denn sie müssen ihr Handeln nicht im Einzelfall begründen. Daher ist es schwierig nachzuweisen, wo genau die Mechanismen greifen. Gerichtsurteile und vorliegende Studien zeigen aber, dass die bestehenden Mechanismen letztlich dafür sorgen, dass eher linke als rechte Gruppen, eher kleine als große Unternehmen, eher Frauen als Männer, mehr im globalen Süden betroffen sind – mehr als etwa rechte Organisationen in den USA.

Gibt es denn eine Kooperation zwischen Zahlungsdienstleistern und staatlichen Stellen?

Um nicht (noch) stärker reguliert zu werden, arbeiten Zahlungsdienstleister auch über die normale Gesetzeslage hinaus vermehrt mit Staaten zusammen. Die kanadische Soziologin Natasha Tusikov nennt diese Abmachungen handshake deals. Das kann zum Beispiel heißen: Das US-Markenrecht soll weltweit eingehalten werden, also wird eine entsprechende „Schwarze Liste“ erstellt. Kommt bei Transaktionen ein Name von dieser Liste vor, also zum Beispiel ein Name, hinter dem der Verkauf von Raubkopien vermutet wird, dann werden diese Transaktionen automatisch ohne Überprüfung unterbunden. Auch wenn die Betroffenen nicht der US-Gesetzgebung unterliegen.

Es kann auch sein, dass bestimmte Wörter in Transaktionen ausreichen, um zum Problem zu werden. Zum Beispiel Aleppo-Seife. Potenzielle Käufer:innen dieser Seife können, da hier versucht wird, Terrorfinanzierung zu verhindern, in einem normalen Onlineshop nicht mehr mit Paypal bezahlen.

Sie verstehen also bei aller Kritik den Erfolg von Paypal? Und meinen Sie, man sollte es nutzen?

Es ist klar, dass es so erfolgreich ist, weil es im Vergleich einfach, schnell und teilweise günstig ist. Wenn man dem Problem mit dem Vorwurf begegnet „Was nutzt du denn auch Paypal?“, oder es boykottiert, dann wird das Problem wieder individualisiert. Du benutzt deren Dienste eben, weil es einfach ist und weil es viele Möglichkeiten bietet, die es vorher nicht gab, aber die es geben sollte.

Sie befassen sich derzeit mit dem Phänomen der Rücküberweisungen oder „remittances“ auf Englisch , also damit, dass Menschen entweder in ihre Herkunftsländer oder an Familienmitglieder im Ausland Teil ihres Lohnes überweisen – meist in vergleichsweise ärmere Länder. Diese Überweisungen gelten als ein Kernbestandteil des globalen Finanzsystems, zumal ihr Volumen das humanitärer Hilfe für Schwellen- und Entwicklungsländer übersteigt. Man geht davon aus, dass diese Finanzflüsse wesentlich zu Stabilität und Wachstum der Länder beitragen, in die diese Gelder fließen. Wie verbindet sich dieses Feld mit dem, was Sie bisher erforscht und wir besprochen haben?

Ich hatte aus meiner bisherigen Forschung die Erkenntnis mitgenommen, dass die Einschränkungen und Probleme von Zahlungsinfrastukturen bestimmte Personengruppen mehr als andere betreffen. Und dann bin ich auf Western Union aufmerksam geworden. Ich habe mich gefragt, warum zum Beispiel in Berlin-Mitte immer noch Menschen Schlange stehen, um Geld für ihre Verwandten im Ausland aufzugeben. Ändert sich hier etwas durch die Digitalisierung? Digitalisieren sich auch Unternehmen wie Western Union? Und was hat das dann für eine Bedeutung, wenn sich die Macht über diese Rücküberweisungen in so wenigen Unternehmen konzentriert? Was bedeutet es gesellschaftlich, dass es eine gänzlich parallele Infrastruktur gibt, deretwegen bestimmte Menschen mit horrend hohen Gebühren Geld zur Unterstützung ihrer Familien ins Ausland schicken, während deutsche Bürger:innen ohne Migrationsgeschichte dies kaum kennen, da sie selbst zumindest in den meisten Fällen so gut wie gebührenfrei überweisen.

Kommt für diese Auslandsüberweisungen eigentlich auch Paypal in Frage? Oder Kryptowährungen?

Paypal, ja, teilweise, sofern man ein Bankkonto hat. Das haben viele der Empfänger:innen der Rücküberweisungen nicht. Es gibt auch Länder die gänzlich ausgeschlossen sind, wie Iran, Nordkorea und derzeit Russland. Überweisungen via Paypal können aber je nach Wechselkurs und Zielland sehr teuer sein. Auch beim Währungsumtausch erhebt Paypal ggf. hohe Gebühren und zudem tauscht es das Geld der Sender:innen zu schlechteren Wechselkursen um.

Das gilt auch für Western Union: Nach dem Erdbeben in Marokko warben sie damit, dass die Überweisungen für ein paar Wochen gebührenfrei wären. Aber diese Werbung war mit Sternchen versehen und nahm die Währungsumrechnung davon aus. Ihr Verdienst liegt schließlich neben den Gebühren in der sogenannten Wechselmarge, also der Differenz zwischen dem von ihnen angebotenen und dem aktuellen Marktkurs. Letztlich werden so mit einer Aktion, die immer noch Verdienst erlaubt, ggf. ganz neue Kunden gewonnen – eben die, die den Opfern finanzielle Hilfe zukommen lassen wollen.

Krypto kann teilweise eine Option sein, aber dafür muss man sich mit der Infrastruktur auskennen und es ist nicht immer gebührenfrei. Wenn ich jetzt beispielsweise meinem Opa in Rumänien Geld schicken wollen würde: Er würde es mit Krypto nicht hinbekommen. Das heißt, vereinzelt ja, aber da ist die Schwelle recht hoch. Ich halte das noch nicht für eine gangbare Option.

Warum, meinen Sie, wird bei aller Kritik an Internetplattformen so wenig über die Zahlungsdienstleister im Netz diskutiert? Was genau beim digitalen Bezahlen passiert, ist eigentlich nie Thema. Ist das wirklich zu schwierig? Oder nutzen wir es schlicht, weil es so schön einfach ist und denken gar nicht drüber nach? Sind wir da gutgläubig?

Ich glaube, es ist auch nicht zu unterschätzen, dass es den Anschein einer rein technologischen Lösung hat: eine App, die wir schlicht als Lösung eines früheren Problems akzeptieren, oft ohne größere Fragen zu stellen. Das war kompliziert, hat früher mehrere Tage gedauert und was gekostet. Und jetzt plötzlich geht es ganz schnell und kostet kaum was. Toll, dass die Digitalisierung das geschafft hat. Nehme ich. Muss es doch auch für alle geben.

Über diese Forschungsthemen bzw. konkreter das Thema Bezahlverbote haben Sie mit Laien in einem Tischgespräch auf dem Markt des nützlichen Wissens und Nicht-Wissens» gesprochen. Ein Gespräch, das ihre Gegenüber am Marktschalter für einen Euro gebucht hatten. Titel dieses Marktes war „Follow the Money“. Könnten Sie schildern, wie Sie den Abend wahrgenommen haben?

Du wirst eingelassen und dann erfasst es Dich. Es ist zum einen echt, wirkt authentisch, eben ein vielstimmiges Gespräch zahlreicher Expert:innen und ihrer Gegenüber. Gleichzeitig ist aber auch ein performiertes Marktgeschehen. Diese Mischung war unglaublich spannend.

Durch das Programm zu gehen und so viele Leute zu sehen, die sich dafür interessieren, das war schön. Ich gebe zu, ich war ein wenig besorgt, meine Gesprächspartner:innen zu enttäuschen. Schließlich gab es so viele spannende Themen. Der Experte am Nachbarstisch kann buchstäblich zaubern – und ich erzähle was vom Zahlungsverkehr.

Stimmt, das ist harte Konkurrenz. Aber diese Sorge hat sich schließlich gelegt, oder?

Man denkt kurz: Habe ich überhaupt was zu erzählen? Was könnte ich sagen? Aber die Gespräche waren dann sehr angenehm und kurzweilig.Meine Gesprächspartnerinnen waren beide aus der Kreativszene, keine, die irgendwie 3.000 € im Monat auf ihr Konto bekommen, sondern eben auch Minusstände kennen. Und bei einer gab es die Angst, dass irgendwann die Existenz unsicher wird. Was, wenn ihre Kunst plötzlich als problematisch oder pornografisch gilt und kein Geld mehr fließt. Welche Umstände könnten ggf. dazu führen, dass man selber ins Hintertreffen gerät?

Welche Frage oder Ansicht hat Sie ggf. überrascht?

Besonders überrascht hat mich die Frage, warum die Staaten nicht in die Macht der großen Finanzakteure eingreifen, auch wenn diese international agieren. Eine andere Frage war, warum es überhaupt rechtlich möglich sei, Menschen einfach von Finanzdienstleistungen auszuschließen. Es müsse doch so etwas wie ein Grundrecht auf (internationalen) Geldtransfer geben.

Hat es Sie im allerersten Moment nicht vielleicht auch überrascht, dass Paypal so einfach Zahlungen unterbinden kann?

Doch, mir ging es auch so, aber in der letzten Zeit habe ich mich weit davon entfernt. So dass ich jetzt dachte, es sei merkwürdig, dass Bürger:innen davon ausgehen, man habe generell sowas wie ein Recht auf ein Bankkonto oder ein Recht auf Bezahlung.

Ich finde auch zunehmend, dass wir das in der Schule lernen sollten. Ich habe ja Sozialwissenschaften studiert und nicht Ökonomie. Und als ich zu diesem Thema gekommen bin, hatte ich erstmal wenig Ahnung und das fühlt sich ungut an. Man denkt: Bin ich naiv? Warum weiß ich das nicht? Aber letztlich scheint es mir strukturell bedingt, dass man so wenig weiß über so eine wichtige Infrastruktur oder darüber, wie eigentlich Banken und Geldschöpfung funktionieren.

Sie sagen, es sei strukturell bedingt. Was glauben Sie, sind die Ursachen? Haben Sie eine Hypothese?

Ich glaube ich habe zwei Antworten. Die eine wäre offiziell und die andere, sehr zugespitzt, was ich selber denke.

Ich fange mal mit der Offiziellen an. Man könnte es als eine Art Abkopplung beschreiben. In dem Moment, als das Geldsystem überhaupt sich tiefgreifend verändert hat. Der Finanzmarkt wurde beispielsweise mit dem Big Bang von 1986 in London sukzessive dereguliert und in England und den USA eröffneten sich völlig neue Dimensionen– eine Welle, dem auch der streng regulierte Finanzmarkt Deutschlands sich als Exportnation nicht gänzlich entziehen konnte. Der Finanzmarkt wurde komplizierter, aber auch schneller und größer. Und gleichzeitig sollten, glaube ich, die Leute nicht zu sehr verwirrt werden. Es gibt im Buch „Zentralbankkapitalismus“ von Joshua Wullweber ein Vorwort von Rainer Voss, einem ehemaligen Investmentbanker und inzwischen Befürworter einer gerechteren Finanzpolitik, in dem sagt er sinngemäß zur Entwicklung seit den 80er Jahren: „Da haben wir als Banker einfach die Tür zugemacht und gesagt, nee, wir wollen auch gar nicht, dass das jemand en detail versteht“.

Zugespitzt würde ich zudem sagen, dass gewisse Gruppen bei der vehementen Ungleichheit, die existiert, vielleicht nicht unbedingt wollen, dass alle sich im Klaren darüber sind, wie viel Macht Banken eigentlich haben, indem sie Geld schöpfen, und wie unsicher Geld sein kann.

Gab es Aspekte ihres Themas, die nicht vorgekommen sind, aber die Sie persönlich auch spannend gefunden hätten?

Die geopolitischen Aspekte dahinter, gerade heute. Zum Teil ist die Infrastruktur durch Krisen, Konflikte und Krisen fragmentierter. Man kann kein Geld mehr gen Russland senden. Das kann man natürlich angesichts des Angriffskriegs verstehen und gutheißen. Aber es gibt zahlreiche Menschen, die im Ausland arbeiten und ihrer Familie in Russland kein Geld mehr schicken können. Oder Arbeitsmigrant:innen in Russland, die ihren Familien in Moldawien und Kasachstan kein Geld mehr schicken können. Oder humanitäre Organisationen, die kein Geld mehr bekommen. Für Arbeitsmigrant:innen mit geringem Einkommen bedeutet das höhere Kosten und unsichere Wege, während Oligarchen und Menschen mit mehr Ressourcen und besseren Netzwerken viel leichter alternative Wege finden.

Und was haben Sie als Expertin aus dem Gespräch mit jemandem, der kein Vorwissen hat, mitgenommen? Lernt man selber etwas?

Ja, auf jeden Fall. Was mir schönerweise durch diese Gespräche ganz stark bewusst geworden ist: die Relevanz des Themas. Ich glaube bis zu diesen beiden Gesprächen war ich mir nur im Abstrakten darüber im Klaren. Aber es ist ein relevantes Thema, wie dieser Zugang zu Zahlungsinfrastrukturen vergeben oder auch wieder genommen wird. Vielleicht geht es weniger um staatliche vs. private Akteure, sondern darum: Wer hat Zugang und wie wird er beherrscht oder reguliert? Und was können wir ggf. dagegen tun?

Es gibt ja in Sachen Finanzdienstleistungen selten kollektive Empörung. Aber ich habe die Empörung bei den Gesprächspartnerinnen gemerkt „Wie, ich kann nichts machen? Dann beschwere ich mich doch wenigstens bei meiner Bank!“. Aber die Bank hat auch nur einen Vertrag mit entweder Visa oder Mastercard. Mir ist deutlich geworden, dass beiden, die keineswegs naiv waren, sobald sie sich das Thema vor Augen geführt haben, das Potenzial von Zahlungsinfrastrukturen bewusst wurde: die gesellschaftlichen Chancen wie auch die Risiken.

Ich habe dazugelernt, dass es nicht stimmt, dass die Leute sich nicht dafür interessieren oder die Problematik nicht sehen. Die Fragen, die gestellt wurden, waren eigentlich sozial- oder politikwissenschaftliche Fragen. Und leicht hat man das Gefühl, man arbeite an etwas, für das sich niemand interessiert. Schließlich sind Finanzinfrastrukturen ein absolutes Nischenthema in der (Wirtschafts)Soziologie. Oft wird abgewinkt, weil man befürchtet, es sei schwer nachvollziehbar. Daher war es für mich ganz wichtig zu merken, dass es Relevanz hat, sich doch ein paar mehr mit diesen Themen befassen und es eben auch ein Publikum dafür gibt. Es hat für mich wie eine Art Empowerment gewirkt, auch andere Frauen zu sehen, die Wissenschaftler:innen und Expert:innen sind, auch aus anderen Disziplinen und aus dem globalen Süden.

Was nehmen Sie also mit?

Dass man reden muss. Auch gar nicht im Sinne von Aufklärung. Mangelnde Financial Literacy bzw. finanzielle Kompetenz ist nicht das einzige Problem. Es geht weniger oder nicht nur darum, wie Leute mit ihrem Geld umgehen, sondern DIESE Art von Gesprächen zu haben, die beide auf eine andere Ebene bringen und aus denen sich wichtige Fragen ergeben. Keine Begegnung der Art: Ich habe Ahnung, du hast keine und ich erkläre das jetzt mal. Das Gefühl hatte ich an dem Abend nicht und als ich die anderen beobachtet habe, schien mir das auch nicht so zu sein.

Sie haben es selber sehr schön gesagt: Es geht ja gar nicht um Aufklärung von oben nach unten. Aber wo anfangen, wo sehen Sie besonders viel Veränderungsnotwendigkeit oder -potenzial?

Ich würde mir nach wie vor wünschen, es würde in den Sozialwissenschaften weniger Nischenthema sein. Und wie bereits gesagt, fände ich es unglaublich wichtig, dass schon in der Schule thematisiert wird, wie etwa eine Bank funktioniert. Dass man sehr früh anfängt und idealerweise eine Selbstsicherheit bei Jugendlichen und Bürger:innen erzeugt, zu sagen: „Ich weiß zumindest diese Grundsätze. Dann kann ich vielleicht auch die Nachrichten und die Zeitung besser verstehen, und das auch als für mich relevant wahrnehmen.“ Das Problem dabei ist gar nicht die Komplexität, sondern wie man das rüberbringt.

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