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Autor: Dominik Skauradszun und Jeremias Leo Kümpel eFin-Blog Farbe: gelb Uncategorized

Digitales Vermögen in fremder Hand – Kundenschutz und Kryptoverwahrung

Digitales Vermögen in fremder Hand – Kundenschutz und Kryptoverwahrung

Ein Beitrag von Dominik Skauradszun und Jeremias Leo Kümpel

13. November 2025

Wer seine Kryptowerte nicht selbst verwalten kann oder will, vertraut sie spezialisierten Verwahrern an – und darauf, dass sie dort auch im Insolvenzfall sicher sind. Neue gesetzliche Regelungen sollen die Rechte der Kunden stärken. Doch schaffen sie wirklich die nötige Sicherheit für digitales Vermögen?

Für Transaktionen auf einer Blockchain wird ein Schlüsselpaar (Key Pair) benötigt, das aus einem Public Key und einem Private Key besteht. Der Public Key dient – vergleichbar mit einer Kontonummer – der Zuordnung der Kryptowerte, während der Private Key – vergleichbar mit dem PIN einer EC-Karte – für die Autorisierung von Transaktionen benötigt wird. Letzterer muss dabei logischerweise geheim gehalten und dementsprechend sicher aufbewahrt werden. Viele Anleger wollen sich um die Sicherung ihrer Private Keys allerdings nicht selbst kümmern, sondern nehmen für größere Sicherheit, Komfort und regulatorischen Schutz stattdessen die Dienste von Kryptoverwahrern in Anspruch. Deren Geschäftsmodell hängt aber auch davon ab, ob und wie Kundenguthaben im Falle einer Insolvenz geschützt sind. Zwar kennen Anleger die typischerweise hohe Volatilität vieler Kryptowerte und wissen dementsprechend, dass hier womöglich empfindliche Verluste drohen. Sie werden dieses dem Bereich der Kryptowerte immanente Risiko aber nicht noch um das Insolvenzrisiko des Verwahrers erweitern wollen. Ein solches Risiko würde die Attraktivität professioneller Kryptoverwahrung erheblich beeinträchtigen. Die Kunden könnten ihre Kryptowerte kaum in Sicherheit wähnen, wenn die Gefahr bestünde, dass der Verwahrer in die Insolvenz fällt und ihre Kryptowerte dabei auf dem Spiel stehen. Vor allem die FTX-Insolvenz vor drei Jahren hat den Kryptomarkt in dieser Hinsicht in Aufruhr versetzt und das „Schreckgespenst“ der Insolvenz in das Bewusstsein der Kunden gerückt.

Kryptoverwahrung als Treuhandverhältnis

Auch den Aufsichtsbehörden und der juristischen Debatte im Allgemeinen ist die große Bedeutung der Stellung der Kunden in der Insolvenz des Kryptoverwahrers in den vergangenen Jahren nicht verborgen geblieben. Die Frage nach dem Schutz des Kunden gegenüber einem Verwahrer ist dabei gar nicht neu, sondern stellt sich letztlich bei jedem Treuhandverhältnis. Auch die Kryptoverwahrung ist nichts anderes als ein fremdnütziges Treuhandverhältnis, bei dem der Kunde als Treugeber und der Verwahrer als Treuhänder fungiert. Während die treuhänderische Verwahrung körperlicher Gegenstände aber noch einigermaßen greifbar ist, stellen sich bei Kryptowerten zahlreiche neue Fragen. Die vertraute Frage nach dem Schutz des Treugebers, also des Kunden, wird dadurch sofort deutlich komplexer.

Eine blaue Hand hält Kryptowerte. Blitze an der Seite signalisieren Gefahr.

Die Rechtsprechung stellt für den Fall der Insolvenz des Treuhänders zum Schutz des Treugebers und seines Vermögens auf das sogenannte Vermögenstrennungsprinzip ab: Es muss jederzeit klar sein, was zum Eigenvermögen des Treuhänders und was zum Vermögen des Treugebers gehört. Zu keiner Zeit darf das Treugut mit anderem Vermögen vermischt werden, insbesondere nicht mit dem eigenen Vermögen des Treuhänders. Wird diese Trennung dauerhaft eingehalten, wird das Vermögen nicht der Insolvenzmasse, sondern dem Vermögen des Kunden zugeordnet. Dem Kunden wird dann eine sogenannte Aussonderung des Treuguts ermöglicht. Diese Rechtsposition ist in § 47 der Insolvenzordnung (InsO) geregelt und bedeutet, dass das Treugut an den Treugeber herausgegeben werden muss und damit nicht zur Befriedigung anderer Gläubiger verwertet werden darf. Aussonderungsberechtigte sind insofern grundsätzlich in einer gesicherten Position und müssen – anders als andere Gläubiger des insolventen Treuhänders – nicht damit rechnen, nur eine (niedrige) Quote auf ihre Ansprüche zu erhalten. Im Falle der Kryptoverwahrung würde das also bedeuten, dass Kunden nicht um die Kryptowerte fürchten müssen, die sie dem Verwahrer anvertraut haben. Selbst wenn der Verwahrer in die Insolvenz fallen sollte, würden sie ihre Kryptowerte nicht verlieren.

Das Prinzip der Vermögenstrennung wurde von der Rechtsprechung schon vor Jahrzehnten entwickelt – und damit lange vor dem Aufkommen von Kryptowerten. Ob diese Trennung erfüllt wird, ist bei Kryptowerten aber ungleich schwieriger zu beurteilen als bei einem körperlichen Gegenstand.

Verschiedene Arten der Kryptoverwahrung: Segregated Wallets oder Omnibus Wallets

Verwenden die Kryptoverwahrer sogenannte Segregated Wallets, ist die Sachlage einfacher. Hier wird für jeden Kunden auf der jeweils betroffenen Blockchain eine eigene Blockchain-Adresse mit dazugehörigem Private Key erstellt. Damit lässt sich die Vermögenstrennung noch vergleichsweise einfach nachvollziehen, weil es eben um separate Blockchain-Adressen für jeden einzelnen Kunden geht.

In der Praxis setzen viele Verwahrer aber auf sogenannte Omnibus Wallets. Dabei werden Kryptowerte mehrerer Kunden auf einer einzigen Blockchain-Adresse – also kontrolliert durch ein einziges Key Pair – gepoolt. Das kann die Effizienz des Verwahrmodells steigern, da durch das Pooling von den Kunden veranlasste Transaktionen miteinander verrechnet werden können und nicht stets eine kostenverursachende Transaktion auf der Blockchain erforderlich ist. Wenn Kunde A etwa eine bestimmte Menge eines Kryptowerts erwirbt und Kundin B gleichzeitig dieselbe Menge veräußert, muss bei Omnibus Wallets keine Transaktion auf Ebene der Blockchain ausgelöst werden. Die Kryptowerte bleiben auf derselben Blockchain-Adresse und werden nur „off-chain“ durch ein internes Buchführungssystem des Verwahrers den einzelnen Kunden zugeordnet. Je mehr Kunden und Transaktionen es gibt, desto größer ist dieser praktische Vorteil von Omnibus Wallets. Verschiedenartige Kryptowerte – etwa Bitcoin und Ether – können dadurch nicht auf einer Blockchain-Adresse gepoolt werden, pro Blockchain reicht aber für eine Vielzahl von Kunden eine Omnibus Wallet aus, was eine erhebliche Vereinfachung darstellt.

Rechtlich wird es dadurch aber gleich viel komplizierter: Darüber, ob bei solchen Omnibus Wallets das Vermögenstrennungsprinzip gewahrt wird, lässt sich nämlich trefflich streiten. Es werden zwar nicht die eigenen Kryptowerte des Verwahrers mit denen der Kunden vermischt, die Kryptowerte der Kunden werden aber eben untereinander vermischt und – anders als bei Segregated Wallets – nicht für jeden Kunden auf der Blockchain getrennt verwahrt. Noch schwieriger wird es, wenn der Verwahrer die Transaktionskosten, die bei Blockchain-Transaktionen anfallen und technisch bedingt von der Sender-Wallet – also aus dem gepoolten Kundenvermögen – gezahlt werden, wieder auffüllt, indem er aus seinem eigenen Vermögen eine entsprechende Menge an Kryptowerten an die Omnibus Wallet transferiert. Dieser Service ist auf den ersten Blick im Interesse der Kunden, da die Transaktionskosten damit im Ergebnis nicht vom Treuhandvermögen gezahlt werden. Wenn der Ausgleich durch Eigenvermögen des Verwahrers aber aus rechtlicher Sicht als Verstoß gegen das Vermögenstrennungsprinzip angesehen würde, wäre den Kunden damit nicht geholfen. Der eigentlich gut gemeinte Ausgleich der Transaktionskosten würde dann dazu führen, dass die Kunden ihre Kryptowerte im Falle der Insolvenz des Verwahrers verlieren, also nicht mehr nach § 47 InsO aussondern könnten.

Angekommen auf der Agenda des Gesetzgebers: MiCAR und KMAG

Nun lassen sich auch bei Omnibus Wallets gute Gründe dafür anführen, dass weder das Pooling der Kryptowerte mehrerer Kunden auf einer Blockchain-Adresse noch der Transaktionskostenausgleich den Aussonderungsrechten der Kunden entgegenstehen. Diese Auffassung ist aber jedenfalls umstritten und schon die damit bestehende Rechtsunsicherheit ist geeignet, das Vertrauen der Kunden zu beeinträchtigen. Wer würde seine Kryptowerte schon einem Verwahrer anvertrauen, wenn er sich nicht darauf verlassen kann, dass er diese im Falle der Insolvenz des Verwahrers zurückerhält?

Mit der zunehmenden Bedeutung von Kryptomärkten überrascht es nicht, dass es nicht allzu lange gedauert hat, bis dieses Thema auch auf der Agenda des Gesetzgebers angekommen ist. So widmet sich die Verordnung (EU) 2023/1114 über Märkte für Kryptowerte – besser bekannt als MiCAR (kurz für Markets in Crypto-Assets Regulation) – auch dem Verbraucherschutz und speziell der hier betrachteten Problematik der Kryptoverwahrung. Anbieter von Kryptowerte-Dienstleistungen, wozu auch Kryptoverwahrer gehören, werden etwa ausdrücklich verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um insbesondere im Falle der Insolvenz des Anbieters von Kryptowerte-Dienstleistungen die Eigentumsrechte der Kunden zu schützen und zu verhindern, dass die Kryptowerte von Kunden für eigene Rechnung verwendet werden (Art. 70 Abs. 1 MiCAR). Speziell für Kryptoverwahrer ist außerdem eine Pflicht zur Vermögenstrennung vorgesehen (vgl. Art. 75 Abs. 7 MiCAR). Der Unionsgesetzgeber hat hier also den Finger in die Wunde gelegt und genau an dsr schwierigen Frage der Vermögenstrennung angesetzt.

In Ergänzung zu den Vorschriften der MiCAR, die auch in Deutschland unmittelbar gelten, hat der deutsche Gesetzgeber außerdem mit § 45 des Kryptomärkteaufsichtsgesetzes (KMAG) eine Vorschrift geschaffen, die in einem solchen Insolvenzfall regelt, wie die Aussonderung verwahrter Kryptowerte durchgeführt wird. Im Anschluss an die Regelungen der MiCAR zur Vermögenstrennung hat der deutsche Gesetzgeber hier ausdrücklich geregelt, dass der im Rahmen der Kryptoverwahrung für einen Kunden verwahrte Kryptowert als dem Kunden gehörig gilt – und zwar auch im Falle der gemeinschaftlichen Verwahrung mittels Omnibus Wallets.

Durchsetzung der Aussonderungsrechte in der Praxis

Mit diesen Regelungen haben die Gesetzgeber auf europäischer und auf nationaler Ebene sichergestellt, dass die Kunden ihre Kryptowerte auch im Falle der Insolvenz des Verwahrers nicht verlieren. Eine andere Frage ist aber im Anschluss daran, wie die Kunden in dieser Situation tatsächlich wieder an ihre Kryptowerte kommen. Theoretisch müssten jedem einzelnen Kunden seine Kryptowerte bzw. sein Anteil am gepooleten Gesamtbestand übertragen werden. Das würde jedoch unzählige Transaktionen auf der Blockchain erfordern – ein zeit- und kostenintensiver Prozess. Der deutsche Gesetzgeber hat daher vorgesehen, dass der Insolvenzverwalter den gesamten Bestand verwahrter Kryptowerte auf einen anderen, von ihm bestimmten Verwahrer überträgt. Das geht allerdings nach der Regelung des § 45 Abs. 3 KMAG nur, wenn die Kunden dieser Gesamtübertragung zustimmen. Der Anreiz, diese Zustimmung zu erteilen, wird dabei dadurch geschaffen, dass nicht zustimmende Kunden die Kosten der Aussonderung ihrer Kryptowerte selbst tragen müssen. Wer dies vermeiden will, muss sich also grundsätzlich mit der Gesamtübertragung auf einen anderen Verwahrer arrangieren. Eine Ausnahme ist nur dann vorgesehen, wenn die Bedingungen, zu denen das andere Institut eine Fortführung des Verwahrverhältnisses anbietet, für den Kunden unzumutbar sind.

Der Gesetzgeber hat hier also eine praktikable Regelung im Sinn gehabt und die Grundlagen hierfür geschaffen. Für die Umsetzung in der Praxis bleiben aber trotzdem zahlreiche Anschlussfragen: Wann sind Verwahrbedingungen als „unzumutbar“ anzusehen? Wie sollen die Kunden ihre Zustimmung zur Übertragung auf einen anderen Verwahrer erteilen? Der einzige Weg dürfte hier wohl eine Klausel in den AGB des insolventen Verwahrers sein, die diesen Fall vorausschauend erfasst.

Die nächsten Herausforderungen warten schon

Auch wenn die Kunden nun also Rechtssicherheit erhalten haben, dass ihre Kryptowerte in der Insolvenz des Verwahrers grundsätzlich geschützt sind, bleiben nicht nur bezogen auf die praktische Durchsetzung offene Fragen. Denn die Welt der Kryptowerte ist enorm schnelllebig – kaum ist ein Schritt in Richtung Rechtssicherheit gemacht, stehen bereits neue rechtliche Probleme im Raum. Ein Beispiel ist das Staking, bei dem Kryptowerte für den Konsensmechanismus der Blockchain eingesetzt und dabei zeitweilig für Transaktionen gesperrt werden und dafür Rewards, also Belohnungen, verdient werden. Spätestens seit die Ethereum-Blockchain im Jahr 2022 vollständig vom sogenannten Proof-of-Work-Mechanismus, also dem energieintensiveren Konsensmechanismus, der auch der Bitcoin-Blockchain zugrunde liegt, auf den Proof-of-Stake-Mechanismus umgestellt wurde, ist Staking mehr als nur ein „Nischenthema“.

Allerdings haben weder der europäische noch der deutsche Gesetzgeber den Insolvenzschutz beim Staking bislang ausdrücklich aufgegriffen. Für die Praxis der Kryptoverwahrung ist die Möglichkeit des Stakings aber reizvoll, da die verwahrten Kryptowerte damit zum Verdienst von Rewards eingesetzt werden können. Auch für Kunden kann das attraktiv sein, lässt sich damit doch ein passives Einkommen erwirtschaften. Wenn die Kunden dadurch ihren Insolvenzschutz verlieren, kann dieses Geschäftsmodell aber kaum funktionieren. Hier stellen sich also ganz ähnliche, bislang nicht abschließend geklärte Fragen. Auch in den kommenden Jahren dürfte es in diesem Bereich spannend bleiben – weitere neue Fragen kommen bestimmt. Eines ist dabei sicher: Der Kundenschutz im Falle der Insolvenz des Verwahrers verdient weiterhin besonderes Augenmerk.

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Autor: Brett Scott eFin-Blog Farbe: gelb

Der Drift ins Digitale: Bargeldlosigkeit, CBDCs und die Narrative, die wir brauchen

Der Drift ins Digitale: Bargeldlosigkeit, CBDCs und die Narrative, die wir brauchen

Brett Scott im Interview mit Caroline Marburger

21. August 2025

English version

Bargeld verschwindet – nicht laut, sondern leise: mit dem ruhigen Summen von Terminals, Apps und mit lautlosen Zahlungsflüssen. Das liege an einem systemischen Trend zur Bargeldlosigkeit, so Brett Scott. Statt von einem einzelnen Entscheidungsträger getragen, sei er geprägt von den Kräften des globalen Kapitalismus. Dargestellt werde dieser Wandel jedoch oft, als handele es sich hierbei um eine Entscheidung der Verbraucher:innen.

Als Bargeld-Verfechter untersucht Brett Scott die Politik digitaler Zahlungen und CBDCs und hinterfragt nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, wie der Diskurs geführt wird. Die Debatte um Bargeld, CBDCs oder digitale Zahlungen wirkt oft repetitiv, bekannte Gegensätze werden aufgemacht: Staat vs. Markt, Kontrolle vs. Freiheit, Innovation vs. Nostalgie. Im Interview spricht der Autor über seine in der Anthropologie geschulte Sichtweise, seine Erfahrungen in der Hochfinanz, unversöhnliche Meinungen zu digitalen Zentralbankwährungen, und wie alternative Metaphern neue Perspektiven eröffnen.

Mehrere Sprechblasen, binärer Code und Währungszeichen expandieren scheinbar von einer hellen Quelle im hinteren Mittelpunkt des Bildes aus nach vorne

Sie haben sowohl einen Abschluss in Anthropologie als auch in Internationaler Entwicklung. Nach Ihrem Studium haben Sie allerdings zunächst als Broker gearbeitet. Was haben Sie dabei über unsere Sichtweise auf das Geldsystem gelernt?

Nach meinem Studium habe ich mich in die aggressive Welt des Derivatehandels begeben. Das war zum Teil ein anthropologisches Abenteuer, bei dem ich die verwirrenden Machtstrukturen der Weltwirtschaft kennenlernen wollte. Schließlich ist der beste Weg, etwas zu verstehen, es selbst zu erleben.

Aber nachdem ich einige Jahre als Broker gearbeitet hatte, auch während der Finanzkrise, wurde mir klar, dass Kenntnisse im Bereich Hochfinanz nicht unbedingt hilfreich sind, um das Geldsystem zu verstehen. Viele Menschen in der Hochfinanz haben nur ein oberflächliches Verständnis des Geldsystems, weil es für ihre Arbeit nicht direkt relevant ist. Ich habe schließlich das Interesse an dieser Arbeit verloren und mich mehr mit alternativen Geldkonzepten beschäftigt. 2013 habe ich „The Heretic’s Guide to Global Finance. Hacking the Future of Money” veröffentlicht. Dadurch bin ich mit verschiedenen Gruppen in Kontakt gekommen, die sich mit alternativen Finanz- und Geldsystemen beschäftigen.

Sie schreiben darin auch, die landläufigen Wirtschafts- und Finanzdiskurse seien allzu oft „exklusive Gesprächsrunden für politische Eliten und Wirtschaftsexperten”. Sie interessieren sich hingegen für alternative Sichtweisen. Bieten Ideen aus dem Technologiesektor – Ideen und Unternehmen, die wir oft unter dem Begriff „Fintech” zusammenfassen – solche Alternativen?

Nach der Finanzkrise sahen sich einige Tech-Konzerne als Revolutionäre mit dem Ziel, die Finanzwelt zu digitalisieren und zu demokratisieren. Aber statt zu revolutionieren, liefern sie das, was das kapitalistische System schon immer angetrieben hat: Automatisierung. Und helfen derart dabei, die großen Tech-Unternehmen mit dem Finanzsektor zu fusionieren.

Mir wurde klar, dass sich diese Verschmelzung von Big Finance und Big Tech in unserer Gesellschaft als eine Art ideologischer Angriff auf das Bargeldsystem manifestiert. Menschen werden zunehmend dafür beschämt, dass sie sich nicht der digitalen Beschleunigung anschließen. Diese Denkweise beeinflusst sogar die Entscheidungen der Zentralbanken, beispielsweise wenn sie das Gefühl haben, „mit den Trends Schritt halten zu müssen”.

In Ihrem letzten Buch „Cloudmoney“ diskutieren Sie einen systemischen Trend zur Automatisierung im Finanzwesen und den Rückgang des Bargeldgebrauchs . Was meinen Sie mit systemischen Veränderungen?

Ich untersuche systemische Tendenzen des globalen Kapitalismus. In einem solchen System gibt es einen inneren Druck, zu expandieren und zu beschleunigen. Bargeld verlangsamt diesen Prozess eindeutig – zum Beispiel für Amazon. Allerdings verfolgen Amazon und ähnliche Unternehmen kaum jemals eine direkte Anti-Bargeld-Strategie. Nur Unternehmen wie VISA oder Mastercard haben da explizitere Absichten, da sie Geld verlieren, wenn Bargeld verwendet wird.

Was jedoch systematisch zu beobachten ist: Verschiedene Akteure finden Wege, Bargeld langsam abzuschaffen. Banken schließen Geldautomaten und beklagen, dass die Infrastruktur zu teuer sei, wodurch es für Kundinnen und Kunden schwieriger wird, Bargeld abzuheben, zu verwenden oder einzuzahlen. Gleichwohl manifestiert sich das in Ihrem Umfeld und Alltag so, als sei das Ihre Wahl.

Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel: Vor fünf Jahren konnte man in London an Bahnhöfen mit Bargeld oder Karte bezahlen. Die Menschen begannen zusehends, Karten zu verwenden. Das heißt aber nicht, sie hätten die Abschaffung der Bargeldzahlung gefordert. Als die Verkehrsbehörde Transport for London (TfL) sicher war, dass genügend Menschen Karten nutzen, haben sie in 2020 die Möglichkeit, mit Bargeld zu bezahlen, abgeschafft. Angeblich als Reaktion auf die zunehmende Verwendung von Karten.1Anm. d. Red.: Aufgrund von Protesten wurde eine komplette CashFree-Lösung im Juni 2021 jedoch aufgehoben und Bargeld vielerorts wieder angenommen.

Das heißt, den Nutzer:innen wird nicht nur die eine, sondern auch die andere Tür eröffnet. Während zusehends die andere Tür genutzt wird, wird die erste Tür verschlossen. Sie sind eingesperrt bzw. umgeschleust worden. Ihre Wahlmöglichkeit wurde ihnen entzogen. Gebeten hatten sie darum nicht. Es dient aber den Automatisierungsinteressen des Unternehmens. Da die Kunden jedoch scheinbar eine Wahl getroffen haben, entsteht in ihrem Kopf eine seltsame Dissonanz: „Nun, ich schätze mal, wir wollten das so?“

Es sind all diese subtilen Nudging-Prozesse am Werk. Das passiert in kapitalistischen Systemen ständig: Eine Reihe von Akteuren trifft Entscheidungen in Ihrem Namen, aber es sieht so aus, als hätten stattdessen Sie etwas gewählt. In Wirklichkeit wird der „Krieg gegen das Bargeld“ also nicht von einem, sondern von vielen verschiedenen Akteuren geführt. Aber viele dieser Akteure sehen sich gar nicht als Agenten der Transformation: „Das ist doch nur Business, oder?“ Sie sehen an ihrem Handeln nur die geringfügige Kostensenkung, die sie erzielt haben und erzielen wollten.

Dieser systemische Druck hin zu einer bargeldlosen Gesellschaft ist auch eine der Inspirationsquellen für CBDCs wie den digitalen Euro?

Die ursprünglichen Befürworter von CBDCs waren Vertreter monetärer Reformen, die meinten, der Bankensektor sei zu mächtig und die Geschäftsbanken hätten zu viel Macht, um ihre digitalen Casino-Chips auszugeben und damit unser Leben zu dominieren.

Sie beschreiben Bankguthaben metaphorisch oft als „digitale Casino-Chips“. Können Sie das bitte erklären?

Die meisten Menschen denken, wenn sie an den Euro, das Pfund oder den Dollar denken, dass es sich um ein einziges System handelt. Begriffe wie Geld oder eben Euro klingen, als wäre es eine singuläre Sache. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Ökosysteme, um ein verkettetes Ökosystem unterschiedlicher Akteure.

Sie meinen das moderne zweistufige Währungssystem.

Ja. Und eine Möglichkeit, die Grundlagen seiner Funktionsweise zu veranschaulichen, ist die Verwendung von Casino-Chips als Metapher. Denn die meisten Menschen können konzeptionell zwischen Bargeld und Casino-Chips unterscheiden. Sie sehen anders aus und haben einen anderen Namen. Ich gebe Bargeld an ein Casino, bekomme Chips und kann die Chips im Casino verwenden. Dann kann ich zurückkommen, das Bargeld zurückfordern und gehen. Das sind zwei verschiedene Formen von Geld. Bargeld ist wie eine öffentliche Form von Geld, ausgegeben von einer Zentralbank. Das andere ist eine private Form von Geld, ein Casino-Chip, der von einer privaten Einrichtung ausgegeben wird.

Das ist eine sehr nützliche Metapher, um über den Bankensektor zu sprechen. Sie ist nicht perfekt, aber sie hilft zu verstehen, was „going cashless“ auch bedeutet. Wissen Sie, was Sie anstelle von Bargeld verwenden? Sie verwenden stattdessen eine Art digitaler Casino-Chips, die von Geschäftsbanken ausgegeben werden. Darauf basiert dann die bargeldlose Gesellschaft.

Und mit der Zunahme bargeldloser Zahlungen erscheint die Idee einer digitalen Zentralbankwährung plötzlich sinnvoller?

Einige der frühen Befürworter von CBDCs sagten: Da immer weniger Bargeld im Umlauf ist, brauchen wir eine andere Art von digitalem Geld, um der zunehmenden Macht von privat emittiertem Geld entgegenzuwirken und die Macht des Bankensektors zu reduzieren. Der Bankensektor spricht stattdessen aber immer wieder von den Gefahren der Disintermediation.

Also davon, was drohen würde, würden die Geschäftsbanken in diesem zweistufigen Geldsystem ihre Rolle als Vermittler oder eben Intermediäre verlieren.
Als Sie sich in Ihrem Newsletter mit CBDCs befasst haben, haben Sie gesagt, man solle anstelle eines weiteren “hot takes”, also einer weiteren provokanten Ansicht zum Thema zunächst über die zugrundeliegenden Annahmen nachdenken. Warum halten Sie das für so wichtig?

Weil Menschen je nach ihrem politischen Hintergrund zu bestimmten Standardschlussfolgerungen gelangen, ohne darüber nachzudenken. Der Verstand löst das einfach für einen. Ich verstehe das als eine Art Schach- oder Spielbrett. Die Art und Weise, wie man sich die Gesellschaft vorstellt, das Spielbrett, das man aufgestellt hat, beeinflusst, wie man bestimmte Dinge in diesem Kontext analysiert.

Welche gängigen Hintergrundannahmen gibt es und zu welchen Schlussfolgerungen führen sie in Bezug auf CBDCs?

Wenn Ihre Hintergrundannahme lautet, dass es erstens einen grundlegenden Unterschied zwischen Staat und Markt gibt und zweitens, dass zwischen Markt und Staat ein Krieg herrscht – eine klassische libertäre Annahme –, dann gehen Sie automatisch davon aus, dass eine CBDC oder der digitale Euro ein Versuch des Staates ist, den Markt zu dominieren.

Und aus einer eher linken Perspektive?

Aus einer traditionell sozialistischen Perspektive geht man eher davon aus, dass die gesamte Gesellschaft zusammenarbeiten kann, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Momentan wird unser System vielleicht noch von großen Konzernen dominiert, so der Gedanke, aber wenn wir alle zusammenarbeiten, können wir ein besseres Währungssystem schaffen. Der digitale Euro werde aber derzeit vom Bankensektor kooptiert und verwässert, was ihm aber die Kraft raubt, um mit dem Bankensektor konkurrieren zu können. Stattdessen sollte eine mächtigere CBDC geschaffen werden, die der Macht des Bankensektors entgegenwirken könnte.

Und Sie skizzieren noch eine andere Perspektive.

Ja, es gibt eine eher „anarchistische” Sichtweise. Ich komme aus der Wirtschaftsanthropologie, die eine lange Tradition hat, die komplexen Verbindungen zwischen Staaten und Märkten und ihre symbiotische Beziehung zu untersuchen. Da die Wirtschaftsanthropologie ursprünglich eng mit dem Kolonialismus verbunden war, ist man sich sehr bewusst, wie imperiale Mächte Märkte geschaffen haben. Sie taten dies beispielsweise, indem sie den Menschen Steuern aufzwangen. Die Eroberer zogen die Eroberten in Marktstrukturen hinein, indem sie sie vom Geld abhängig machten. Gerade weil die Wirtschaftsanthropologie aus erster Hand miterlebt hat, wie Staaten künstlich Märkte schaffen können, hat sie eine lange Geschichte solcher „anarchistischen Standpunkte”. Aus dieser Perspektive ist der vermeintliche Kampf zwischen Staat und Markt kein Kampf. Staaten stützen vielmehr die Märkte. Stattdessen diskutiert man über die relative Macht der verschiedenen Akteure.

Wenn solche Grundannahmen unsere Wahrnehmung eines digitalen Euro prägen, welche Auswirkungen hat das auf den demokratischen Diskurs und die Debatte? Wie können wir Missverständnisse vermeiden und eine ausgewogene Diskussion gewährleisten, ohne immer bloß eine Perspektive gegenüber einer anderen zu bevorzugen?

Das ist eine grundlegende Herausforderung für die Kommunikation. Manchmal findet eine Idee keinen Anklang, weil sie nicht richtig verstanden wird. Es ist entscheidend, Wege zu finden, um zugängliche Narrative zu schaffen. Ich verwende beispielsweise Metaphern, um politische Differenzen effektiv zu überbrücken. Ich vergleiche Bargeld mit einem öffentlichen Fahrrad und digitale Zahlungen mit einem privaten Uber. Das bricht mit vorgefassten Meinungen, ohne eine ideologische Position zu beziehen. Diese Metaphern verdeutlichen strukturelle Vielfalt: Die Menschen können sofort verstehen, dass man sowohl ein Fahrrad als auch Uber nutzen kann. Das ähnelt einem grundlegenden Prinzip der menschlichen Resilienz, das sich mit Machtverhältnissen befasst – ohne ideologische Voreingenommenheit.

Es ist wichtig, Wege zu finden, um zugängliche Erzählungen zu schaffen. Ich versuche solche zu nutzen, die politische Differenzen wirksam umgehen. Ich spreche davon, dass Bargeld das öffentliche Fahrrad des Zahlungsverkehrs sei, der digitale Zahlungsverkehr das private Uber des Zahlungsverkehrs: das zerstört sofort eine Reihe von Ideen in den Köpfen der Menschen. Es ist keine besonders ideologische Position. Vielmehr handelt es sich um eine strukturelle Aussage über Vielfalt und Machtgleichgewicht. Viele können verstehen, dass man sowohl das Fahrrad als auch Uber als Optionen beibehält. Es ist auch eine der wirkungsvollsten Analogien, da einem Fahrrad ein positiver Wert beigemessen wird. Als Bild bricht es die Annahme üblicher Fortschrittserzählungen, nach denen mehr Komplexität, Geschwindigkeit und Größe immer besser sind.

Verschiedene Metaphern können unterschiedliche Punkte veranschaulichen. Ich verwende auch die Analogie von Treppen und Aufzügen, um systemische Resilienz zu diskutieren. Aufzugsbetreiber konzentrieren sich auf den Gewinn, indem sie Aufzüge installieren, anstatt die Treppen in Ihrem Gebäude zu warten. Aber auch wenn Sie fast immer den Aufzug nutzen, möchten Sie wahrscheinlich trotzdem die Möglichkeit haben, die Treppe nutzen zu können. Aufzüge sind zwar bequem, aber Treppen als Alternative sind im Notfall unverzichtbar. Diese Analogie verdeutlicht, wie wichtig es ist, mehrere Optionen zu haben.

Menschen bevorzugen im Allgemeinen mehr Optionen. Selbst diejenigen, die sich für digitale Fortschritte einsetzen, erkennen die Bedeutung der Wahlfreiheit an. Angesichts der Abschaffung des Bargeldes greifen viele Menschen auf Narrative über den Fortschritt zurück. Die Frage, warum ihre Optionen eingeschränkt werden, kann zu tieferen Überlegungen und Diskussionen anregen.

Sie sind in erster Linie ein Verfechter von Bargeld und kritisieren den Trend zu digitalen Zahlungen. Eine CBDC wie der digitale Euro soll „digitales Bargeld“ sein, also eine digitale Zahlungsmethode, die potenziell bargeldähnlicher ist. Wie sehen Sie das?

Der offizielle Diskurs ist oft wenig inspirierend, was wahrscheinlich zum Teil auf die Einschränkungen zurückzuführen ist, denen Institutionen wie die EZB unterliegen. Ihre Aussagen sind oft banal. Das ist zwar nicht immer der Fall, aber meine Erfahrung mit öffentlichen Konsultationen zum Thema CBDCs im Vereinigten Königreich sowie mit offiziellen Stellungnahmen von Organisationen wie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und Personen wie Christine Lagarde ist, dass sie oft sehr allgemein gehalten sind.

Ich bin frustriert darüber, dass sie sich weigern, die politische Dimension der Digitalisierung anzuerkennen. Sie diskutieren darüber, als handele es sich lediglich um eine Frage der allgemeinen Präferenz, und ignorieren dabei die strukturellen Prozesse und Machtverhältnisse, die dabei eine Rolle spielen. Ich hinterfrage, warum die Menschen sich vom Bargeld abwenden. Es wird einfach nicht berücksichtigt, wer diese Veränderungen vorantreibt.

Mit ihren pauschalen Aussagen unterstützen Zentralbanken unbeabsichtigt die aktuellen Trends, anstatt eine Führungsrolle zu übernehmen und die zugrundeliegenden Ursachen kritisch zu hinterfragen. Diese mangelnde Tiefe der Debatte ist enttäuschend.

Einerseits könnte eine CBDC als weiterer Schritt in Richtung digitaler Zahlungen gesehen werden, der Bargeld möglicherweise überflüssig macht. Andererseits könnte ein digitaler Euro eine Alternative in einem von privatem Geld dominierten digitalen Raum bieten und mehr Optionen für Transaktionen schaffen, insbesondere online. Das aktuelle Gesetzespaket der EU kombiniert eine Rechtsvorschrift, die die Erhaltung des Bargeldes garantiert, mit einer anderen, die den digitalen Euro einführt. Was halten Sie von diesem dualen Ansatz?

In einem sich rasch ausweitenden kapitalistischen System reicht es nicht aus, sich neutral gegenüber Bargeld zu äußern, um die systemischen Prozesse aufzuhalten. Zentralbanken erleichtern oft indirekt den Übergang zu bargeldlosen Systemen. Im Vereinigten Königreich beispielsweise haben sie den Rückgang des Bargeldgebrauchs zugelassen, indem sie nicht eingegriffen haben. Das ist keine Neutralität, sondern eine passive Billigung des Trends. Ich bin eher für die Unterstützung von Bargeld als für CBDCs, was mit meiner allgemeinen Skepsis gegenüber endloser Automatisierung und Digitalisierung zusammenhängt.

Diese Trends sind auf lange Sicht nicht nachhaltig. Während strukturelle Kräfte diese Trends vorantreiben, könnte eine öffentliche Version digitaler Systeme einer rein privaten vorzuziehen sein. Wenn Ihre Aufgabe darin besteht, digitale Zahlungssysteme zu verbessern, scheint die Einführung eines öffentlichen Akteurs von Vorteil. Und die Verbesserung des Machtgleichgewichts zwischen verschiedenen Akteuren im Bereich des digitalen Geldes ist zwar wichtig, darf jedoch niemals als Hintertür dienen, um die Digitalisierung im Allgemeinen weiter voranzutreiben.  

Der duale Ansatz reicht also nicht?

Ich stimme der zugrundeliegenden Annahme schlicht nicht vollständig zu. Es besteht die Gefahr, dass die Befürwortung von CBDCs unbeabsichtigt eine breitere Bewegung weg von analoger Materialität unterstützt, die schädlicher sein könnte als die Debatte zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Das eigentliche Problem ist der Dualismus zwischen dem Digitalen und dem Physischen und das unerbittliche Streben nach Beschleunigung.

Es gibt erhebliche Diskussionen über die Offline-Fähigkeiten von CBDCs, für deren Entwicklung erhebliche Mittel bereitgestellt werden. Meiner Meinung nach sollten die Zentralbanken jedoch echte Führungsstärke zeigen, indem sie eine Vision bieten, die über die erwartete Digitalisierung des Geldes hinausgeht. Obwohl die Digitalisierung oft als innovativ angepriesen wird, folgt sie lediglich erwarteten Trends und geht nicht auf tiefere menschliche Bedürfnisse ein. Die Menschen sind zunehmend erschöpft von dem unerbittlichen Drang nach Geschwindigkeit und Effizienz.

Was könnte Ihres Erachtens dagegen unternommen werden?

Ich freue mich, dass Ihr Institut namentlich eine verantwortungsbewusste Digitalisierung in Betracht zieht, aber das bleibt im Rahmen des allgemeinen Diskurses. Die Nicht-Digitalisierungs-Perspektive wird oft als Nostalgie abgetan. Ein kultureller Wandel könnte jedoch eintreten, wenn die Menschen beginnen würden, analoge und nicht-digitale Dinge als zukunftsweisend und unverzichtbar statt nur als nostalgisch oder rückständig zu betrachten. Dies ist insbesondere angesichts der begrenzten Ressourcen und unserer Abhängigkeit von digitalen Systemen zu berücksichtigen. Eine verantwortungsbewusste Digitalisierung sollte Teil eines umfassenderen Programms zur Neugewichtung unserer Systeme sein.

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Autor: Anja von Rosenstiel und Daniel Ostrovski eFin-Blog EU-Politik Farbe: gelb

Kryptoregulierung im transatlantischen Wettstreit: Die EU-Verordnung MiCAR im Angesicht der neuen US-Kryptopolitik

Kryptoregulierung im transatlantischen Wettstreit: Die EU-Verordnung MiCAR im Angesicht der neuen US-Kryptopolitik

Ein Beitrag von Anja von Rosenstiel und Daniel Ostrovski

27. Juni 2025

Die EU war lange mit der Market in Crypto Asset Verordnung (MiCAR)1Verordnung (EU) 2023/1114 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. Mai 2023 über Märkte für Kryptowerte (MiCAR). weltweit der „first mover“ in ihrer Anstrengung, den Kryptomarkt zu regulieren. Die 2020 von der EU-Kommission vorgeschlagene, 2023 verabschiedete und seit 2024 in Kraft getretene MiCAR erhebt den Anspruch vollumfänglich die Ausgabe und den Handel von sowie Dienstleistungen mit Blockchain-Token, in der MiCAR als „Kryptowerte“ bezeichnet, zu regeln. Die MiCAR spickt dabei in ihrem Regelungsmodell bei bewährten Regelwerken des europäischen Finanzmarktaufsichtsrechts. Die Strenge der verordneten Regeln variiert abhängig von der Art des jeweiligen Kryptowerts – in jedem Fall erhöht die MiCAR aber die Barrieren für den Marktzutritt in der EU.

Ein Blick auf eine Wettlaufbahn, MiCAR mit EU Flagge und GENIUS mit US-Flagge laufen gegeneinander und USA holt auf

Gegenläufig ist dagegen die Entwicklung in den USA: Während bis zuletzt die Wertpapieraufsicht, die Securities and Exchange Commission (SEC), in zahlreichen Verfahren quasi jegliche Aktivität auf dem Kryptomarkt – von der Kapitalbildung, Verwahrung bis hin zum Zweitmarkthandel – als Verstoß gegen das US-Wertpapierrecht und damit als illegal behandelt hat, hat nun der Regierungswechsel im Januar 2025, in Folge eines präsidentiellen Dekrets, eine radikale Kehrtwende der SEC und anderer Aufsichtsbehörden im Umgang mit dem Kryptomarkt mit sich gebracht. Statt kryptofeindlichen Durchsetzungsmaßnahmen steht jetzt Innovation an erster Stelle und damit verbunden eine umfassende Liberalisierung des Marktes. Nunmehr ist in den USA der Kongress am Zug und eine gesetzliche Regulierung des Kryptomarkts in den USA scheint in Sicht zu sein. Eine solche Regulierung kann Auswirkungen auf die EU haben – eine Betrachtung der MiCAR in diesem Lichte drängt sich daher auf.

Abschied vom übergeordneten Ziel der Finanzstabilität

Eine parteiübergreifende Mehrheit im US-Kongress will dem rasant wachsenden Kryptomarkt einen gesetzlichen Rahmen geben. Die Namen der Gesetzesvorschläge, „FIT21“ oder „GENIUS Act“, reflektieren die Absicht des großen Wurfs. Überschattet wird dieses Reformbemühen allerdings von dem persönlichen Engagement des Präsidenten und anderer Mitglieder seiner Regierung auf dem Kryptomarkt. Die republikanische Mehrheit sieht in dieser „krypto-freundlichen Haltung“ die Chance, den Finanzmarkt grundlegend zu reformieren. Die Demokraten sind tief gespalten, ob sie durch Totalverweigerung und Erhalt des Status Quo oder konstruktive Zusammenarbeit und Schaffung eines Regelungsrahmens der „Korruption“ Grenzen setzen sollen.2Vgl. Presseerklärung des U.S. Senats vom 11. Juni 2025: https://www.banking.senate.gov/newsroom/minority/on-senate-floor-warren-urges-colleagues-to-use-their-leverage-and-vote-no-on-genius-act-until-critical-issues-addressed. Einzelne Demokraten haben Gesetzesvorschläge vorgelegt, wie z. B. den Meme Coin Act, um Meme Coins in Reaktion auf den $Trump Token zu verbieten,3Vgl. 119th Congress (2025-2026): MEME Act, S.1620: https://www.congress.gov/bill/119th-congress/senate-bill/1620/text/is. oder den End Crypto Corruption Act, um jegliches Krypto-bezogene Engagement von Regierungsmitgliedern zu unterbinden,4Vgl. 119th Congress (2025-2026): End Crypto Corruption Act, S. 1668: https://www.kelly.senate.gov/wp-content/uploads/2025/05/End-Crypto-Corruption-Act.pdf. in Anspielung auf den Milliardengewinn der Trump-Familie aus ihren Krypto-Investitionen5Vgl. Trump family’s net worth has increased by $2.9 billion thanks to crypto investments, new report says, CBS News, 2. Mai 2025: https://www.cbsnews.com/news/trump-family-net-worth-crypto-investments/.. Nichtsdestotrotz verabschiedete der Senat mit parteiübergreifender Mehrheit am 17. Juni 2025 den GENIUS Act. Die Befürworter unter den Demokraten wollten nicht als innovationsfeindlich gelten und mit dem GENIUS Act mit anderen Rechtsordnungen wie derjenigen der EU aufschließen. Die Stimmverweigerer wollten,6Vgl. Trump to host dinner for top holders of his crypto token – although many lost money with it, The Guardian, 22. Mai 2025: https://www.theguardian.com/us-news/2025/may/22/trump-crypto-sweepstakes-dinner. indem sie so auch den von der Trump-Familie über die Plattform World Liberty Financial herausgegebenen Stablecoin legalisieren, nicht auch noch Beihilfe zu solcher Vorteilsannahme leisten.7Vgl. Trump’s stablecoin chosen for $2 billion Abu Dhabi investment in Binance, co-founder says, Reuters, 1. Mai 2025: https://www.reuters.com/world/middle-east/wlfs-zach-witkoff-usd1-selected-official-stablecoin-mgx-investment-binance-2025-05-01/.

Im nächsten Schritt muss der Guiding and Establishing National Innovation for US Stablecoins Act (GENIUS Act)8Vgl. Text – S.394 – 119th Congress (2025-2026) – GENIUS Act: https://www.congress.gov/bill/119th-congress/senate-bill/394/text. mit dem Stablecoin Transparency and Accountability for a Better Ledger Economy Act of 2025 (STABLE Act)9Text – H.R. 2392 – 19th Congress (2025-2026) – STABLE ACT: https://www.congress.gov/bill/119th-congress/house-bill/2392/text. dem Gesetzesentwurf aus dem Repräsentantenhaus (sog. House), abgeglichen werden und das House einem solchen Gesetz zustimmen. Schon gibt es Streit, ob GENIUS und STABLE Act verschmolzen oder das House lediglich dem GENIUS Act nach dem Willen von Präsident Trump zustimmt.10Vgl. GENIUS Act Reaches House But Progress Hinges On CLARITY Act Merger, Coingape, 25. Juni 2025:https://coingape.com/genius-act-reaches-house-but-progress-hinges-on-clarity-act-merger/. Die Gesetzespakete sind in den wesentlichen Punkten, wie z. B. Nicht-Banken das Emittieren von Payment Stablecoins zu erlauben, was die 100% Garantie des Rücktauschanspruchs oder das Reservemanagement angeht, sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich aber in einem wichtigen Punkt, nämlich ob widersprechende Regelungen einzelner Bundesstaaten durch das Bundesgesetz ausgeschlossen werden sollen. Der STABLE Act sieht das vor, der GENIUS Act schweigt dazu. Das könnte im Repräsentantenhaus zum Problem werden. Die parteiübergreifenden Argumente für die Verabschiedung eines konsolidierten Gesetzesentwurfs sind dieselben wie im Senat: Die Vormachtstellung des Dollars auch im Digitalzeitalter zu erhalten, einen rasant wachsenden neuen Absatzmarkt für US-Staatsanleihen zu schaffen11Vgl. Präsentation des Treasury Borrowing Advisory Committee (TBAC), 30. April 2025: https://home.treasury.gov/system/files/221/TBACCharge2Q22025.pdf. und schließlich ausländische Emittenten, allen voran Tether, die ihre Dollar-gebundenen Stablecoins auf dem US-Markt anbieten, zu regulieren. Zurzeit halten Dollar-gebundene Payment Stablecoins 99 % des 234-Milliarden-Dollar-Marktes.12Vgl. ebd. und Treasury Secretary Scott Bessent sees stablecoins creating $2T in demand for government debt, CryptoSlae, 8. Mai 2025:https://cryptoslate.com/treasury-secretary-scott-bessent-sees-stablecoins-creating-2t-in-demand-for-government-debt/.

Das Thema Finanzstabilität, in der MiCAR durch die Anwendung bankaufsichtsrechtlicher Instrumente auf Nicht-Banken und Kryptowert-Emittenten abgedeckt, findet im Genius Act keine Entsprechung. Nicht-Banken müssen als Stablecoin-Emittenten nach dem GENIUS Act keine erhöhte Eigenkapitalquote bilden, wie es für Stablecoin-Emittenten unter der  europäischen Regelung Pflicht ist.13Vgl. Erwägungsgrund Nr. 59 und 71 MICAR Der GENIUS Act sieht zwar ebenso wie MiCAR eine 100-Prozent-Deckung des Rücktauschanspruchs vor. Jedoch unterliegen diese Emittenten nicht den strengen Kapitalanforderungen, die für Banken gelten.14Vgl. Stablecoin Legislation: An Overview of S. 919, GENIUS Act of 2025 : https://www.congress.gov/crs-product/IN12522. Daneben darf das Reservevermögen auch von Nicht-Banken verwahrt werden.15Vgl. Stablecoin Legislation: An Overview of S. 919, GENIUS Act of 2025, Update vom 16. April 2025: https://www.congress.gov/crs_external_products/IN/PDF/IN12522/IN12522.2.pdf.Hier zeigt der GENIUS Act, dass er den Einstieg von Nicht-Banken in den Finanzsektor erleichtern und nicht erschweren will.16Vgl. Why Passing the Stablecoin GENIUS Act Might Not Be So Smart, The New Yorker, 23. Juni 2025: https://www.newyorker.com/news/the-financial-page/why-passing-the-stablecoin-genius-act-might-not-be-so-smart.

Zuvor hatten die für die Aufsicht des Bankensektors zuständigen US-Behörden die von ihnen beaufsichtigten Finanzinstutionen angewiesen, diesen Fintechs keinerlei Serviceleistungen anzubieten und den Zugang zur förderalen Bankinfrastruktur zu verweigern. Es war eine der Hauptforderungen der Kryptoindustrie im Wahlkampf 2024, dieses sog. Debanking zu beenden.17Vgl. Anja von Rosenstiel: Die 180-Grad-Wende – die Folgen des Wahlausgangs in den USA für den U.S. Kryptomarkt, RDi 2025, 75 (80 ff.); vgl. Myth vs. Fact: The GENIUS Act, US Senate Committee on Banking, Housing, and Urban Affairs, Newsroom, 8. Mai 2025: https://www.banking.senate.gov/newsroom/majority/myth-vs-fact-the-genius-act#:~:text=Fact:%20The%20bill%20imposes%20guardrails,as%20they%20do%20for%20banks. Das Ergebnis ist diese FinTech-freundliche Regelung zugunsten der Etablierung von Innovation im Finanzsektor, wie der Titel des Gesetzes es verspricht. Diese Innovation ermöglicht es nun auch „Big Tech“ wie Amazon oder Walmart, Stablecoins herauszugeben, wenn sie sich dem Aufsichtsregime als Finanzinstitutionen unterwerfen.18Vgl. Myth vs. Fact: The GENIUS Act, US Senate Committee on Banking, Housing, and Urban Affairs, Newsroom, 8. Mai 2025: https://www.banking.senate.gov/newsroom/majority/myth-vs-fact-the-genius-act#:~:text=Fact:%20The%20bill%20imposes%20guardrails,as%20they%20do%20for%20banks. Demokratische Gegner des Gesetzesentwurfs sehen darin eine Aufhebung der Trennung zwischen Banken und Handel, die bisher als gesetzlich verankertes Grundprinzip galt.19Vgl. Big Techs consider adopting stablecoins as GENIUS Act debate continues, 6. Juni 2025, Cointelegraph: https://cointelegraph.com/news/big-tech-considers-adopting-stablecoins-as-genius-act-debate-continues. Verbraucherschutz findet sich nicht nur nicht im Titel des Gesetzes wieder, sondern wird zugunsten der Innovation hinten angestellt. Die Zusammensetzung des Reservevermögens zur Deckung des Rücktauschanspruchs unterliegt über monatliche Berichtspflicht und jährliche Audits zwar dem Transparenzgebot. Im Gegensatz zu MiCAR sieht der GENIUS Act aber keine Verhaltens- oder Marktmissbrauchsregeln vor, welche Verbraucher gegenüber unfairen Geschäftspraktiken oder eben Interessenkonflikten wie nach der MiCAR schützen würden und ihnen, wie durch MICAR geschehen, ein Beschwerdeverfahren zur Durchsetzung ihrer Rechte an die Hand gäbe.

Wilder Westen oder innovative Marktinfrastruktur?

Grenzenlose Ausweitung des SEC Mandats unter der Regierung Biden

Payment Stablecoins werden nunmehr gemäß GENIUS Act der Bankenaufsicht, die für die Regelung des Zahlungsverkehrs zuständig ist, unterstellt, wenn sie nicht unter den Schwellenwert von zehn Millarden Dollar fallen und von den Aufsichtsbehörden der Bundesstaaten reguliert werden.20Vgl. Vgl. Stablecoin Legislation: An Overview of S. 919, GENIUS Act of 2025 : https://www.congress.gov/crs-product/IN12522. Sog. Meme Coins hingegen fallen nach Entscheidung der Securities Exchange Commission (SEC) nicht mehr unter die Kapitalmarktaufsicht.21Vgl. Staff Statement on Meme Coins, US Securities and Exchange Commission, 27. Februar 2025: https://www.sec.gov/newsroom/speeches-statements/staff-statement-meme-coins; Statement on Stable Coins, US Securites and Exchange Commission, 4. Apil 2025: https://www.sec.gov/newsroom/speeches-statements/statement-stablecoins-040425.Die Verfahren gegen die größten Krypto-Börsen, allen voran Coinbase und jüngst gegen Binance Holding Ltd., einer Kryptobörse, der die SEC unter Biden noch Veruntreuung von Kundengeldern und Täuschung der Aufsichtsbehörden vorgeworfen hat, hat die SEC eingestellt.22 SEC Announces Dismissal of Civil Enforcement Action Against Coinbase, US Securities and Exchange Commission, Press Release, 27. Februar 2025: https://www.sec.gov/newsroom/press-releases/2025-47; Litigation Release No. 26316, US Securites and Exchange Commission, 29. Mai 2025: https://www.sec.gov/enforcement-litigation/litigation-releases/lr-26316 Damit ist die Ära, durch entsprechende Durchsetzungsmaßnahmen den Kryptomarkt zu regulieren, endgültig vorbei. Während der Amtszeit von Präsident Biden hatte die SEC versucht durch eine Vielzahl von Klagen gegen Kryptobörsen, aber auch gegen Software-Anbieter, ihre Allzuständigkeit für den Kryptomarkt durchzusetzen und damit ihr auf den Kapitalmarkt beschränktes Mandat am Kongress vorbei, zu Lasten der Jurisdiktion anderer Aufsichtsbehörden, so weit wie möglich auszuweiten.23Vgl. Is the US trying to kill crypto?, BBC, 15. Juni 2023: https://www.bbc.com/news/business-65861096. Als Gipfel dieses Übergriffs galt der Staff Accounting Bulletin (SAB) No. 121 der SEC, Verwahrern von Kryptowerten vorzuschreiben, verwahrte Kryptowerte als entsprechenden Vermögenswert in ihren Bilanzen zu führen. Beide Häuser des Kongresses hatten kurz vor der Wahl für die Aufhebung dieser Richtlinien gestimmt. Präsident Biden hatte diese Regelung jedoch mit Hilfe seines Vetos am Leben erhalten und damit das Vorgehen der SEC gutgeheissen. Daneben hatte die Vize-Vorsitzende des Bankenausschusses im Senat, Elizabeth Warren, nach einer Reihe von Krypto-Skandalen, allen voran FDX, eine sog. Anti-Krypto Armee ins Leben gerufen,24Vgl. Elizabeth Warren is building an anti-crypto army. Some conservatives are on board, Politico, 14. Februar 2023: https://www.politico.com/news/2023/02/14/elizabeth-warren-anti-crypto-ftx-00082624. um über eine massive Ausweitung der Geldwäscheregeln und Blockadehaltung gegenüber Gesetzesentwürfen zur Schaffung einer geregelten Marktinfrastruktur, die Technologie aus Sicht der Krypto-Industrie totzuregeln statt sie zu legalisieren und rechtssicher zu regeln wie z.B. in der EU unter MiCAR geschehen.

Der Digital Asset Market Clarity Act des Repräsentantenhauses

Das Repräsenantenhaus hatte nämlich schon in der letzten Legislaturperiode versucht, Marktinfrastrukturgesetzgebung auf den Weg zu bringen.25Anja von Rosenstiel: Der Financial Innovation Act for the 21st Century: Eindlich eine Rahmengesetzgebung für Kryptowerte in den USA?, RDi 2024, S. 337. Der Financial Innovation and Technology for the 21st Century Act – kurz FIT21 Act – wurde schon vor der letzten Wahl mit parteiübergreifender Mehrheit vom House verabschiedet. Mit FIT 21 sollte nicht zuletzt die von der SEC beanspruchte Allzuständigkeit für Kryptowerte, z.B. auch Softwarebetreiber als Börsenhändler einzustufen, eingedämmt werden. Der Krypto-feindliche Bankenausschuss des Senats blockierte dann jedoch die Verabschiedung einer umfassenden Regelung. Der Clarity Act baut auf FIT21 Act auf, der noch im Schatten der großen Kryptopleiten, wie z.B. FTX, abgefasst worden war. Mit der industriefreundlichen Haltung der neuen Regierung, nimmt der CLARITY Act deutliche Änderungen am alten Entwurf des FIT 21 Act vor:

Kryptowerte, die nicht als Zahlungstoken (Payment Stablecoin) einzustufen sind, werden zukünftig grundsätzlich Waren- und nicht Wertpapiercharakter haben. Payment Stablecoins werden im GENIUS Act bzw. STABLE Act geregelt. Dem Diskussionsentwurf aus dem Finanzausschuss des Repräsentantenhauses zufolge will der Digital Asset Market Clarity Act (CLARITY Act)26Vgl. Text -H.R. 3633- 119th Congress (2025-2026): Digital Asset Market Clarity Act (CLARITY Act): https://www.congress.gov/bill/119th-congress/house-bill/3633/text. Innovation fördern. Innovation soll zukünftig bei der Regelsetzung Zielsetzung der SEC sein.27Vgl. One Pager CLARITY Act, US House Committee on Financial Services, Mai 2025: https://financialservices.house.gov/uploadedfiles/2025-05-29_-_comms_one-pager_-_clarity_act_of_2025_-_final.pdf. Durchsetzungsmaßnahmen sollen sich auf Betrugsbekämpfung und Marktmissbrauch beschränken.28Vgl. Testimony Before the United States House Appropriations Subcommittee on Financial Services and General Government, SEC Chairman Paul S. Aktins, 20. Mai 2025: https://www.sec.gov/newsroom/speeches-statements/atkins-testimony-fsgg-052025. Als digitale Waren würden Kryptowerte ihren Wert aus ihrer Funktionalität für die jeweilige Blockchain ableiten. Es bleibt fraglich, ob damit Emittenten klare Kriterien vorgegeben werden, die ausreichen, um diese Klassifizierung auch ohne anwaltliche Hilfe vorzunehmen. So werden sie den Nutzen für die Blockchain nicht immer vom Spekulationsinteresse klar trennen und damit rechtssicher abgrenzen können.

Mit der Klassifizierung als Ware würde sich der Kryptomarkt im Gegensatz zu Europa grundsätzlich selbst regulieren. Denn für den Warenverkehr ist die dünn besetzte Commodity Futures Trading Commission (CFTC) zuständig. Mangels entsprechender Personalausstattung und wegen ihres begrenzten Mandats, die Marktintegrität zu sichern und Preismanipulation zu verhindern, bedient sie sich sog. Self-Regulatory Organisations (SROs). In diesem Rahmen ist eine Marktinfrastruktur vorgesehen, welche die vertikale Integration verschiedener Leistungen und den Handel auch mit Waren, also auch mit Wertpapieren aus einer Hand zulassen wird, vorausgesetzt die Anbieter melden sich bei der CFTC an.29Vgl. Sec. 106, siehe Zusammenfassung CLARITY ACT bei: https://financialservices.house.gov/uploadedfiles/2025-05-29_-_sbs_-_clarity_act_of_2025_-_final.pdf.

Wenn es sich um Kryptowerte sog. ausgereifter Blockchain-Systeme („mature blockchain“) handelt, sollen diese nicht unter die Kapitalmarktaufsicht fallen.30 Vgl. Sec. 202 und 203, siehe Zusammenfassung CLARITY Act ebd.: https://financialservices.house.gov/uploadedfiles/2025-05-29_-_sbs_-_clarity_act_of_2025_-_final.pdf. Damit wären die Kryptowerte der bekanntesten Blockchain-Systeme wie z.B. Ethereum, Solana, XRP, BNB und Cardano nunmehr per Gesetz Waren und ihr Weiterverkauf hätte Waren- und nicht mehr Wertpapiercharakter. Die Kategorisierung als mature blockchain erfolgt wiederum über die Selbstzertifizierung, der die SEC lediglich widersprechen kann. Genau diese Frage der wertpapierrechtlichen Einordnung des Weiterverkaufs solcher Kryptowerte stellte jahrelang die „Frontlinie“ zwischen der SEC unter dem SEC-Vorsitzenden Gensler und den größten US-Kryptobörsen in den o.g. Gerichtsprozessen dar.

Bestimmte dezentralisierte Finanzdienstleistungen (DeFi) wie das Staking, das Betreiben von sog. User Interfaces oder die Veröffentlichung von Softwarecodes, will das Gesetz als Softwareanwendungen von der Finanzaufsicht ausnehmen, außer soweit Betrugsbekämpfung und Marktmissbrauch betroffen sind.31Vgl. Sec. 409, siehe Zusammenfassung CLARITY ACT: https://financialservices.house.gov/uploadedfiles/2025-05-29_-_sbs_-_clarity_act_of_2025_-_final.pdf.

Es bleibt spannend, ob angesichts der Politisierung und damit Polarisierung des Themas Krypto eine Mehrheit im US-Repräsentantenhaus für dieses Gesetzespaket zustandekommen wird. Der Senat hat die Entgegennahme des Gesetzesentwurfs erst einmal auf den Herbst verschoben.32Vgl. CLARITY Act Will Miss Trump’s August Deadline: Senate Banking Chairman, Unchained, 17. Juni 2025: https://unchainedcrypto.com/clarity-act-will-miss-trumps-august-deadline-senate-banking-chairman/. Wenn schon viele demokratische Senatoren die Zustimmung zu Regeln für Stablecoins als Legalisierung von Korruption werten, wird es schwierig werden, demokratische Abgeordnete zu finden, welche den Kapitalmarkt derart umfassend deregulieren wollen – zumal wenn Regierungsmitglieder Anbieter auf diesem Markt sind. Die demokratische Vize-Vorsitzende des Finanzausschusses hat bereits einen Gesetzesentwurf vorgelegt: Stop Trading, Retention, and Unfair Market Payoffs in Crypto, also den STOP TRUMP in Crypto Act.33Vgl. H.R. 3573 – Stop Trading, Retention, and Unfair Market Payoffs in Crypto Act 2025 – 119th Congress (2025-2026) – Stop TRUMP in CRYPTO Act: https://www.congress.gov/bill/119th-congress/house-bill/3573/text

Sollte diese Deregulierung durch Dezentralisierung und Selbstzertifizierung jedoch gelingen, würden die USA Maßstäbe für andere Rechtsordnungen setzen. Über diese eingeschränkte Regulierung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Lizenzen sollen ausländische Anbieter auf den unternehmensfreundlichen US-Markt gelockt werden.34Vgl. S. 1582 – 119th Congress – GENIUS Act, Sec. 3(b) 2(b). Der Standortwettbewerb würde sich dadurch deutlich verschärfen.

Der europäische Ansatz: MiCAR

Blickt man auf die regulatorischen Entwicklungen in den USA, erscheint der europäische Ansatz vergleichsweise technokratisch. Die im Mai 2023 verabschiedete MiCAR beansprucht seit dem 30. Dezember 2024 volle Geltung und ist damit in all ihren Teilen anwendbar. Die Adressaten, Emittenten von Kryptowerten, allen voran Emittenten von Stablecoins, die die MiCAR als „vermögenswertereferenzierte Token“ und „E-Geld-Token“ bezeichnet, aber auch Emittenten der meisten anderen Kryptowerte, sowie Anbieter von Kryptowerte-Dienstleistungen, müssen sich nun an die europäischen Spielregeln halten.

Technokratisch erscheint dieser Ansatz, weil ihm die enorme Politisierung der US-Regulierungsdebatte fehlt. Zwar waren und sind einzelne Regelungen der MiCAR umstritten, insgesamt scheint aber über Parteien und Länder hinweg Übereinstimmung über Regulierungserfordernis und Regulierungssystem zu herrschen. Technokratisch scheint der Ansatz auch deshalb zu sein, da kein vollständig neues Regelungsregime als Ergebnis eines politischen Ringens um Kryptomärkte geschaffen wurde, sondern eher im Sinne eines Copy & Paste die bislang geltenden Regelungen für klassische Finanzinstitutionen (insbesondere Finanzdienstleister und E-Geld-Emittenten) und die kapitalmarktrechtlichen Regelungen, wie insbesondere die der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II)35Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU:https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0065. in die MiCAR übernommen wurden. Das Bank- und Kapitalmarktrecht der EU insgesamt hat den gleichen teil-technokratischen Ansatz, basieren die Regelungssysteme doch vornehmlich auf Vorschlägen von Expertengremien wie bspw. dem Basel-Komitee für Bankenaufsicht.

Im Gegensatz zum GENIUS ACT beansprucht MiCAR ein technologisch neutrales Regelwerk zu sein, und passt die o.g. Regeln nur teilweise granular an die technischen Besonderheiten Blockchain-basierter Produkte an.36Vgl. Erwägungsgrund Nr. 9 MiCAR. Im Übrigen fallen Produkte, die bereits vom „alten“ Recht erfasst werden, wie bspw. das Einlagengeschäft oder die Emission von Finanzinstrumenten, weiterhin unter die traditionellen Rechtssysteme, auch wenn diese Blockchain-basiert sind. Zweck der Regulierung ist eben auch – vielleicht sogar vornehmlich – befürchtete Risiken in und durch Kryptomärkte abzumildern. Die MiCAR soll die „zusätzlichen Herausforderungen für die Finanzstabilität“ angehen sowie „das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme, die geldpolitische Transmission oder die Währungshoheit“ sichern.37Vgl. Erwägungsgrund Nr. 5 MiCAR. Die genannten „Herausforderungen“, insbesondere die Sicherung der Finanzstabilität, entsprechen den Kernzwecken geltender Finanzmarktregulierung. Die befürchteten Herausforderungen entsprechen nach Ansicht der EU-Gesetzgeber also den Risiken des klassischen Finanzmarkts – daher entlehnt sich die MiCAR auch dessen Regulierungssystemen.

Stablecoins werden in der MiCAR als „vermögenswertereferenzierte Token“ oder „E-Geld-Token“ bezeichnet, abhängig vom jeweiligen Referenzwert, der durch den Stablecoin abgebildet werden soll. Diese in der Industrie eher untypische Klassifizierung unterschiedlicher Stablecoinarten folgt der Risikologik der MiCAR: Vermögenswertereferenzierte Token leiten ihren nominalen Wert von Werten oder Rechten ab oder auch Körben unterschiedlicher Werte oder Rechte. Ein vermögenswertereferenzierter Token könnte also bspw. den Goldpreis referenzieren, einen Korb aus Gold, Silber und ggf. weiteren Edelmetallen, aber z.B. auch einen Korb unterschiedlicher amtlicher Währungen. Dagegen leiten E-Geld-Token ihren nominalen Wert ausschließlich von einer amtlichen Währung ab – ihr Wert entspricht also bspw. einem Euro oder einem Dollar.38Im Detail lässt sich diese Klassifizierung nachlesen bei Ostrovski, in: Meier (Hrsg.), Handbuch MiCAR, Kap. 5 Rn. 47 ff. Während vermögenswertereferenzierte Token einer Vielzahl von Zwecken dienen können, stellen E-Geld-Token Blockchain-basierte alternative Zahlungsmittel dar.39Vgl. Erwägungsgrund Nr. 18 MiCAR. Als solche stellen sie die Finanzstabilität und die Funktionsfähigkeit der Finanzsysteme vor Herausforderungen. Zusätzliche währungspolitische Herausforderungen stellen sich, wenn die in der EU angebotenen E-Geld-Token nicht Euro-gebunden sind, sondern an eine andere Währung (bspw. Dollar), welche dadurch stärkere Verbreitung im Euro-Raum finden kann.

Stablecoin-Emittenten müssen in der EU strenge Anforderungen beachten, um eine Erlaubnis zu erhalten (und zu behalten). Dazu gehört nicht nur das Vorhalten einer Vermögenswertreserve, die die Rücktauschansprüche der Stablecoin-Inhaber absichern muss, sondern auch strenge Anforderungen an bspw. die Geschäftsorganisation sowie das Vorhalten ausreichender Eigenmittel.40Vgl. für vermögenswertereferenzierte Token Art. 27 ff. MiCAR und für E-Geld-Token Art. 48 ff. MiCAR i.V.m. Titel II und III der E-Geld-RL. Letztere Anforderung, die wie oben beschrieben im GENIUS Act fehlt, dient ganz maßgeblich der Absicherung der Solvenz-Risiken des Emittenten und damit dem Schutz vor dominoartigen Zusammenbrüchen des Finanzmarkts. Eins der zentralen Gremien globaler Standardsetzung in der Bankenregulierung, das Basel-Komitee für Bankenaufsicht,41Kurzinfo (auf Englisch): https://www.bis.org/bcbs/index.htm?m=88.. arbeitet stetig an der Verbesserung der Eigenmittelanforderungen für Banken im Rahmen des „Basel Frameworks“, welches regelmäßig ohne größere Änderungen in EU-Recht umgesetzt wird. In Folge der letzten großen Finanzkrise verschärfte das Basel-Komitee seine Standards im Rahmen der als „Basel III“ bekannten Änderungen.42Vgl. Basel III: international regulatory framework for banks: https://www.bis.org/bcbs/basel3.htm?m=76. Das zeigt, dass die Solvenz von Instituten und damit Eigenmittelanforderungen im Zentrum moderner Finanzmarktregulierung steht. Es verwundert insofern auch nicht, dass die jüngsten Änderungen der Basel-Richtlinie besondere Eigenmittelvorschriften für Institute vorsehen, die Kryptowerte in ihren Bilanzen halten.43Vgl. Prudential treatment of cryptoasset exposures, Basel Committee on Banking Supervision,Dezember 2022: https://www.bis.org/bcbs/publ/d545.pdf. Die US-Regulierung setzt sich dem dagegen ausdrücklich entgegen: Vor dem Hintergrund, dass der Vorsitzende des Bankenausschusses des US-Senats diese Basel-III Standards ablehnt, weil sie Endkunden den Zugang zu Kapital erschweren, setzt der GENIUS Act Basel III nicht um.44Vgl. Scott Responds to Vice Chair Barr’s Remarks on Future of Basel III Endgame, 10. September 2024: https://www.banking.senate.gov/newsroom/minority/scott-responds-to-vice-chair-barrs-remarks-on-future-of-basel-iii-endgame.

Auch wenn MiCAR die Finanzstabilität priorisiert, will der europäische Gesetzgeber mit der Regulierung der Kryptomärkte auch Innovation und (fairen) Wettbewerb fördern. Insofern ist die MiCAR natürlich nicht rein technokratischer Natur, sondern verfolgt auch wirtschaftspolitische Absichten. Als „first mover“ hat MiCAR Kryptowerte legalisiert und mit klaren Regelvorgaben Rechtssicherheit geschaffen. In den USA war dies jahrelang die Hauptforderung der Krypto-Industrie.45Vgl. als Beispiel die Erklärung zur Unterstützung des SuperPacs Fairshake durch Zahlungsdienstleister Stronghold, Herbst 2024: https://stronghold.co/learn/the-real-reason-stronghold-is-all-in-on-fairshake Dadurch wollte der europäische Gesetzgeber Unternehmen des Kryptosektors in die EU ziehen.46Vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 und 6 MiCAR. Gerade die umfassende Harmonisierung der Regelungen über den gesamten EU-Binnenmarkt hinweg schafft eine übergreifende Rechtssicherheit, die es Unternehmen auch ermöglicht, im gesamten Binnenmarkt tätig zu werden, ohne in jedem Mitgliedstaat gesonderte Erlaubnisse beantragen zu müssen. So entsteht, das ist jedenfalls Teil des Kalküls, ein attraktiver Gesamtmarkt von ca. 450 Millionen EU-Bürgern.

MiCAR – Erste Resultate

Das die EU hier strengere Maßstäbe setzt als andere Rechtsordnungen, zeigt sich mittlerweile auch in der Praxis: Die Emittentin des weltweit drittgrößten Stablecoins „USDe“, die Ethena GmbH mit Sitz in Frankfurt, zog jüngst ihren Erlaubnisantrag bei der deutschen Aufsichtsbehörde BaFin zurück, nachdem die BaFin u.a. aufgrund „gravierende(r) Mängel in der Geschäftsorganisation sowie Verstöße(n) gegen die Anforderungen der MiCAR etwa zur Vermögenswertreserve und zur Einhaltung der Eigenmittelanforderungen“ das Neugeschäft der Ethena mit USDe untersagte.47Ethena GmbH: BaFin stoppt Neugeschäft in USDe-Token, BaFin, 21.03.2025, geändert am 25.06.2025: https://www.bafin.de/ref/19817762. Noch macht Ethena mit seinem algorithmischen Stablecoin auch einen Bogen um die USA. Das wird sich ändern, sobald eine gesetzlich geregelte Marktinfrastruktur besteht.

Ob die Strenge der EU, gepaart mit geschaffener Rechtssicherheit, durch einen wachsenden Markt in der EU belohnt wird, bleibt noch unklar. Einige positive Signale sind aber zu beobachten: Höhere Investitionen durch institutionelle Investoren, wachsende Anzahl von Anbietern von Kryptowerte-Dienstleistungen und insgesamt ein wachsender Markt – all das ist wohl zurückzuführen auf starke Investorenschutzregelungen und geschaffene Rechtssicherheit.48Vgl. EU MiCA Regulations Statistics 2025: The Impact on Crypto Market, CoinLaw, 16. Juni 2025: https://coinlaw.io/eu-mica-regulations-statistics/. Widersprechende Beispiele finden sich aber auch: So zog sich Tether, Emittent des weltweit größten Stablecoins „USDT“, mit dessen Euro-Ableger vom europäischen Markt zurück.49Vgl. Tether ends EURT stablecoin support citing EU’s MiCA regulations, Coingeek, 29. November 2024: https://coingeek.com/tether-ends-eurt-stablecoin-support-citing-eu-mica-regulations/. Wie sich Tether in Bezug auf den GENIUS Act positionieren wird, bleibt abzuwarten. Tether’s Lizenz aus El Salvador wird selbst die neue unternehmensfreundliche US Bankenaufsicht nicht anerkennen.50Vgl. Crypto firm Tether and its founders finalizing move to El Salvador, Reuters, 13. Januar 2025, https://www.reuters.com/technology/crypto-firm-tether-its-founders-finalising-move-el-salvador-2025-01-13/.

Schutz vor US-Dominanz?

Die Frage nach dem Erfolg der MiCAR bringt aber noch eine weitere, weitaus politischere Dimension mit sich: In der MiCAR dürfte auch die Hoffnung stecken, auf Euro lautende Stablecoin zu fördern und so eine stärkere finanzielle Souveränität über den „europäischen“ Kryptomarkt zu gewinnen. Europäische Web3 Verfechter haben die Vision eines innovativen Internets, welches anders als das Web2 nicht mehr überwiegend durch US Firmen zentral kontrolliert, sondern durch eine dezentrale, auf eine unbegrenzte Vielzahl von Nutzern verteilte Architektur gesteuert wird. Aber auch zentralisierte staatliche und private Projekte, wie bspw. der Digitale Euro der EU oder tokenisierte Sichteinlagen der Geschäftsbanken, zielen bei der Modernisierung ihrer Finanzinfrastruktur durch Umstellung auf Blockchain-Technologie darauf, die Dominanz amerikanischer Online-Zahlungsinfrastrukturen im Web2 aufzubrechen. Allerdings, wie bereits oben erläutert, ist der Stablecoinmarkt „dollarisiert“  – 99% der im Umlauf befindlichen Stablecoins sind Dollar-gebunden. Diese Dollarisierung wirkt sich nicht nur auf die Kryptomärkte aus, sondern bringt auch Folgen für den Finanzmarkt insgesamt und die Währungshoheit in der EU mit sich: Eine wachsende Durchdringung des europäischen Binnenmarkts mit auf Dollar lautenden Stablecoins könnte zum einen zu Abflüssen aus den Bilanzen europäischer Banken hin zu US-amerikanischen Instituten bzw. Stablecoin-Emittenten führen und zum anderen den Einfluss des Euro und damit währungspolitischer Maßnahmen und der Währungshoheit insgesamt im Euro-Währungsraum verringern. Schließlich werden besicherte Stablecoins meist in der Währung besichert, die sie auch replizieren – Sicherheiten der Dollar-Stablecoins sind daher vornehmlich US-Staatsanleihen. Investitionen in Euro-Staatsanleihen und damit zusammenhängende währungspolitische Bemühungen wären gefährdet.

Diese Gefahren werden jüngeren Medienberichten zufolge durch die EZB in Reaktion auf die Entwicklungen in den USA und dem GENIUS Act betont.51Vgl. Commission livid as ECB warns of crypto apocalypse under Trump, Politico, 22. April 2025: https://www.politico.eu/article/european-commission-livid-ecb-warn-crypto-apocalypse-donald-trump/. In einem internen Papier legt die EZB Gefahren dar, die sie insbesondere auch durch solche Stablecoins sieht, die sowohl in der EU als auch einem Drittstaat (man darf hier wohl die USA nennen) emittiert werden, sog. „multi-issuance schemes“.52Vgl. Subject: ECB Non-paper on EU and third country stablecoin multi-
issuance
, Council of the European Union, April 2025: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/WK-4742-2025-COR-1/en/pdf.
Solche Stablecoins werden – so die Befürchtung der EZB, die dabei „Tether“ ausdrücklich als Beispiel nennt, zumeist Dollar-gebunden sein und damit obige Gefahren verstärken. Zudem befürchtet die EZB, dass solche Stablecoins auch sog. „Bank Runs“ befeuern könnten, wenn Nicht-EU Inhaber solcher Stablecoins Rücktauschansprüche bei den EU-Teilen dieser „schemes“ geltend machen, da die EU den höheren Kundenschutzstandard bietet. Die EZB fordert daher mit Blick auf diese Risiken Verschärfungen der MiCAR.

Die EU-Kommission reagierte auf die Forderungen der EZB verhalten und wies darauf hin, dass die MiCAR bereits ausreichende Schutzmechanismen biete. Insofern wurde vor regulatorischen „Schnellschüssen“ gewarnt.53Vgl. Commission livid as ECB warns of crypto apocalypse under Trump, Politico, 22. April 2025: https://www.politico.eu/article/european-commission-livid-ecb-warn-crypto-apocalypse-donald-trump/; Trumps Kryptopolitik löst Streit zwischen EZB und EU-Kommission aus, FAZ, 30. April 2025: https://www.faz.net/aktuell/finanzen/wieso-ezb-und-eu-kommission-um-die-zukunft-der-stablecoin-regulierung-ringen-110443558.html. Tatsächlich bietet die MiCAR entsprechende aufsichtsrechtliche Instrumente: Stablecoins, die auf eine Währung lauten, die nicht die amtliche Währung eines Mitgliedstaats ist, unterliegen bspw. besonderen Berichtspflichten und sind in ihrer Gesamt-Transaktionshöhe beschränkt.54Vgl. Art. 58 Abs. 3 iVm Art. 22 ff. MiCAR. Einer ausufernden Ausweitung einzelner solcher „schemes“ könnte also durch die MiCAR begegnet werden. Aus Sicht der EZB reichen diese Instrumente aber nicht aus, sodass Kommission und EZB nicht übereinkommen. Eine durch den Ausschuss für Wirtschaft und Währung des EU-Parlaments in Auftrag gegebene Studie unterstützt grundsätzlich die Sichtweise der Kommission, ruft gleichwohl zu einer Beobachtung der Situation auf.55Vgl. Jens van t’ Klooster/ Eduardo D. Martino/ Eric Monnet: Cryptomercantilism vs. Monetary Sovereignty. Dealing with the Challenge of US Stablecoins for the EU, Monetary Dialogue Papers, Juni 2025: https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/296400/DEZERNAT%20June%202025_FINAL.pdf. Nach Verabschiedung der MiCAR entflammt mit Blick auf die USA nun doch eine womöglich politisiertere MiCAR-Debatte – interessanterweise zwischen den EU-Institutionen.

EU-Rechtsunsicherheit um dezentralisierte Finanzdienstleistungen

Während in den USA dezentralisierte Finanzdienstleistungen im CLARITY Act mitgeregelt werden sollen, herrscht in der MiCAR zu diesem Thema weitestgehend lautes Schweigen. Die Regelungen der MiCAR äußern sich zu DeFi nicht ausdrücklich; einzig Erwägungsgrund Nr. 22 MiCAR spricht DeFi an. DeFi – im Verständnis der MiCAR solche Blockchain-basierten Anwendungen und Kryptowerte, bei denen es keinen identifizierbaren Intermediär bzw. bei öffentlichen Angeboten Emittenten gibt – wird von der MiCAR ausgenommen. Während im ursprünglichen MiCAR-Entwurf DeFi gar nicht mitbedacht wurde, brachten EU-Parlament und EU-Rat entsprechende Änderungen in die Trilogverhandlungen ein.56Vgl. die Zusammenstellung der jeweiligen Mandate: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CONSIL:ST_7694_2022_INIT. Erwägungsgrund Nr. 22 entstand sodann im Rahmen des Trilogs. Über die Anwendbarkeit und Auswirkungen des Erwägungsgrundes besteht aber enorme Unsicherheit – bspw. ist unklar, ob Kryptowerte-Dienstleister nicht gleichwohl bestimmten Pflichten in Bezug auf DeFi-Kryptowerte unterliegen.57Zu diesem Streitthema eingängig: Benedikt Bartylla: EU Crypto Trading Platforms Need a Bitcoin Whitepaper, University of Oxford, Faculty of Law Blogs, 4. Juni 2025: https://blogs.law.ox.ac.uk/oblb/blog-post/2025/06/eu-crypto-trading-platforms-need-bitcoin-whitepaper. Die EU könnte hier im Spannungsverhältnis zwischen Innovationsförderung und Verbraucherschutz gefangen gewesen sein; dedizierte DeFi-Regelungen wurden jedenfalls ausdrücklich aufgeschoben.58Vgl. insofern die Berichtspflicht der Kommission zu DeFi gem. Art. 142 MiCAR.

Der CLARITY Act, wie oben gezeigt, würde dagegen eine bundes-gesetzlich verankerte Ausnahmeregelung („safe harbour“) für dezentralisierte Nutzeroberflächen bieten, statt wie in der EU nicht ausschließen zu können, dass sie als Anbieter von Kryptowerte-Dienstleistungen gelten.59Vgl. https://www.dfsa.dk/news/2024/jun/crypto-assets_250624. Die USA würde insofern für DeFi Rechtssicherheit schaffen während die MiCAR hier hinterherhinkt. Nicht umsonst forderte daher die EZB-Präsidentin Christine Lagardenoch vor Verabschiedung der MiCAR eine „MiCAR 2“, auch mit Blick auf DeFi.60Vgl. EZB-Präsidentin fordert Regulierung von Krypto-Krediten und Staking, Cointelegraph, 22. Juni 2022: https://de.cointelegraph.com/news/ecb-head-calls-for-separate-framework-to-regulate-crypto-lending?_ga=2.126394317.1599656719.1667697087-839706955.1650054811. Denn noch werden dezentralisierte, „emittentenlose“ Stablecoins, wie der Dollar-gebundene Sky Stablecoin, auf dem Zweitmarkt in der EU gehandelt und das ohne eine entsprechende Regulierung.61Vgl. DAI, Sky stablecoins are controversial under MiCA regulations. Implications for Tether?, Ledger Insights, 28. Januar 2025: https://www.ledgerinsights.com/dai-sky-stablecoins-are-controversial-under-mica-regulations-implications-for-tether/.

Ausblick

Die Entwicklungen in den USA um den Kryptomarkt und die damit einhergehende Deregulierung des Finanzmarkts politisieren auch die europäische Kryptomarkt-Debatte. Im Gegensatz zur Plattform-Web2 -Ökonomie, in der Europa das Nachsehen hat, bietet die Blockchain mit ihrem offenen, dezentralen Ansatz Europa eine erneute Chance, im Wettbewerb im Digitalzeitalter zu bestehen und von US-dominierten Kommunikations- und Zahlungsinfrastrukturen unabhängig zu werden, wenn eine Regulierung „the European Way“ gelingt, im Ausgleich zwischen Risikominderung für Anleger sowie Finanzstandort und der Innovationsförderung.62Vgl. Zenner, Kai, et al.: The European Way. A Blueprint for Reclaiming
Our Digital Future
, 12. Mai 2025: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=5251254; Deutsche Version Der
Europäische Weg – Ein Fahrplan zur Sicherung
unserer digitalen Zukunft
hier: https://tumthinktank.de/wp-content/uploads/EuropeanWay_DE_0406-german.pdf.
Die Stimmen, die eine Überarbeitung zum Schutz des europäischen Kryptomarktes fordern, werden deshalb immer lauter. Derweil bleibt DeFi in der EU bisher unreguliert. Auch das leistet Spekulationen über eine MiCAR 2 Vorschub. Wie die dezentralisierte Finanzwirtschaft zu regulieren ist, könnte (unter Druck der US-Entwicklungen) Gegenstand intensiverer politischer Auseinandersetzung werden.

Entstanden ist der Text auf Einladung nach Erscheinen von Johannes Meier (Hrsg.): Handbuch MiCAR, Europäische Regulierung der Kryptowerte, Erich Schmidt Verlag, 2025. Die regulatorische Erfassung der Blockchaintechnologie ist noch im Entstehen. Auch die jüngst entstandene MiCAR wird von der rechtswissenschaftlichen Praxis noch erschlossen. In Kapitel 5 des Handbuchs kommentiert Daniel Ostrovski die Regulierung der E-Geld-Token durch die MiCAR; in Kapitel 15 gibt Anja von Rosenstiel einen Einblick in die Grundzüge des US Finanz- und Kapitalmarkts und den US-Regulierungsansatz von Kryptowerten im Vergleich zu MiCAR vor Antritt der heutigen US Regierung. Beide Kapitel dienen den Ausführungen dieses Beitrags als Grundlage.

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Autor: Thomas Weck eFin-Blog EU-Politik Farbe: gelb Uncategorized

It’s the data, stupid: Europas digitale Abhängigkeit bei Finanzdiensten

It’s the data, stupid: Europas digitale Abhängigkeit bei Finanzdiensten

Ein Beitrag von Thomas Weck

15. Mai 2025

Die europäische Finanzwirtschaft ist stark von außereuropäischen Plattformen abhängig – ein wachsendes strategisches Problem. Deren datenbasierte Geschäftsmodelle erschweren in vielen Bereichen den Aufbau europäischer Konkurrenz. Speziell im Finanzbereich bringen regulierte Anbieter jedoch eigene Risikoexpertise mit, die das Know-how der Plattformunternehmen ergänzt. Deshalb kommt es hier eher zu Partnerschaften. Der Vorschlag der EU-Kommission zum Financial Data Access (FiDA) könnte die Optionen für plattformunabhängige Angebote zusätzlich erweitern.

Erstellt mit Adobe Firefly. Ein USB-Stick im EU-Design vor USB-Ports, über denen eine amerikanische und chinesische Flagge prangt.

Abhängigkeit Europas von außereuropäischen Finanzmarktinfrastrukturen und Plattformen

Die Neuausrichtung der U.S.-Politik führt derzeit zu einem strategischen Umdenken, was bestehende Abhängigkeiten von U.S.-Unternehmen bei der Abwicklung von Finanzdienstleistungen betrifft. Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass Zahlungen im europäischen Online-Handel in der Regel über die Infrastrukturen der U.S.-Finanzfirmen Mastercard, Visa und Paypal laufen.

Hinzu kommen die Aktivitäten großer Plattformunternehmen aus den USA und China, deren Geschäftsschwerpunkt herkömmlich außerhalb des Finanzbereichs liegt. Diese Unternehmen dringen ebenfalls seit einiger Zeit in den Bereich der Zahlungsabwicklung ein. Sie ergänzen ihr Diensteportfolio im E-Commerce um Kredit- und Versicherungsangebote. Dabei gehören die Unternehmen Apple, Amazon, Meta (Facebook), Alphabet (Google), Microsoft, Tencent und Alibaba zu den bekanntesten und einflussreichsten Unternehmen der Welt. Für Deutschland hat das Bundeskartellamt die überragende marktübergreifende Bedeutung mehrerer dieser Unternehmen festgestellt.

Die europäische Wirtschaft ist insbesondere bei Zahlungsdiensten somit in zweierlei Hinsicht von nicht-europäischen Anbietern abhängig: Bei Zahlungsinfrastrukturen und bei datenbasierten Diensten. Die Abhängigkeit von nicht-europäischen Infrastrukturen kann durch Förderung europäischer Alternativen wie etwa das Bezahlsystem „Wero“ vermindert werden. Eine hier relevante Option könnte – je nach Ausgestaltung – auch der digitale Euro sein. Die Abhängigkeit von den datenbasierten Dienstleistungen nicht-europäischer Anbieter hingegen ist schwieriger zu reduzieren. Denn die oben genannten Plattformunternehmen haben über die Jahre eine besondere, kaum anderweitig ersetzbare Expertise entwickelt.

Daten und Netzwerkeffekte als Ursachen für Abhängigkeiten von Plattformunternehmen

Der Kern des Geschäftsmodells der genannten Plattformunternehmen besteht in der Analyse von Daten über Verbraucherpräferenzen. Diese Datenanalyse wird dazu genutzt, die erbrachten Online-Dienste zu verbessern und über Werbung die Dienste zu monetarisieren. Es kommt dabei zu sogenannten „datengetriebenen Netzwerkeffekten“. Denn mehr Daten ermöglichen eine Verbesserung der erbrachten Dienste (einschließlich Werbedienste). Diese Verbesserung mündet in Rückkopplungsschleifen, denn bessere Dienste ziehen mehr Nutzer an, von denen weitere Daten gesammelt werden können.

Die datengetriebenen Netzwerkeffekte können dazu beitragen, dass Märkte permanent zugunsten eines einzigen Plattformbetreibers kippen. Denn erstens können Daten aus mehreren Anfragen derselben Nutzerin oder desselben Nutzers – entweder über die Zeit hinweg oder in Bezug auf andere Nutzergruppen (Händler, Kontakte im sozialen Netzwerk usw.) – verknüpft werden, um individuellen Nutzern auf ihre Anfragen hin ein personalisiertes Angebot zu machen. Dadurch werden diese Nutzer an die Plattform gebunden (Lock-in). Zweitens können die Plattformbetreiber die Daten diverser Nutzeranfragen einsetzen, um ihre Plattform auch für andere Nutzer zu verbessern. Das macht die Plattform attraktiver. Beides zusammen führt aber dazu, dass es zusehends schwieriger wird, einem Plattformbetreiber seine Wettbewerbsposition streitig zu machen.

Die Plattformunternehmen haben zudem erkannt, dass sie aufgrund der Daten über Verbraucherpräferenzen nicht nur ihre bestehenden zentralen Plattformdienste verbessern können. Sie können ihr Angebot vielmehr auch um solche Dienste ausweiten, die zu den bestehenden Diensten kompatibel und damit komplementär sind. Beispielsweise liegt es nahe, den Nutzenden einer Suchmaschine auch Preisvergleichs- oder Kartensuchdienste anzubieten. Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher vom festen PC zu Mobilgeräten wechseln, dann liegt es nahe, App Stores und Mobilbetriebssystemen ins bestehende digitale Ökosystem einzubinden und ihnen so zu folgen.

Plattformen dringen über Kooperationen in den Finanzsektor vor

Dennoch fiel über längere Zeit auf, dass die Plattformunternehmen nur in relativ geringem Umfang mit Verbraucherdiensten in den Finanzbereich expandierten. Ein Grund dafür mag sein, dass Finanzdienste häufig über die Herstellung einer schlichten Kontaktmöglichkeit zwischen verschiedenen Marktseiten hinausgehen. Stattdessen werden den Verbraucherinnen und Verbrauchern ganze Leistungsbündel bereitgestellt (z.B. Kontoangebote mit Zahlungskarten, Anlagemöglichkeiten usw.) oder die Leistungen führen zu längeren Vertragsbindungen und gehen mit spezifischen Risiken einher (z.B. Kreditrisiken). Ein anderer möglicher Grund ist, dass Finanzdienste aufgrund ihrer spezifischen Risiken und der Relevanz solcher Risiken für das Finanzsystem besonders reguliert sind.

Mit der Zeit haben mehrere Plattformbetreiber (Apple, Google, Amazon, Meta, Microsoft) jedoch erkannt, dass sich Schnittstellen zwischen den etablierten Finanzmarktteilnehmern, insbesondere Banken, und der Verbraucherseite durchaus besetzen lassen. Denn viele Banken hatten Schwierigkeiten mit der Modernisierung ihrer IT-Infrastruktur. Plattformunternehmen konnten ihnen im Back-End Cloud-Dienste und technische Lösungen für das Risikomanagement, die Kernbankensysteme, die Datenanalyse und KI-Assistenten anbieten. Für die Plattformbetreiber ließen sich zudem technische Lösungen für Zahlungsdienste, spezialisierte Kredit- und Versicherungsangebote mit relativ geringem Aufwand in ihr Diensteportfolio integrieren. Hierbei handelt es sich um Kundendienste, die auch in das Leistungsangebot der Banken eingebettet werden können. Im Finanzbereich ist die Expansion der Plattformbetreiber deshalb bislang eher auf Kooperation als Verdrängung ausgerichtet.

Die weitere Entwicklung ist offen. Die Entstehung sogenannter Super-Apps wie in China ist in Europa auf absehbare Zeit aufgrund der engmaschigen Regulierung (Datenschutz-/Finanzregulierung) nicht zu erwarten. Wahrscheinlicher ist, dass die Partnerschaften mit Playern aus der europäischen Finanzindustrie ausgebaut werden. Denn diese bringen Expertise in Regulierungsfragen mit und ermöglichen es den Plattformbetreibern, sich auf ihr Kerngeschäft – die Entwicklung technischer Lösungen – zu konzentrieren.

Markt- und Systemrisiken – bisher unzureichende regulatorische Antwort

Dass die großen Plattformunternehmen auf partnerschaftlicher Basis in den Finanzbereich expandieren, ändert nichts daran, dass sie auch in diesem Bereich in großem Umfang Daten ansammeln, die zu Abhängigkeiten führen können. Zugleich bedeutet ihre Einbindung in die Finanzwirtschaft, dass ihr Verhalten auch für die Stabilität des Finanzsystems relevant werden kann. Die mögliche Systemrelevanz der Finanzdienste von „Big Tech“ ist Gegenstand einer kritischen aktuellen Studie von Finanzwende Recherche.

Die Studie hat unter anderem ermittelt, dass die geringe Verzahnung der Aufsicht über die Finanzmärkte einerseits und der Aufsicht über marktmächtige Unternehmen andererseits einen blinden Fleck in der Regulierung darstellt. Der herkömmliche Ansatz, einzelne Regulierungsziele zu definieren und die Regulierung für diese Ziele jeweils isoliert auszugestalten, trägt der marktübergreifenden Tätigkeit der Plattformunternehmen zu wenig Rechnung. In Deutschland haben Anfang 2024 sechs Bundesbehörden (Bundeskartellamt, Bundesnetzagentur, BaFin, BSI, BfJ und BfDI) das Digital Cluster Bonn für eine verstärkte Zusammenarbeit gegründet. Das ist sinnvoll, kann aber eine gesetzliche Verzahnung von Zuständigkeiten und Verfahren nicht ersetzen.

Eine größere Herausforderung wird es auf Dauer sein, die vorhandenen Abhängigkeiten von den großen Plattformunternehmen zu vermindern. Bestehende Regelwerke wie insbesondere der Digital Markets Act (DMA) und der Digital Services Act (DSA) ändern daran nichts, weil sie den Plattformbetreibern die von ihnen gesammelten Daten und damit ihre wichtigsten Exklusivitätsvorteile belassen. Daneben bleiben zwar auch die Regeln zum Wettbewerbsschutz (Art. 101 f. AEUV) anwendbar, ein potenziell scharfes Schwert: Wie die Studie von Finanzwende Recherche herausgearbeitet hat, könnten danach Maßnahmen bis hin zur Entflechtung der betroffenen Unternehmen angeordnet werden. Das setzt allerdings den Nachweis von Wettbewerbsverstößen voraus, und es drohen Rechtsmittel, über die in langwierigen Verfahren zu entscheiden ist. Die Relevanz der Unternehmen für das Finanzsystem lässt sich mit solchen Maßnahmen ohnehin nicht adressieren.

FiDA – ein neuer Regulierungsansatz zur Verminderung von Abhängigkeiten

Eine Alternativlösung kann hier – wie bei den eingangs angesprochenen Infrastrukturen – möglicherweise über den Markt gefunden werden. Wie das gehen könnte, zeigt der Kommissionsvorschlag über den Zugang zu Finanzdaten (FiDA): Danach sollten Finanzinstitute gezwungen werden, den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Kontrolle über die sie betreffenden Kundendaten zu geben.

Was bedeutet das und warum könnte FiDA zur Reduzierung von Abhängigkeiten beitragen? FiDA würde Banken, Fondsverwalter, Versicherungsunternehmen, Zahlungsdienstleister (auch z.B. die Tochterdienstleister Apple Pay, Google Pay etc.) u.a. verpflichten, auf Veranlassung der Kunden hin einander Zugang zu Informationen über Kredite, Ersparnisse, Ruhegehaltsansprüche, Versicherungsprodukte aus anderen Bereichen als der Lebensversicherung und zu Daten zu gewähren, die die Beurteilung der Kreditwürdigkeit gestatten. Wenn die Kunden dies wünschen, würde FiDA also einen Datenaustausch zwischen Dienstleistern unabhängig davon ermöglichen, ob die Dienstleister selbst den Kunden Kooperationsangebote machen wollen. Dies würde den Markteintritt neuer Anbieter und damit neuartige Angebote ermöglichen. Das würde auch komplexere und regulierte Angebote umfassen, bei denen eine Verdrängung bestehender Finanzdienstleister durch die mächtigen Plattformunternehmen unwahrscheinlich ist. Die europäische Finanzindustrie würde aber – auf Veranlassung der Kunden – dazu gezwungen, Daten viel stärker als bisher als wettbewerbliche Ressource zu begreifen und einzusetzen.

Allerdings ist derzeit unklar, ob zu FiDA überhaupt ein Gesetzgebungsverfahren stattfinden wird. Denn Teile der bestehenden Finanzindustrie lobbyieren vehement gegen diesen Rechtsakt. Wenn sie damit Erfolg hat, FiDA zu begraben, könnte damit allerdings auch ein Instrument beerdigt werden, das von seinem Regelungsansatz her – zumindest auf längere Sicht – geeignet sein könnte, die bestehenden Strukturen und Abhängigkeiten von den großen nicht-europäischen Plattformunternehmen zu lockern.

Dieser Beitrag kam auf Einladung des Diskursprojektes eFin & Demokratie bei ZEVEDI nach einer Diskussionsveranstaltung am 25. März 2025 zustande, auf der die Studie „Die Finanzdienste von Apple, Google und Co.: Ein gefährlich guter Deal“ von Finanzwende Recherche vorgestellt wurde.

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Autor: Philipp Mahlow und Katharina Mosene eFin-Blog Farbe: gelb

Der Human in the Loop bei der automatisierten Kreditvergabe – Menschliche Expertise für größere Fairness

Der Human in the Loop bei der automatisierten Kreditvergabe – Menschliche Expertise für größere Fairness

Ein Beitrag von Philipp Mahlow und Katharina Mosene

15. April 2025

Im digitalen Zeitalter sind automatisierte Prozesse, bei denen Entscheidungen teilweise oder ganz ohne menschliches Zutun fallen, immer mehr Usus. Sie basieren auf Algorithmen, Künstlicher Intelligenz (KI) oder regelbasierten Systemen und finden etwa im Gesundheitswesen oder in der Finanzwelt Anwendung – dort auch bei der Kreditvergabe. Die erste Fallstudie unseres Forschungsprojektes Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen untersucht genau diesen Bereich: Wie arbeiten bei der Kreditvergabe automatisierte Prozesse und menschliche Akteur:innen im Rahmen der Entscheidungsfindung zusammen? Wer hat die Aufsicht? Wer sichert die Qualität der Entscheidungen?

Bei einer solchen Kreditvergabe geht es darum, Anträge effizient und fair zu  bewerten. Zunächst analysieren Algorithmen Daten wie Einkommen, Kredithistorie, bestehende Schulden und Rückzahlungsverhalten. Diese erste Prüfung übernehmen in der Regel Drittanbieter, z.B. Kreditauskunfteien. Ihre Kredit-Scores fließen in ein bankinternes Ampel-Modell ein, das das Kreditausfallsrisiko berechnet. Liegt dieses innerhalb eines vordefinierten Rahmens, folgt eine sofortige Zusage- oder Ablehnungsempfehlung. In nicht eindeutigen Fällen prüfen Risikoanalyst:innen die Finanzdaten  und treffen ggf. eine abweichende Entscheidung.

Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine kann mithin erhebliche Vorteile bringen. Automatisierte Systeme verarbeiten große Datenmengen schnell und konsistent, während menschliche Entscheidungen für Flexibilität sorgen und die Berücksichtigung individueller Umstände gewährleisten. Automatisierung reduziert gleichwohl emotionale oder subjektive Einflüsse, was zu einer objektiveren Kreditvergabe beitragen kann. Menschen wiederum können Fehlbewertungen korrigieren, indem sie Aspekte einbeziehen, die Algorithmen übersehen, wie plötzliche Einkommensveränderungen durch Elterngeld oder alternative Sicherheiten wie Eigentum. So wird verhindert, dass die Definition zu strikter Regeln im System zu ungerechtfertigten Ablehnungen führt. Damit das Zusammenspiel aber tatsächlich zu fairen und fundierten Entscheidungen führt, müssen die verwendeten Algorithmen kritisch hinterfragt, Verzerrungen identifiziert und menschliche Bewertungen gezielt eingesetzt werden. Nur so bleibt das System wirtschaftlich effizient und gleichzeitig sozial gerecht.

Aus der Vogelperspektive: Ein Mann steht in der Mitte eines Spielfeldkreises, Kopf über ein Device geneigt und wirft einen langen Schatten über den Spielfeldkreis hinaus

Die Kernfrage unseres, am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) angesiedelten Projektes Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen  ist daher: Wie können Mensch und Maschine sinnvoll zusammenarbeiten, sodass die Vorteile der Automatisierung genutzt werden, ohne dass dabei wichtige menschliche Kompetenzen und Werte verloren gehen? Gefördert von der Stiftung Mercator, beleuchten wir diese Thematik  anhand verschiedener Fallstudien. In diesem Blogbeitrag greifen wir zentrale Erkenntnisse aus einem Praxisbericht zur Fallstudie Kreditvergabe auf, in dem wir analysieren, wie Kreditentscheidungen – von der ersten Beratung bis zur Risikobewertung – in der Praxis gestaltet werden und welche Bedeutung menschliche Expertise und Automatisierung in diesem Umfeld hat.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die aktuell auf breiter Basis eingesetzten Verfahren überwiegend auf regelbasierten Systemen mit starren Wenn-Dann-Regeln beruhen. Moderne, also lernfähige KI-Lösungen kommen derzeit bei der Kreditwürdigkeitsprüfung meist hingegen noch keine zum Einsatz. Stattdessen nutzen Banken deterministische Systeme, die von menschlicher Erfahrung und Expertise ergänzt werden. Gerade in Sonderfällen, in denen automatisierte Verfahren an ihre Grenzen stoßen, bleibt der menschliche Beitrag daher unverzichtbar.

Die Humans in the Loop: Front-Desk-Mitarbeitende und Risiko-Analyst:innen

Die Vorstellung eines einzelnen „Human in the Loop“ – also einer einzelnen Person, die ein automatisiertes System überwacht und kontrolliert – entspricht in der Kreditvergabe nicht der Realität. Innerhalb der Bank gibt es immer mehrere Personen, die an unterschiedlichen Stellen in den Entscheidungsprozess eingebunden sind. Oft werden Ergebnisse automatisierter Systeme von ihnen nicht nur passiv kontrolliert, sondern sie greifen aktiv und gestaltend in den Entscheidungsprozess ein. Ein zentraler Befund des Projektes ist, dass die menschlichen Akteur*innen in der Kreditvergabe sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen, Dabei lassen sich aber zwei besonders hervorheben:

1. Front-Desk-Mitarbeitende als erste Schnittstelle

Die erste Anlaufstelle für Kund:innen sind die Front-Desk-Mitarbeitenden, die Kreditanträge entgegennehmen und Kund:innen durch den Antragsprozess führen. Ihre Aufgaben gehen weit über die reine Datenaufnahme hinaus. Sie beraten und unterstützen Antragsteller:innen, helfen dabei, Eingabefehler zu vermeiden, und leiten im Zweifelsfall Anträge an Risiko-Analyst:innen weiter. In der Praxis erfolgt die Kreditwürdigkeitsprüfung häufig über ein Ampelsystem: Ein grünes Signal führt zu einer positiven Kreditentscheidung, ein rotes zu einer Ablehnung. Bei einem gelben Signal, also einer unklaren Empfehlung, wird der Fall an die Risiko-Analyst:innen weitergegeben. Front-Desk-Mitarbeitende verfügen dabei zwar über Einblicke in den Credit-Score und andere relevante Daten, haben aber in Fällen mit eindeutiger Datengrundlage keinen eigenen Entscheidungsspielraum. Ihre Rolle ist also vor allem beratend und koordinierend – und nur in Ausnahmefällen entscheidend, wenn es um individuelle Sonderlösungen geht.

Ein Beispiel aus unseren Interviews verdeutlicht diesen Aspekt:

„Das hat bei mir auch schon funktioniert: Eltern in der Elternzeit. Rückblickend hätte ich nie gedacht, dass wir eine Immobilienfinanzierung überhaupt umsetzen könnten. Doch dann traf ich auf eine Sachbearbeiterin, die meinte: ‚Das ist nachvollziehbar. Erledigen Sie das einfach manuell.‘ Solange ein menschlicher Faktor mitspielt, sind auch Entscheidungen abseits des Standards möglich.“
 

– René Stephan, Geschäftskundenbetreuer

2. Risiko-Analyst:innen als Expert:innen in der Bonitätsprüfung

Insbesondere wenn das automatisierte System ein gelbes Signal ausgibt, also eine uneindeutige Empfehlung, übernehmen Risiko-Analyst:innen die Prüfung von Kreditanträgen. Sie überprüfen dann diesen Einzelfall und treffen die finale Entscheidung über die Kreditvergabe. Diese Expert:innen besitzen ein tiefes Verständnis für Finanzdaten und haben oft langjährige Erfahrung in der Bewertung von Kreditanträgen. Damit sind sie in der Lage, Abweichungen von standardisierten Bewertungen zu erkennen und gegebenenfalls manuell zu korrigieren.

„Natürlich nutzen wir ein Ratingsystem, um die Bonität zu bewerten. Das ist regulatorisch vorgegeben. Am Ende des Tages trifft aber der Mensch die Entscheidung.“
 

– Expert:in für Credit Risk Management

Durch ihre Expertise tragen Risiko-Analyst:innen so maßgeblich zur Vermeidung von Fehlentscheidungen bei und gewährleisten, dass individuelle Lebensumstände, die von standardisierten Systemen nicht angemessen gewertet werden können, in die finale Entscheidung einfließen.

Einflussfaktoren auf die menschliche Entscheidungsfindung

Sowohl Front-Desk-Mitarbeitende als auch Risiko-Analyst:innen treffen ihre Entscheidungen aber nicht im luftleeren Raum. Ihre Einschätzungen werden von einer Vielzahl an Faktoren geprägt – von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen über interne Vorgaben der Kreditinstitute bis hin zu individuellen Erfahrungen und Einschätzungen. Wir haben diese Faktoren, die die Entscheidungsqualität beeinflussen, insbesondere aus diversen Stakeholderinterviews geschlussfolgert. Sie lassen sich in drei Dimensionen einteilen:

Grafik "Einflussfaktoren im Kredivergabesystem"

1. Externe Einflussfaktoren

Zu den externen Faktoren zählen diverse gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Der Fachkräftemangel, die ökonomischen Ziele der Banken und gesetzliche Vorgaben wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) beeinflussen den Entscheidungsprozess und mithin Umfang, Transparenz, Fairness und Qualität der Entscheidung und des Prozesses.Auch die Datenqualität, also die Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit der Datensätze, mit denen automatisierte Systeme trainiert und die von externen Auskunfteien wie der Schufa bereitgestellt werden, spielen eine entscheidende Rolle.

2. Einflussfaktoren auf der Ebene der Akteur:innen

Mehrere Faktoren beeinflussen auch auf Ebene der handelnden Personen die Qualität der Kreditentscheidungen: ihr Rollen- und Berufsverständnis, der persönliche Kontakt und der verfügbare Entscheidungsspielraum. Vorurteile gegenüber spezifischen Lebensumständen oder subjektive Einschätzungen einzelner Mitarbeitender können die objektive Bewertung beeinträchtigen. Zugleich betonen Expert:innen, dass bei Kreditvergaben die menschliche Fähigkeit, Sonderfälle und individuelle Lebenssituationen zu erfassen, einen großen Mehrwert darstellt.

3. Technische Einflussfaktoren

Auch die verfügbare Technik prägt, wie Menschen Entscheidungen fällen. Maßgeblich sind dabei die Datenbasis, die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Systems und das Interface-Design, also die Gestaltung von Benutzeroberflächen und die Frage, ob sie eine intuitive, effiziente und ästhetisch ansprechende Interaktion zwischen Mensch und Maschine ermöglichen. Ein schlecht gestaltetes Interface kann etwa dazu führen, dass Nutzer:innen wichtige Informationen übersehen oder falsch einpflegen. Ebenso essenziell ist die Transparenz der Algorithmen – damit Mitarbeitende verstehen, wie und warum das System zu einer bestimmten Empfehlung kommt und diese gegebenenfalls hinterfragen können. Hinzu kommt, welche Fehlerkultur ein Unternehmen im Umgang mit automatisierten Prozessen pflegt.

Herausforderungen im Zusammenspiel von Mensch und Maschine

Wie lässt sich nun aber sicherstellen, dass automatisierte Prozesse tatsächlich fair und nachvollziehbar bleiben? Wo entstehen Risiken, und welche Maßnahmen sind notwendig, um sie zu minimieren? Unsere Analyse im Praxisbericht offenbart mehrere Herausforderungen, die es zu adressieren gilt:

Kommunikationsprobleme & fehlendes Gesamtprozesswissen

Eine der zentralen Herausforderungen liegt darin, dass weder einzelne Akteure noch Institutionen den gesamten automatisierten Entscheidungsprozess vollständig überblicken. Das unzureichende Verständnis der Systemarchitektur – also, wie Entscheidungen im Einzelfall entstehen, welche Algorithmen zum Einsatz kommen und wie die Daten fließen – führt dazu, dass wichtige Zusammenhänge schwer zu erkennen sind. Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn menschliche Eingriffe notwendig wären, um Sonderfälle zu korrigieren.

Transparenzdefizite

Ein weiterer Kritikpunkt ist die mangelnde Transparenz – sowohl bei den Kreditinstituten als auch bei Wirtschaftsauskunfteien wie der Schufa oder der Creditreform. Verbraucher:innen erfahren oft kaum, warum eine Kreditentscheidung gefällt wurde. Das erschwert es ihnen, ihre eigene Bonität realistisch einzuschätzen und notwendige Anpassungen vorzunehmen. Gleichzeitig haben auch die Mitarbeitenden häufig nicht genügend Informationen zur Funktionsweise des automatisierten Systems, was Unsicherheiten und potenzielle Fehlbewertungen begünstigt.

Diskriminierung und Biases

Auch das Thema Diskriminierung spielt im Kontext der Kreditvergabe eine wichtige Rolle. Die aktuellen Gesetze, etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, schützen Verbraucher:innen nicht ausreichend vor ungerechter Benachteiligung. Es fehlen zudem wirksame Mechanismen, um Diskriminierungsvorwürfe effektiv vor Gericht zu prüfen. Dabei klafft eine Lücke zwischen der theoretischen Neutralität von Algorithmen und der Praxis, in der sie, ihr Bau und ihre Funktionsweise von menschlichen Vorurteilen und Erfahrungswerten beeinflusst sind.

Unsicherheit im Umgang mit Automatisierungstechnologien

Viele der involvierten Mitarbeitenden verfügen nicht über ein ausreichendes technisches Verständnis der eingesetzten Systeme. In unseren Interviews zeigte sich, dass einigen Mitarbeitenden unklar ist, ob im Rahmen der Kreditvergabe regelbasierte Systeme oder KI-basierte Anwendungen verwendet werden – und welche Begrenzungen diese Systeme jeweils haben. Dieses fehlende technische Know-how birgt die Gefahr, dass Empfehlungen des Systems unkritisch übernommen oder – im umgekehrten Fall – zu stark hinterfragt werden.

Handlungsanregungen für eine verbesserte Kreditvergabe

Auf Basis dieser Erkenntnisse formulieren wir im Praxisbericht konkrete Anregungen, wie die Rolle des „Human in the Loop“ gestärkt und der gesamte Entscheidungsprozess verbessert werden kann:

1. Erweiterung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)

Um Diskriminierung im Kreditvergabesektor effektiver zu bekämpfen, sollte der gesetzliche Rahmen erweitert werden. Würde das AGG auf Verbraucherkredite ausgeweitet, könnten betroffene Personen leichter gerichtlich gegen ungerechtfertigte Ablehnungen vorgehen, etwa durch eine Beweislastumkehr und verstärkte Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände. Dadurch würden Banken stärker motiviert, diskriminierungssensible Prozesse zu implementieren.

2. Erhöhung der Transparenz

Mehr Transparenz seitens der Kreditinstitute und der Auskunfteien wäre hilfreich. Verbraucher:innen sollten in leicht verständlicher Sprache über die entscheidungsrelevanten Faktoren informiert werden. Ab 2026 dürfte das aufgrund der Überarbeitung der Europäischen Verbraucherkrediterichtlinie auch rechtlich verpflichtend sein. Zudem könnten Banken die interne Kommunikation verbessern, damit alle Beteiligten – von der Beratung am Schalter bis zur Risikoanalyse – die Entscheidungslogiken aber auch Grenzen des Systems klar verstehen.

3. Verbesserung der Finanzbildung

Neben institutionellen Maßnahmen spielt auch die individuelle Aufklärung der Verbraucher:innen eine wichtige Rolle. Zielgerichtete Bildungsangebote können helfen, dass Antragsteller:innen ihre Kreditwürdigkeit realistischer einschätzen und ihre Finanzdaten korrekt in den Antragsprozess einbringen. Interaktive Erklärformate oder gezielte Schulungen bieten sich an, um den Umgang mit Kreditentscheidungen verständlich und alltagstauglich zu vermitteln

4. Fort- und Weiterbildung für Mitarbeitende

Um die Effektivität der menschlichen Beteiligung zu steigern, sollten insbesondere Front-Desk-Mitarbeitende und Risiko-Analyst:innen regelmäßig in technischen und prozessualen Fragen geschult werden. Dabei gilt es, nicht nur das technische Verständnis der eingesetzten Systeme zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, deren Limitationen kritisch zu hinterfragen.

5. Benutzerfreundliche Gestaltung der Antragsprozesse

Die zunehmende Automatisierung auch der Antragsstellung darf nicht dazu führen, dass entsprechende Kompetenzen der Verbraucher:innen zusehends für Erfolg oder Misserfolg ihres Antrags notwendig und diese zu ihrer Verantwortung werden. Intuitive, barrierearme Antrags-Interfaces und die Verfügbarkeit persönlicher Ansprechpartner:innen sind wichtige Bausteine, um sicherzustellen, dass auch Menschen ohne tiefgehende technische Kenntnisse einen erfolgreichen Kreditantrag stellen können. Beides würde im Zusammenspiel sicherstellen, dass individuelle Lebensumstände adäquat erfasst werden und Sonderfälle nicht durch starre, automatisierte Prozesse  durchs Raster fallen

Ausblick: Menschliche Expertise als Garantie für faire Entscheidungen

Die Automatisierung in der Kreditvergabe kann Prozesse beschleunigen und Fehlerquellen reduzieren. Doch gerade in einem sensiblen Bereich, der direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat, bleibt menschliche Expertise unverzichtbar. Unsere Fallstudie zeigt deutlich: nur die Kombination aus menschlichem Urteilsvermögen und automatisierter Datenverarbeitung schafft echten Mehrwert – vorausgesetzt, man versteht die jeweiligen Einflussfaktoren und steuert diese gezielt

Zwar sind regelbasierte automatisierte Systeme mittlerweile Standard, aber der Mensch bleibt ein unverzichtbarer Teil des Entscheidungsprozesses. Fachwissen und Erfahrung von Mitarbeitenden ergänzen, was Algorithmen nicht leisten können. Gerade in Sonderfällen machen diese schwer quantifizierbaren Informationen und der menschliche Faktor den Unterschied zwischen mechanischer und verantwortungsvoller Entscheidung.

Gleichzeitig offenbart unsere Untersuchung aber auch deutliche Herausforderungen: Es mangelt häufig an einem umfassenden Verständnis der Prozesse und an Transparenz – sowohl gegenüber den Kund:innen als auch innerhalb der Banken. Fehlende Kommunikationswege und unzureichende technische Kenntnisse können dazu führen, dass automatisierte Empfehlungen falsch interpretiert oder umgesetzt werden. Zudem bergen Diskriminierung und Biases Risiken, die bei zunehmender Automatisierung dingend adressiert werden müssen.

Automatisierung darf kein Selbstzweck sein, sondern muss als Werkzeug verstanden werden, das – richtig eingesetzt – die menschliche Urteilskraft ergänzt und stärkt. Nur so können Banken und Kreditinstitute auch in Zukunft eine verantwortungsvolle und diskriminierungsfreie Kreditvergabe gewährleisten.

Zum kompletten Bericht: Züger, T., Mahlow, P., Mosene, K., & Pothmann, D. (2025),  Praxisbericht: Human in the Loop im Feld der Kreditvergabe [Praxisbericht für den Sektor Finanzdienstleistung], Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG).

Weitergehende Informationen zum HIIG-Forschungsprojekt Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen

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Autor: Lars Hupel Digitaler Euro eFin-Blog Farbe: gelb

Der digitale Euro: Elektronisch, aber offline-fähig

Der digitale Euro: Elektronisch, aber offline-fähig

Ein Beitrag von Lars Hupel

3. März 2025

Die Europäische Zentralbank veröffentlichte im Dezember letzten Jahres ihren zweiten Fortschrittsbericht der seit November 2023 laufenden „Vorbereitungsphase“, die eine mögliche Herausgabe des digitalen Euro projektieren soll.1EZB: “Second progress report on the digital euro preparation phase”, Dezember 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/progress/html/ecb.deprp202412.en.html. Bis Ende 2025 arbeitet die EZB dazu insbesondere am sogenannten Rule Book, also dem Regelwerk, und sammelt im Rahmen mehrerer Ausschreibungen Angebote für technische Lösungen. Darunter ist auch die Fähigkeit zur Offline-Bezahlung. Der digitale Euro soll dadurch immer dann einsetzbar sein, wenn bisher Bargeld die einzige Option war: etwa bei schlechtem Empfang oder für das Taschengeld von Kindern. Durch Wallets, die in der Lage sind, Geldwerte offline zu speichern und zu verwalten, soll im Handel wie auch untereinander bezahlt werden können.

Der Kontext

Der digitale Euro wird als Retail CBDC (digitale Zentralbankwährung für den Privatgebrauch) in erster Linie Konsument:innen und Händler:innen zur Verfügung stehen, um alltägliche Zahlungen abzuwickeln. Dadurch grenzt er sich von den gängigen unbaren Zahlungsmitteln ab, die allesamt privatwirtschaftlich organisiert und betrieben sind. Gleichzeitig unterscheidet er sich vom geschäftlichen Zahlungsverkehr zwischen Unternehmen und Finanzinstitutionen, für den eine sogenannte Wholesale CBDC (eine digitale Zentralbankwährung für Geschäftsverkehr) im Gespräch ist.

Als Retail CBDC ähnelt der digitale Euro am ehesten dem Bargeld. Er etabliert das zweite Zahlungsmittel, welches eine direkte „Beziehung“ zwischen der breiten Öffentlichkeit und der Zentralbank herstellt. Genau wie beim Bargeld soll man auch mit dem digitalen Euro zahlen können, ohne online zu sein. Damit liegt die EZB im Trend: Gemäß der jüngsten Umfrage der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) führt die Mehrheit der befragten Zentralbanken Offlinefähigkeit als wichtigstes Feature von CBDC-Wallets an.2Alberto Di Iorio, Anneke Kosse und Ilaria Mattei: “Embracing diversity, advancing together – results of the 2023 BIS survey on central bank digital currencies and crypto”, Juni 2024, https://www.bis.org/publ/bppdf/bispap147.pdf; hier: Seite 10, Kategorie D “Technology”

Die Offline-Wallets

Konkret interessiert sich die EZB beim digitalen Euro für Zahlungsvorgänge der Kategorien Person-to-Person (P2P) und Person-to-Business (P2B, d.h. im Online-Shop und an der Ladenkasse).3EZB: “State of play on offline digital euro”, April 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/timeline/profuse/shared/pdf/ecb.degov240411_item3updateofflinedigitaleuro.en.pdf.

Illustration verschiedener Zahlhardware und Formen des Zahlens: von Person zu Person, im Onlineshop oder im Einzelhandel

Abbildung 1. Eigene Illustration

Mit Ausnahme vom E-Commerce soll der digitale Euro offline funktionieren, das heißt: ohne Internet-, Telefon- oder anderweitige Verbindung.

Eine Endnutzerin lädt sich mit einer Smartphone-Wallet von ihrer Bank Geld „herunter“. Dafür ist eine Online-Verbindung nötig. Ab diesem Moment soll sie aber offline – das heißt weder Mobilfunkempfang noch WLAN – beispielsweise ihrer Tochter Geld auf deren Wallet übertragen können, egal, ob es sich dabei um ein Wearable, eine Karte  oder ein zweites Smartphone handelt. Und auch die Tochter soll nun mit ihrer Wallet – weiterhin offline – bei einem Händler bezahlen können.

Eine solche konsekutive Weitergabe durch mehrere Hände ohne Intermediäre erscheint beim Bargeld ganz selbstverständlich, ist aber bei elektronischen Zahlungsverfahren bisher nicht möglich. Selbst neuere Zahlungsapps wie Wero, die auch auf den Retail-Markt abzielen, leisten dies nicht.

Diese neue technische Möglichkeit bezeichnet die BIZ in ihrer Nomenklatur als „intermittently offline“.4BIS Innovation Hub: “Project Polaris. Part 1: A handbook for offline payments with CBDC”, Mai 2023, https://www.bis.org/publ/othp64.pdf. Diese ist definiert als:

  1. beide Zahlungsparteien können über einen längeren Zeitraum offline sein;
  2. die Zahlung wird unmittelbar und final abgeschlossen; und
  3. die Zahlungsempfängerin kann das erhaltene Geld offline an Dritte weiterausgeben.

Initial könnten Wallets per Bank-App oder Geldautomaten befüllt (oder entleert) werden. Dazu müssen Banken den Austausch zwischen Bargeld, Giralgeld und digitalem Euro anbieten. Die Wahl der Wallet (Smartphone, Karte o.Ä.) ist dabei der Nutzerin freigestellt; alle funktionieren nach gleichem Prinzip. Außerdem können Banken zusätzliche Funktionen anbieten, die über den basalen Zahlungsverkehr hinausgehen, beispielsweise dass durch automatisches Aufladen stets ein bestimmter Betrag in der Offline-Wallet vorliegt.

Natürlich müssen die Wallets ein hohes Schutzniveau anbieten, damit Fälschungen ausgeschlossen sind. All das ist Bestandteil der Ausschreibung der EZB.

Die Technik

Um all diese Anforderungen zu bewältigen, ist spezielle Hardware nötig. Eine reine Software-Lösung würde sich zu einfach manipulieren lassen: Beispielsweise könnte ein Angreifer eine Wallet mit Geld aufladen, es in einem sicheren Speicher ablegen und eine Offlinezahlung durchführen. Nach dieser Zahlung könnte er allerdings den Speicher manipulieren und diesen auf den vorherigen Wert zurücksetzen. Nun könnte eine weitere Zahlung mit „demselben“ Geld nochmal durchgeführt werden. Dieses Szenario, in der Fachliteratur als double spending problem, also doppeltes Ausgeben, bekannt, gilt es zu verhindern, denn es käme – in der analogen Welt – dem Kopieren von Banknoten gleich.

Es gibt allerdings technische Lösungen, die eine digitale Kopie von Geld oder doppeltes Ausgeben verhindern. Sogenannte Secure Elements sind dedizierte Hardware-Chips, die in sich die Funktion von Prozessor und Speicher vereinen und nach außen definierte Kommunikationskanäle (meist Near Field Communication, NFC) anbieten. Heutzutage kommen Secure Elements schon in einer Vielzahl von Geräten zum Einsatz: klassische elektronische Zahlkarten, Smartphones, Smartwatches, Wearables, Reisepässe, Personalausweise und viele mehr enthalten Secure Elements. Auch SIM- und Gesundheitskarten (zu erkennen an den Kontaktflächen) basieren auf Secure Elements.

verschiedene Hardware mit Secure Elements: Smartphone, Uhr oder Karte

Abbildung 2. Geräte mit eingebauten Secure Elements

Offensichtlich haben die Herausgeber dieser Geräte ein Interesse daran, dass sich Prozessor und Speicher nicht manipulieren lassen. Schließlich gilt es heute schon zu verhindern, dass Personalausweise oder Kreditkarten in analoger oder auf dem Smartphone gespeicherter Form geklont und Identitäten gestohlen werden könnten.

Wie der Name bereits suggeriert sind Secure Elements manipulationssicher, d.h. sie verfügen über technische Abwehrmaßnahmen. Sie garantieren, dass gespeicherte Daten nicht unberechtigt geändert und Algorithmen korrekt ausgeführt werden. Das obige Szenario würde also mit ihnen nicht funktionieren. Technisch gesehen gehen die Maßnahmen über den landläufig bekannten Kopierschutz etwa von DVDs weit hinaus.

Eine Zahlung würde stets zwischen den Secure Elements zweier Wallets ablaufen: im Regelfall kontaktlos via NFC. Wallets können daher nur auf Geräten sicher implementiert werden, die ein Secure Element enthalten. Genau das stellt sich die EZB als integralen Bestandteil des digitalen Euro vor. Damit wäre auch sichergestellt, dass eine Angreiferin sich nicht blanke Karten besorgt und diese mit einer eigenen Wallet-Implementierung bestückt. Wallets müssen sich, bevor digitaler Euro ausgetauscht wird, gegenseitig authentifizieren. Das bedeutet, dass beispielsweise ein Händler nicht „einfach so“ von einer beliebigen, möglicherweise manipulierten Wallet Geld offline akzeptieren würde. Dies wird durch elektronische Zertifikate, ein gängiges Verfahren, sichergestellt. Wichtig ist, dass diese Authentifizierung lokal funktioniert und daher kein Austausch von Identitäten mit der Zentralbank stattfindet.

Kritiker:innen sehen in der Forderung nach Secure Elements allerdings eine Benachteiligung reiner Software-Lösungen. Doch diese Kritik ist in zweierlei Hinsicht fehlgeleitet.

  1. Reine Software-Lösungen bieten kein ausreichend hohes Schutzniveau vor dem digitalen „Gelddrucken“ und gerade ein nationales Zahlungssystem ist für fremdstaatliche Angriffe prädestiniert.
  2. Für die Nutzung der Secure Elements ist es zwar notwendig, dass Smartphone-Hersteller dafür ihre Genehmigung erteilen. Man kann nicht einfach „irgendwelche“ Apps auf dem Sicherheitschip installieren, denn das würde die Sicherheitsgarantien unterlaufen. Aber die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Gesetzgebung sieht vor, dass Hersteller – auch außereuropäische – ihre Geräte für die Sicherheitsfunktionen des digitalen Euro öffnen müssen. Die EZB steht mit den Herstellern im Austausch.5Siehe EZB: “Second progress report on the digital euro preparation phase”, Dezember 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/progress/html/ecb.deprp202412.en.html. Beispielsweise hat Apple in der Vergangenheit, auch im größeren Kontext des Digital Market Acts, ihre Geräte für alternative Zahlverfahren geöffnet.6Finextra: “Norway’s Vipps launches world’s first Apple Pay rival for iPhone”, 10.Dezember 2024, https://www.finextra.com/newsarticle/45188/norways-vipps-launches-worlds-first-apple-pay-rival-for-iphone.

Davon unbenommen können Wallets für den digitalen Euro auch auf den Zahlungskarten europäischer Banken angeboten werden, was die letzten Vorbehalte hinsichtlich europäischer Infrastruktur ausräumen sollte.

Die Bedenken

Von technischer Seite gibt es aber noch weitere Bedenken. So wird vorgebracht, dass die oben geschilderte Offlinefähigkeit („intermittently offline“) mathematisch nicht möglich sei. Tatsächlich gibt es bei verteilten Systemen das sogenannte CAP-Theorem. Dieses besagt, dass ein Netzwerk nicht gleichzeitig konsistent (consistent), verfügbar (available) und resilient (partition tolerant) gegen Verbindungsabbrüche sein kann (lediglich zwei der drei Eigenschaften könnten erfüllt werden). Angewendet auf CBDC folgern nun manche, dass Offlinefähigkeit prinzipiell nicht funktionieren könne. Diese Schlussfolgerung fußt aber auf einer falschen Interpretation des Theorems. Wie die nachfolgende Grafik illustriert, muss man sich in der Tat für eine der drei Seiten des Dreiecks entscheiden. Banknoten sind offlinefähig, aber bei Verlust nicht wiederherstellbar. Schecks sind ebenso offlinefähig, aber erlauben es, mehr Geld auszugeben als man auf dem Konto hat. Debitkarten wiederum sind wiederherstellbar, aber nicht offlinefähig.

CAP-Theorem als Dreieck mit offlinefähig als einem, wiederherstellbar als zweitem und "kein doppeltes Ausgeben" als drittem Eck, mit Scheck zwischen ersten beiden, also sowohl offlinefähig als auch wiederherstellbar, Debitkarte sowohl wiederherstellbar als auch ohne double spending, Banknote sowohl offlinefähig als auch keine Möglichkeit doppelten Ausgebens, aber jeweils ohne die dritte EIgenschaft.

Abbildung 3. Das Dreieck der gewünschten Eigenschaften von Zahlungsmethoden

Der digitale Euro würde sich als ihre digitale Entsprechung wie die Banknoten positionieren: Der Vergleich von Secure Elements mit den proprietären Farben und Drucktechniken bei Banknoten als Sicherheitsmerkmalen liegt daher nahe. Da Banknoten (wie auch beispielsweise Pässe) staatliche Hoheitszeichen sind, die die Autorität und Legitimität eines Staates repräsentieren, ist die Fähigkeit, sie im analogen wie digitalen Raum schützen zu können, essenziell.

Die fehlende Wiederherstellbarkeit des digitalen Euro ist dabei ein Zeugnis von hohen Datenschutzstandards. Denn wie beim Bargeld haben weder die EZB noch Banken einen Einblick, welcher digitale Euro sich gerade in welcher Wallet befindet.

Zentralbanken sind in einer guten Position, sichere und datenschutzfreundliche, öffentliche Infrastrukturen für den Zahlungsverkehr aufzubauen. Regulierung und gemeinsame Standards sorgen dafür, dass Geräte verschiedener Hersteller und Apps verschiedener Banken nahtlos zusammen funktionieren können.

Das Netz und der doppelte Boden

Trotzdem sind Wallets nicht für immer offline, aus zweierlei Gründen.

Erstens ist es zur Erhöhung der Sicherheit wichtig, dass die Wallets periodisch einen sogenannten Integritätscheck durchführen, um das auf der Wallet vorhandene Geld auf Echtheit zu prüfen. Außerdem würde eine als gestohlen gemeldete Wallet deaktiviert. Im Regelfall geschieht dies nahtlos, beispielsweise wenn ich, nachdem das Geld ausgegeben ist, neues Geld herunterlade. Manipulationen würden spätestens hier auffallen, wodurch der Wirkradius von potenziellen Angriffen drastisch eingeschränkt wird.

Zweitens gibt es ein Interesse daran, dass mit dem digitalen Euro kein Geld gewaschen werden kann. Im Gegensatz zum Geldkoffer, der mit zunehmendem Inhalt unhandlich wird, ist der Betrag beim Digitalgeld lediglich eine Zahl: in Kombination mit anonymen Offlinezahlungen ein Rezept für Desaster. Die EZB sieht daher strenge Limits vor. So ist ein generelles Haltelimit von 3000 € vorgesehen. Transaktionslimits könnten hinzukommen. 

Das Fazit

In der Gesamtschau ergibt sich ein differenziertes Bild. Die Sicherheitsarchitektur von offlinefähigen Digitalwährungen verfügt über mehrere Ebenen: angefangen von der Hardware über kryptografisch sichere Kommunikationsprotokolle bis hin zum Integritätscheck durch die Zentralbank. .

Der digitale Euro gleicht als Zentralbankgeld dem Bargeld, nicht einem klassischen Konto. Geeignete Interfaces sorgen für die Integration mit sicherer Hardware und gleichzeitigen Bedienkomfort. Hierzu können Bank-Apps dienen, die zusätzliche Leistungen anbieten könnten.

Die immer wieder vorgebrachten technischen Bedenken können durch praktische Erfahrungen sowohl in existierenden CBDC-Projekten als auch in der freien Wirtschaft (breite Industrie) ausgeräumt werden. Secure Elements sind etablierte Vertrauensanker, die längst für kritische hoheitliche Aufgaben im Einsatz sind und daher auch für den digitalen Euro relevant.

Zu weiteren Beiträgen im eFin-Blog-Dossier Digitaler Euro

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Autor: Eneia Dragomir eFin-Blog Farbe: gelb

Initiative für ETF-Bildung – Kommentare zur „Initiative für Finanzbildung“ des BMF und BMBF

Initiative für ETF-Bildung – Kommentare zur „Initiative für Finanzbildung“ des BMF und BMBF

Ein Beitrag von Eneia Dragomir

31. Januar 2025

Die Ampelkoalition ist Geschichte und zu den Projekten, die durch das rot-grün-gelbe Dreierbündnis gestartet wurden, gehört die „Initiative Finanzielle Bildung“. Genauer gesagt, war es ein „gelbes“ Projekt. Finanzminister Christian Lindner und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, beide FDP, läuteten am 23. März 2023 auf einem Berliner Podium den „Aufbruch Finanzielle Bildung“ ein.1 Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Immer wieder kamen Sie auf die drei Eckpunkte ihrer Initiative zu sprechen. Demnach sollte die finanzielle Bildung in Deutschland 1. durch die Erarbeitung einer nationalen Finanzbildungsstrategie gestärkt werden. Das sollte in Zusammenarbeit mit der OECD und unter Einbeziehung aller relevanten Stakeholder geschehen. Es sollte 2. eine „zentrale Finanzbildungsplattform“ geschaffen werden, um die vorhandenen sowie hinzuzunehmende Finanzbildungsangebote zu bündeln, für die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer:innen in „adressatengerechten Formaten“ bereitzustellen sowie die Vernetzung im Bereich der finanziellen Bildung zu fördern. 3. sollte die Forschung zu finanzieller Bildung gestärkt werden, um die Datengrundlage zu verbessern sowie um zukünftige bildungspolitische Maßnahmen „evidenzbasiert“ zu entwickeln.2Gemeinsame Pressemitteilung von BMF und BMBF: BMF und BMBF stellen Initiative Finanzielle Bildung vor , 23. März 2023. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025)

Ein erster kritischer Zwischenruf zur Initiative kam gewissermaßen postwendend vom Präventionsnetzwerk Finanzkompetenz (PNFK), einem Zusammenschluss zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Netzwerk äußerte in seiner Stellungnahme zum Aufbruch die Befürchtung, dass gewachsene Strukturen in Gefahr sein könnten. Insbesondere seien die Belange „vulnerabler Gruppen“, also junger Menschen aus einkommensschwachen Familien, Geflüchteter und Senior:innen mit geringer Rente, unterrepräsentiert. Eine digitale Plattform, das einzige konkrete Projekt der Finanzbildungsinitiative, sei ungeeignet, um insbesondere diese Gruppen zu erreichen. Denn mit einer solchen Plattform werde die Informationsbeschaffung an diese Menschen delegiert und man laufe Gefahr, nur jene zu erreichen, die ohnehin für das Thema sensibilisiert seien.

Aufmerksamkeit für Finfluencer

Auf der Auftaktveranstaltung selbst wurden immer wieder „Finfluencer“ aufgerufen, Brücken zu den jungen Menschen zu bauen, beispielsweise der auf TikTok erfolgreiche Kamiar Bar Bar. Dieser war einer der wenigen Akteure aus dem Feld der Finanzbildung, die mit Lindner und Stark-Watzinger auf dem Podium sprachen. Finfluencer Bar Bar wurde als Vertreter dieser auf Social Media reichweitenstarken Vermittlung finanzieller Kompetenzen eine Viertelstunde nach Beginn der Veranstaltung zusammen mit Verena von Hugo, Vorständin im Bündnis ökonomische Bildung, auf die Bühne gebeten. Eine Dreiviertelstunde später kam auch Lorenzo Wienecke dazu, der mit seiner Initiative Jugendbildung seit 2017 Veranstaltungen an Schulen organisiert. Gegen Ende der Veranstaltung kam aus dem Publikum die Frage, ob die Verbraucherzentralen und ihr Bundesverband in die Initiative eingebunden würden.3Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März, 1:07:55-1:08:11. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Auch andere etablierte Akteure, beispielsweise der Schuldenberatung, der Sozialen Arbeit, der sozioökonomischen Bildung oder der politischen Bildung waren auf dem Podium nicht vertreten.

Schon in der Podiumszusammensetzung deutet sich eine mögliche Umstrukturierung des Feldes der finanziellen Bildung an, vor der das PNFK warnte. Mit den Verbraucherzentralen verwies das Netzwerk darauf, dass eine hohe Reichweite in den sozialen Medien noch kein Nachweis der Qualität sei. Einen etwas kritischeren Blick auf Finfluencer deutete auf dem Podium BaFin-Präsident Mark Branson an. Auf Nachfrage aus dem Publikum meinte er, es gebe auf Social Media Inhalte, die „gar nicht unschuldig“ seien.4Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023, 1:11:45ff. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Ausdrücklich kritisierte das PNFK in seiner Stellungnahme „Lindners verkürzten Blick“ auf das Themenfeld der Finanzbildung. Denn gerade in den Statements des Finanzministers ging es auffallend oft um die Chancen und die Leistungsfähigkeit des Kapitalmarkts. Überhaupt war das Kürzel „ETF“ oft zu hören. So schloss das PNFK in seinem Statement, die „Förderung eines kritischen Verständnisses des Finanzwesens scheint bisher kein Bestandteil der Überlegungen und geplanten Strategie zu sein“.

Finanzbildung als politisches Projekt?

Im Oktober 2024 erschien die bisher ausführlichste Kritik der Initiative für finanzielle Bildung.5Thomas Höhne: Finanzbildung als politisches Projekt – Eine kritische Analyse der FDP-Initiative zur finanziellen Bildung, OBS-Arbeitspapier 71, Frankfurt am Main, Oktober 2024. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025) Thomas Höhne, Erziehungswissenschaftler an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, stellt die Grundaussage seiner „kritischen Analyse der FDP-Initiative zur finanziellen Bildung“ im Titel seiner Studie zugespitzt heraus: „Finanzbildung als politisches Projekt“. Die Finanzbildungsinitiative von BMF und BMBF verfolge primär eine „aktivierungspolitische“ und wirtschaftsliberale Zielsetzung: „Die Investitionsbereitschaft der Bevölkerung in Aktien soll erhöht werden“, so der Autor in der Pressemittelung zur Studie. Für dieses parteipolitische Anliegen der FDP werde die Finanzielle Bildung instrumentalisiert.

Höhne hebt hervor, das öffentliche Bemühen, eine geteilte Schirmherrschaft von BMF und BMBF herauszustreichen, verdecke die tatsächliche Dominanz des BMF in Konzeption und Ausgestaltung der Initiative. So wurde auf Anfrage der Unionsfraktion hin deutlich, dass das Finanzministerium die Federführung bei der nationalen Finanzbildungsstrategie und der Finanzbildungsplattform innehat.6Antwort
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU: Aktueller Stand der Initiative Finanzielle Bildung, Drucksache 20/9335, 15. November 2023. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025)
Das BMBF sei lediglich für die Förderung der Forschung zu finanzieller Bildung zuständig. Ihm komme damit die „fragwürdige Rolle“ zu, die Initiative als Bildungsprojekt zu legitimieren, so Höhne. Denn eine BMF-Kampagne für die Steigerung der Kapitalmarktteilnahme und für die Aktienrente wäre leicht unter „Ideologieverdacht“ geraten.

Die Finanzbildungsplattform macht Höhne als eigentlichen Kern des Projekts aus. Sie sei das Mittel zur Koordination und Steuerung der nationalen Finanzbildungsstrategie und damit für eine Umstrukturierung des Feldes der finanziellen Bildung. Die Webseite mitgeldundverstand.de ging Anfang Dezember 2023 online. Für seine Studie analysierte Höhne die Plattform sieben Monate später und fällte ein verheerendes Urteil: Nur 8% der angebotenen Inhalte seien als Bildungsmaterialien qualifizierbar. Ansonsten handele es sich um eine reine Informationsplattform. Selbst die wenigen Bildungsinhalte könnten teilweise einer bildungstheoretischen Bewertung nicht standhalten.

Höhne veranschaulicht das an einem Video. Das „FDP-Video“ sei „monoperspektivisch, bewertet die Schuldenbremse als durchgehend politisch, wirtschaftlich und moralisch legitimes politisches Handeln, demgegenüber jede Relativierung oder Infragestellung als nicht legitim“ dargestellt werde. Die Kontroversen zur Schuldenbremse, sei es in der Wissenschaft oder der Politik, werden nicht angedeutet. Würden die drei Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses angelegt – Überwältigungsverbot, Kontroversität, Adressatenorientierung –, wie sie für die Materialen der Bundeszentrale für politische Bildung gelten, sähe es schlecht aus: Die Einseitigkeit der Darstellungen widerspreche dem Kontroversitätsprinzip und die monoperspektivische Ausrichtung könne überwältigend wirken. Das Video gebe einseitig die Position der FDP zur Schuldenbremse wieder, so Höhne. Hier werde Parteienwerbung als Bildungsmaterial getarnt.

Attac Deutschland, die zusammen mit der gewerkschaftseigenen Otto-Brenner-Stiftung die Studie in Auftrag gegeben haben, hat mit der Veröffentlichung von Höhnes Analyse eine alternative Finanzbildungsplattform eingerichtet. Auf geldmitverstand.de sollen Materialien für eine kritische ökonomische Bildung gesammelt werden, die auf der Webseite des BMF fehlen. Dort finden sich Verlinkungen zu Inhalten von Attac, aber auch zu Materialien des Netzwerks Plurale Ökonomik, der Bundeszentrale für politische Bildung, des Netzwerks Steuergerechtigkeit, des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt sowie zu verschiedenen Podcasts.

Das Festival für Finanzbildung

Seit der Analyse von Höhne hat sich auf mitgeldundverstand.de wenig getan. Hinzugekommen sind die Mitschnitte des Programms auf der Hauptbühne des „Festivals für Finanzbildung“, das Mitte Oktober 2024 stattgefunden hat, einem der letzten Lebenszeichen der Finanzbildungsinitiative. Auch hier ist auffällig oft von ETFs die Rede. Es ging teilweise gar skurril zu, als dafür geworben wurde, Finanzbildung neu zu denken, indem man mit einer App „im Duolingo-Stil“ zu investieren lernt. So könne vielleicht „ganz Deutschland süchtig nach finanzieller Bildung“ gemacht werden“7Julia Kruslin & Sophie Thurner: Finanzielle Bildung neu gedacht. Investieren im Duolingo-Stil, Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung, 15. Oktober 2024, 12:29ff (Zugriff 30. Januar 2025) Anders als beim Aufbruch im März 2023 waren auf dem Festival neben neueren Akteuren, Startups und Finfluencern auch etablierte Player wie das PNFK, die Caritas, die Volkshochschulen oder der Bundesverband der Verbraucherzentralen vertreten. Diese brachten ihre Expertise etwa in der Schuldenprävention oder der Qualitätskontrolle von Finanzbildungsinhalten ein.

Birgit Happel, Mitglied des PNFK-Vorstands, stellte die Notwendigkeit finanzieller sozialer Arbeit dar.8Birgit Happel: Finanzielle Soziale Arbeit. Empowerment für ein selbstbestimmtes Leben, Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung, 15. Oktober 2024 (Zugriff 30. Januar 2025). Ihr Vortrag, der letzte des Festivals, wirkt wie eine Veranstaltungskritik und ruft viele Punkte in Erinnerung, die das PNFK in seinem ersten Statement zur Finanzbildungsinitiative angemahnt hatte. So forderte Happel dazu auf, die finanzielle Grundbildung finanzschwacher Gruppen nicht aus den Augen zu verlieren, da sich die ohnehin großen finanziellen Ungleichheiten verfestigen würden, wenn der Fokus darauf liege, Bessergestellten Mut zur Eröffnung des ersten ETF-Sparplans zu machen. Und Frauen würden nicht nur durch fehlende Grundkenntnisse über das Funktionieren des Aktenmarktes ökonomisch belastet, sondern auch weil Care-Arbeit immer noch ganz überwiegend ihnen obliege und Kitaplätze Mangelware seien.

Parallelstrukturen und unzureichende Vernetzung

Zu den Mängeln dieser Initiative gehören nicht nur die kritisierten Verkürzungen, sondern insbesondere die ungenügende Vernetzung sowie Doppelspurigkeiten. Schon in seiner ersten Stellungnahme wies das PNFK auf den „Materialkompass“ des Bundesverbands der Verbraucherzentralen hin, mit dem qualitätsgesicherte Materialien zur finanziellen Bildung auffindbar gemacht werden – also das, was mitgeldundverstand.de eigentlich leisten soll. Nicolas Mantseris, ebenfalls Vorstandsmitglied des PNFK, wies in seinem Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung darauf hin, dass man mit der „FinKom“, der Finanzkompetenz-Infobörse, bereits seit Jahren ein kleines Format des Festivals organisiere. Es entsteht der Eindruck, dass Parallelstrukturen aufgebaut wurden, anstatt zu koordinieren und zu vernetzen, wie es im Rahmen der „Initiative Finanzielle Bildung“ immer wieder öffentlich behauptet wurde. Und ob diese Doppelstrukturen leisten können, was sie sollen, ist zweifelhaft.

Das droht auch mit der im Referentenentwurf von Anfang Oktober 2024 zum „Finanzbildungsstärkungsgesetz“ vorgeschlagenen Erweiterung der Stiftung „Geld und Währung“. Diese war 2002 eingerichtet worden, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bedeutung „stabilen Geldes“ zu erhalten und zu fördern. Die Stiftung soll um Finanzbildung erweitert werden und künftig „in enger Abstimmung mit den Stakeholdern“ die Umsetzung von bundesweiten Maßnahmen und Strategien zur Stärkung der finanziellen Bildung koordinieren und sogar eigene Finanzbildungsinhalte entwickeln.9 Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Finanzbildung – Änderung des Gesetzes über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze und die Errichtung der Stiftung „Geld und Währung“ (Finanzbildungsstärkungsgesetz), Bundesfinanzministerium, 7. Oktober 2024. In seiner Stellungnahme zum Entwurf drückte das PNFK wiederum seine Sorge aus, dass bestehende Netzwerke und Akteure bedroht seien, wenn neue Netzwerke an diesen vorbei aufgebaut würden.10
Stellungnahme des Präventionsnetzwerkes Finanzkompetenz e.V.
zum Referentenentwurf des Finanzbildungsstärkungsgesetzes
, 17. Oktober 2024.

Von der ETF- zur Finanzbildung

Abschließend bleibt festzuhalten, dass eine bundesweite Finanzbildungsstrategie seit Jahren gefordert und dementsprechend auch grundsätzlich willkommen geheißen wird. Die Initiative für Finanzbildung der FDP-Ministerien ist bislang jedoch durch inhaltliche Verkürzungen, mangelnde Vernetzung und eine Onlineplattform aufgefallen, die weit hinter den Ankündigungen zurückbleibt. Es bleibt zu hoffen, dass eine kommende Regierung die konstruktive Kritik aufnimmt und auf der vorhandenen Expertise aufbaut, um einzulösen, was der damalige Finanzminister Christian Lindner auf der Auftaktveranstaltung im März 2023 versprochen hat: „Finanzielle Bildung ist nicht Vertrieb für die Finanzindustrie. Finanzielle Bildung ist nicht Indoktrination für irgendeine Form von Wirtschaftspolitik.“11Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023, 1:05.24-38. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025)

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Autor: Ruben Kremers eFin-Blog Farbe: gelb

„Retire Rich”: Wer profitiert vom Business-Feminismus der Fintech-Branche?

„Retire Rich”: Wer profitiert vom Business-Feminismus der Fintech-Branche?

Ein Beitrag von Ruben Kremers

9. Dezember 2024

Am 8 März 2024, pünktlich zum Weltfrauentag, brachten der Neobroker Trade Republic und das Modelabel saint sass eine Strumpfhose mit der Aufschrift „RETIRE RICH“ (z. Dt. „REICH IN DIE RENTE“) auf den Markt. Die Aktion sollte Frauen zum Investieren ermutigen und sie auf Angebote der privaten Altersvorsorge aufmerksam machen, die nicht zuletzt von Trade Republic selbst vertrieben wurden. „Frauen investieren seltener und fangen später an zu investieren“, stand auf der Verkaufswebseite, „deshalb ist jede fünfte Frau in Europa über 65 Jahren von Altersarmut bedroht“. Trade Republic biete Frauen daher einen sicheren, einfachen, und kostenlosen Zugang zu Kapitalmärkten, um privates Vermögen aufzubauen und die Altersvorsorge abzusichern.

Werbefoto der Trade-Republik-Kampagne: Blick auf mit Strumpfhose bekleideten Oberschenkel einer Frau und den dort aufgedruckten Schriftzug "Retire RIch"
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Die Vermarktung frauenspezifischer Themen ist bei weitem keine Seltenheit im Fintech-Sektor und unterstreicht den generellen Optimismus der Branche, politische Probleme aller Art unternehmerisch lösen zu können. Gleichzeitig entsteht im praktischen Alltag eher der Eindruck, dass Fintech in Sachen Geschlechtergerechtigkeit hinter anderen Branchen zurückbleibt – trotz der prominenten Rolle zahlreicher, speziell an Frauen gerichteter Werbekampagnen, Netzwerke und Initiativen. Dieser Eindruck wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung bestätigt, wobei die deutsche Fintech-Szene noch relativ unerforscht ist. Vor diesem Hintergrund bietet die Werbekampagne zum Weltfrauentag einen willkommenen Anlass, einen kurzen Blick auf den feministischen Anspruch der Branche zu werfen.

„Das ist doch alles nur Marketing!“

Es kann verlockend sein, feministische Ziele in der Fintech-Branche als reinen Opportunismus abzutun. Allzu oft werben Fintech-Unternehmen in Mission Statements mit feministischen Bekenntnissen, ohne diese im Alltag gezielt zu verfolgen oder unter Druck zu verteidigen. Der Vorwurf des Opportunismus kann in solchen Fällen dabei behilflich sein, leere Versprechen zu thematisieren und verbindlichere Maßnahmen einzufordern.

Jedoch greift der Vorwurf des Opportunismus auch häufig zu kurz. Zum einen sind viele Akteur:innen in der Fintech-Branche davon überzeugt, dass Startups feministische Ziele gerade deshalb verfolgen sollten, weil sie nun mal gut fürs Geschäft seien: Aus guten, opportunistischen Gründen! Opportunistische Motive werden in diesem Kontext nicht unbedingt kritisch gesehen und Unternehmen einen Vorwurf daraus zu machen stößt auf Unverständnis. Andererseits gibt es zahlreiche aufrichtige Versuche im Fintech-Sektor, ihn feministischer zu gestalten. Diese als opportunistisch zu bezeichnen, wäre schlicht fahrlässig und ginge an der Realität vorbei.

Es lohnt sich daher, den feministischen Anspruch des Fintech-Sektors nicht einfach in Abrede zu stellen, sondern die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Herausforderungen zu lenken, die sich aus diesem Anspruch im praktischen Alltag ergeben. Es mag sein, dass der Fintech-Feminismus manchmal naiv-idealistisch und oft sogar zynisch-opportunistisch daherkommt. Richtig ist aber auch, dass er dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten zum Thema zu machen und Lösungsansätze zur Diskussion zu stellen.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne: Links ein Model, sichtbar ab den Knien aufwärts, bekleidet mit Lederjacke und grauer Shorts und der Retire-Rich-Strumpfhose.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Business-Feminismus

In der akademischen Debatte werden die Versuche der Wirtschaft, feministische Ziele mit unternehmerischen Zielen in Einklang zu bringen, als Business-Feminismus beschrieben. Befürworter:innen des Business-Feminismus betonen, dass die strukturelle Benachteiligung von Frauen wirtschaftlichen Schaden anrichte. Frauen in der Führungsetage machten Firmen erfolgreicher und innovativer. Von Frauen gegründete Startups lieferten attraktive Anlagemöglichkeiten. Und Produkte speziell für Frauen bildeten einen lukrativen Markt.

Unter den Kritiker:innen des Business-Feminismus gibt es jene, die anti-feministisch gegen die Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft argumentieren. Und es gibt jene, die feministisch auf die Grenzen des Business-Feminismus hinweisen. Letztere bestreiten in der Regel nicht, dass der Business-Feminismus dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten für Frauen abzubauen. Sie weisen aber darauf hin, dass er tendenziell privilegierte Frauen begünstigt – und selbst das nur dann, wenn die Privilegien von Männern und das uneingeschränkte Primat wirtschaftlichen Eigeninteresses unangetastet bleiben.

Diese Kritik mag abstrakt klingen. Sie bietet aber einen nützlichen Ausgangspunkt, um die Schwachpunkte des Fintech-Feminismus besser zu verstehen. In diesem Sinne kann der Fintech-Feminismus als eine Spielart des Business-Feminismus betrachtet werden – und die Werbekampagne zum Weltfrauentag als ein anschauliches Beispiel seiner Widersprüche.

Die Widersprüche des Fintech-Feminismus

#1 Finanzielle Selbstbestimmung

Ein bedeutender Schwachpunkt des Fintech-Feminismus wird an dem selbsterklärten Ziel der Kampagne deutlich, die drohende Altersarmut von Frauen durch einen erleichterten Zugang zu Kapitalmärkten und privater Altersvorsorge zu verhindern. Dieser Versuch stellt ein typisches Beispiel zahlreicher Bemühungen in der Fintech-Branche dar, die Gleichberechtigung von Frauen durch die Förderung ihrer finanziellen Unabhängigkeit und ihrer finanziellen Selbstbestimmung zu unterstützen.

Einerseits thematisieren diese Bemühungen ein echtes Problem. Finanzthemen und Investitionen werden noch immer zu oft zur Männersache erklärt. Frauen haben daher oft ein geringeres Finanzwissen als Männer, legen ihr Erspartes deutlich seltener in Aktien oder Immobilien an, und erhalten dementsprechend geringere Renditen.1Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.860997.de/publikationen/wochenberichte/2022_49_3/auch_beim_sparen_gibt_es_einen_erstaunlichen_gender-gap__kommentar.html. Andererseits blenden diese Bemühungen eine Reihe weiterer Probleme aus, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht schwerer wiegen. Denn die finanzielle Benachteiligung von Frauen beruht vor allem auf ihrem geringeren Einkommen, nicht so sehr auf der geringeren Rendite an Kapitalmärkten. Zudem haben fast 40 Prozent der Menschen in Deutschland kein nennenswertes Vermögen.2Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.851101.de/nachrichten/die_soziale_notlage_trifft_schon_laengst_die_breite_masse.html. Frauen ohne nennenswertes Vermögen fehlen Ersparnisse, nicht mehr Finanzwissen oder ein einfacher Zugang zu Kapitalmärkten, um einer drohenden Altersarmut zu entgehen.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne. Rechts oben der Schriftzug Der Gender Pension Gap. Links das Model hockend in engem schwarzen T-Shirt und Strumphose.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Wie der Business-Feminismus riskiert der Fintech-Feminismus hier, ein allzu einseitiges Verständnis der Gleichberechtigung zu verfolgen, bei dem die gesellschaftliche Realität vielschichtiger, sich überschneidender sozialer Ungleichheiten aus dem Blick gerät. Es ist zweifellos wichtig, Finanzthemen und Finanzkompetenzen an Frauen und Männer gleichermaßen zu vermitteln. Es ist aber auch wahr, dass ein Fokus auf die Vermittlung von Finanzwissen und Finanzkompetenzen im Bereich Kapitalmarkt vorrangig Frauen erreicht, die bereits über ein gewisses Maß an Reichtum und Bildung verfügen. Die Probleme von Frauen, die über weniger kulturelles und finanzielles Kapital verfügen und schon deshalb vorrangig unterstützt werden müssten, drohen unberücksichtigt zu bleiben.

#2 Fintechs Frauenbilder

Eine weitere Herausforderung des Fintech-Feminismus wird an der strategischen Inszenierung der Zielgruppe der Kampagne zum Weltfrauentag deutlich. Trade Republic und saint sass präsentieren eine junge Frau – zerzaustes Haar, schwarze Lederjacke, knappes Crop-Top, grauer Minirock – in lässiger Pose. Eine Inszenierung, die zugleich als unabhängig, selbstbewusst, verführerisch gelesen werden kann, aber auch als lasziv, devot, und übersexualisiert. Es bleibt unklar, ob die Strumpfhose hier vorrangig dazu dienen soll, Frauen anzusprechen und auf das Thema der Altersarmut aufmerksam zu machen. Oder ob sie vielmehr den Blicken der männlichen Kunden dienen soll, die rund 84 Prozent der Nutzer von Trade Republic ausmachen.

Diese Ambivalenz ist symptomatisch für die widersprüchlichen Erwartungen an das Aussehen, mit denen Frauen auch in der Fintech-Branche konfrontiert sind. Und für die unverhältnismäßige Bedeutung, die das Aussehen für sie im Vergleich zu den Männern einnimmt. So sind Frauen stets dazu aufgefordert, weiblich, aber nicht zu weiblich aufzutreten, attraktiv, aber nicht zu attraktiv zu wirken. Dabei ist ihr Aussehen, anders als das der Männer, der permanenten Beurteilung durch andere ausgesetzt. Dies äußert sich etwa in ungefragten Begutachtungen, anzüglichen Bemerkungen oder abfälligen Kommentaren, die sich disproportional an Frauen richten, und die oft fließend in übergriffige Formen des Alltagssexismus übergehen.

Vor diesem Hintergrund mag die Strumpfhosenkampagne zwar das legitime Bedürfnis mancher Frauen inszenieren, unabhängig, selbstbewusst, und verführerisch zu sein. Sie untermauert dabei aber auch die generelle Erwartung an Frauen, die Sexualisierung ihres Aussehens und die damit verbundene Ungleichheit gegenüber Männern als einen normalen Aspekt des unternehmerischen Alltags zu akzeptieren. Die Idee, ein in Strumpfhosen posierendes Model am Weltfrauentag zu einem Symbol im Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen zu erklären, erscheint mit Blick auf diese Ungleichheit daher, gelinde gesagt, unglaubwürdig.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne. Links unten der Schriftzug Retire Rich. Mittig das Model halbliegend, mit einem Bein aufgestellt.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

#3 Bros, Geeks und Nerds

Eine letzte Schwachstelle des Fintech-Feminismus wird an der Art und Weise deutlich, in der die Weltfrauenkampagne die Gleichberechtigung von Frauen beinahe wie selbstverständlich als reines Frauen-Thema präsentiert. Dabei ist offensichtlich, dass die bestehenden Privilegien von Männern die vielleicht wichtigste Hürde für die Gleichberechtigung von Frauen in der Branche darstellen. Wobei diese Privilegien unter Männern ungleich verteilt sind. Eine Frage, die mehr Aufmerksamkeit verdient, ist daher, wie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Fintech-Branche von einem unternehmerischen Ethos aufrechterhalten werden, das den Computerfreak, das verkannte Genie, gepaart mit der Risikobereitschaft, Rücksichtslosigkeit und dem Reichtum eines Investmentbankers zum Leitbild des erfolgreichen Unternehmers erklärt.

Eine Eigenart der Fintech-Szene ist, dass sie die einst negativen Klischees über Computerfreaks und Investmentbanker oft als positive Klischees männlicher Startup-Gründer reinterpretiert. Statt konventionelle Vorstellungen männlicher Überlegenheit zu verdrängen, hat dies in Teilen der Szene zu einer Verschiebung der Überlegenheitsfantasie geführt. Diese äußert sich in den regelmäßigen Exzessen der vielzitierten Bro-Culture, die sexistische Beleidigungen und sexuelle Übergriffe in Teilen der Szene normalisiert. Sie äußert sich darin, dass Wagniskapitalfonds in Deutschland noch immer beinahe ausschließlich in Startup-Unternehmen mit männlichen Gründern investieren,3Siehe: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/mehr-unternehmerinnen-fuer-den-mittelstand.html und dass der Verweis auf „traditionelle Rollenbilder“ dabei als plausible Rechtfertigung annerkannt wird. Schließlich äußert sie sich auch in der Leichtigkeit, mit der insbesondere Männer in der Branche feministische Themen zur Nebensache erklären, die – ganz im Sinne des Business-Feminismus – nur dann interessant wird, wenn sie Wachstum und Profitabilität für das eigene Unternehmen verspricht.

Ein anderer Feminismus für die Fintech-Branche?

Wer profitiert vom Fintech-Feminismus? Das Beispiel der Weltfrauentagskampagne macht deutlich, dass diese Frage nicht einfach zu beantworten ist. Der Fintech-Feminismus vermag es, die strukturelle Benachteiligung von Frauen sichtbar zu machen und die Forderung nach Veränderung zu verbreiten. Er hat dabei aber vorrangig die Interessen privilegierter Frauen im Blick und lässt die strukturellen Privilegien von Männern und den absoluten Vorrang der Profitmaximierung von Unternehmen unangetastet. Wie könnte daher ein ambitionierterer Fintech-Feminismus aussehen?

Ein erster Ansatzpunkt wäre es, zu fragen, wie die Interessen der am wenigsten priviligierten Frauen mit an Bord geholt werden können. Das würde bedeuten, nicht nur mehr Frauen zum Investieren zu ermutigen, sondern auch über kollektive Formen der Fürsorge, des Wohlstands, und der Umverteilung nachzudenken. Wie können digitale Finanztechnologien dazu beitragen, die Lage von Frauen zu verbessern, die keine nennenswerten Ersparnisse haben?

Ein zweiter Ansatzpunkt wäre es, die Sexualisierung von Frauen im unternehmerischen Alltag als ein kollektives Problem zu bekämpfen, von dem Frauen jedoch in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Wie können unternehmerische Weiblichkeiten dargestellt, verkörpert, und verteidigt werden, die auch Frauen eine Orientierung im unternehmerischen Alltag bieten, die nicht bereits gesellschaftlichen Normen entsprechen?

Schließlich müsste ein ambitionierter Fintech-Feminismus auch damit beginnen, den Fokus auf die Rolle und Privilegien von Männern zu legen. Wie kann der Kampf gegen den Alltagssexismus in der Branche als ein Männerthema artikuliert und verankert werden? Wie können mehr Männer dazu gebracht werden, die eigenen Privilegien nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu Gunsten einer gerechteren, vielseitigeren, und letztlich innovativeren Branche aufzugeben? Und kann die Glorifizierung des Computerfreak-Investmentbankers durch alternative Erzählungen erfolgreichen Unternehmertums zurückgedrängt und sogar ersetzt werden?

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Autor: Marek Jessen eFin-Blog Farbe: gelb

Teilt PayPal meine Daten, nur nicht mit mir? Eine Datenabfrage und die Grenzen des Auskunftsrechts

Teilt PayPal meine Daten, nur nicht mit mir? Eine Datenabfrage und die Grenzen des Auskunftsrechts

Ein Beitrag von Marek Jessen

6. November 2024

Kannst du mir das „paypalen“? – eine Frage, die ihren Weg in unser aller Alltag gefunden hat. Nur wenigen Firmen gelingt es, dass die Verwendung ihrer Dienste mit einem eigenen Verb bezeichnet wird – PayPal gehört dazu. Der Dienst steht sinnbildlich für das einfache und schnelle Versenden von Geld zwischen Freund:innen. PayPal ist allerdings weit mehr und mittlerweile aus dem Konzert digitaler Zahlungsmittel nicht mehr wegzudenken.

Für das Forschungsprojekt Geld als Datenträger, das die Datennutzung verschiedener digitaler Zahlungsmittel untersucht, wollte ich zunächst vermeintlich einfache Wege gehen, um erste Eindrücke von der Datennutzung digitaler Zahlungsanbieter zu gewinnen. PayPal sollte da nicht fehlen. Mit einem guten Schwung Neugierde wollte ich als PayPal-Nutzer mein Auskunftsrecht gemäß Art. 15 DSGVO geltend machen. Ob ich erfolgreich war und was dieser Versuch über die Durchsetzung von Rechten im Rahmen der DSGVO aussagt, darum soll es im Folgenden gehen.

Ein paar Eckpunkte zu PayPal

Die Geschichte von PayPal beginnt 1998, damals noch unter dem Namen Confinity. Aus heutiger Sicht interessant: Einer der Gründer war Peter Thiel, auch bekannt als früher Facebook-Investor (jetzt Meta), Vorstandsvorsitzender von Palantir (einem Anbieter von Software zur Analyse großer Datenmengen) und glühender Anhänger von Donald Trump. Mit der Fusionierung mit X.com im Jahre 2000 verschwindet der Name Confinity und wird durch den des Fusionspartners ersetzt. Elon Musk als einer der Mitgründer von X.com wird nach der Fusionierung Teil des Vorstands und CEO. Wenig später erhält das Unternehmen seinen heutigen Namen: PayPal. Durch die Übernahme von eBay im Jahre 2002 wurde ein weiterer wichtiger Grundstein für die heutige Bekanntheit gelegt.

Stand heute wird im deutschen Onlinehandel der meiste Umsatz über PayPal abgewickelt. Mit 88% der Befragten, die in einer Bundesbankstudie angegeben haben, PayPal zu kennen, ist es auch das bekannteste Web- und App-basierte Bezahlverfahren. Damit liegt es deutlich vor Klarna (74%), Google Pay (55%) sowie Apple Pay (55%). Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich im privaten Bereich ab, also bei sog. Peer-to-Peer (P2P)-Zahlungen. Knapp die Hälfte (48%) bevorzugen dafür „unbare“ Zahlungsmittel, wie es in der Bundesbankstudie heißt. An erster Stelle sind das klassische Überweisungen, diese werden jedoch dicht gefolgt von PayPal-Zahlungen, die insbesondere von jüngeren Leuten genutzt werden. Im europäischen Vergleich bieten in Deutschland die meisten Onlinehändler (93%) PayPal als Zahlungsmethode an. Abhängig von etablierten nationalen Lösungen oder einer Vorliebe für Barzahlungen, kann die Rate innerhalb der europäischen Länder erheblich schwanken. Beispielsweise bieten in Serbien lediglich 4% der Onlinehändler PayPal als Zahlungsmethode an.

Recht auf Auskunft geltend machen, aber wie?

Erfolg und Bekanntheit von PayPal machen es somit zwingend zu einem Teil unserer Untersuchung. Ein erster Anfang sollte mit einer einfachen Abfrage der Daten, also erstmal meiner Daten, gemacht werden.

Denn die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit (kurz BfDI) sieht in dem Recht auf Auskunft (Art. 15 DSGVO) ein „bedeutsames Betroffenenrecht“, das mir den Erhalt gespeicherter personenbezogener Daten ermöglicht, auch den „ergänzender Informationen, etwa über die Verarbeitungszwecke, die Herkunft der Daten […] oder über Empfänger“, an die meine Daten geliefert werden. Das Auskunftsrecht bezieht sich außerdem nicht nur auf „sogenannte Stammdaten“, sondern umfasst bspw. alle Daten mit Bezug zu meiner Person, wie z.B. Chatverläufe mit dem Kundensupport oder für PayPal besonders relevant: getätigte Geldsendungen. Es steht mir gemäß Gesetz offen, dieses Recht gegenüber öffentlichen Stellen zu erwirken, ebenso wie gegenüber nichtöffentlichen Stellen, u.a. Wirtschaftsunternehmen – und damit auch von PayPal.

Silhouette einer männlichen Figur, die von Zeichen für Zahlungsverkehr umgeben und durchzogen ist.

Mithilfe von Suchmaschinen fand ich sehr schnell einen Weg, meine Daten herunterzuladen. Offen gestanden wirkte das recht intuitiv, einer Recherche hätte es womöglich nicht bedurft. Letztendlich führt der folgende Pfad im PayPal-Account dorthin: „Einstellungen“ – „Daten & Datenschutz“ – „Ihre Daten herunterladen“. Bereits nach wenigen Sekunden erschien im eingebetteten Chat meines PayPal-Accounts die Nachricht Sender: CUSTOMER SERVICE mit dem Betreff: Wir haben Ihre Anforderung auf Datenzugriff erhalten. Versehen mit dem Verweis, dass mit der Arbeit begonnen werde und innerhalb von 30 Tagen eine Rückmeldung komme. Nach wenigen Minuten wiederum erhielt ich eine weitere Nachricht Sender: CUSTOMER SERVICE mit dem Betreff: Hier sind ihre Daten.

Beschwingt durch die intuitive Bedienbarkeit und schnelle Abwicklung meiner Anfrage öffnete ich das angehängte Datenpaket bestehend aus zwei Dokumenten: Data Processing Information.pdf und Personal Data File.pdf. Doch schnell wurde mir klar, dass meine Neugier nicht befriedigt, sondern enttäuscht wurde. Das Personal Data File enthielt primär meine Stammdaten (Name, Geburtstag, E-Mailadresse) sowie einige wenige Zusatzinformationen (verknüpftes Bankkonto) und blieb weit hinter meiner Erwartung zurück, eine umfassende Datenauskunft zu bekommen. Der Eindruck, das sei alles nicht zureichend, ließ sich auch deswegen nicht abschütteln, weil offensichtlich mehr Informationen in meinem Account über mich einsehbar als in der Auskunft enthalten waren.

Nun also per Einschreiben…

Mit nun gefasstem Forschungseifer dachte ich über andere, bestenfalls zielführendere, Wege nach. Ich wollte es auf dem Postweg versuchen. Über die Verbraucherzentrale fand ich eine Art Musterschreiben, das ich um weitere Identifikationsmerkmale ergänzte: meinen Benutzernamen und meine Mobile Advertising ID. Denn laut netzpolitik.org erleichtern zusätzliche Informationen bei Datenabfragen, insbesondere bei Datenhändlern, das Finden in deren Datenbanken.

Es blieb nun noch die Frage, an welche Adresse das Schreiben zu richten sei. Aufschluss darüber gibt die Landesbeauftragte für Datenschutz und Akteneinsicht in Brandenburg (lda), die im Grundsatz für PayPal verantwortlich ist. Die PayPal Deutschland GmbH hat nämlich ihren Sitz in Kleinmachnow, einer kleinen Gemeinde ca. 15 km von Potsdam entfernt. Auf der Homepage wird jedoch auf die Zuständigkeit der luxemburgischen Datenschutzbehörde, die Nationale Kommission für den Datenschutz (CNPD), verwiesen. In der deutschen Zweigniederlassung von PayPal findet nach „derzeitigem Kenntnisstand keine relevante Verarbeitung personenbezogener Nutzerdaten statt“. Ich schickte meinen Brief also an den europäischen Sitz des Unternehmens in Luxemburg.

Wenige Tage später bekam ich wieder über das Chatfenster eine Nachricht. Dieses Mal von PayPal Support mit dem Betreff: Postalischer Kontakt. Zur Beschleunigung des Prozesses kam die Nachfrage, ob ich den Datenumfang in Bezug auf Datenkategorien und den Erhebungszeitraum einschränken wolle. Unter Verweis auf das zugeschickte Dokument wies ich darauf hin, bereits eine erschöpfende Liste an Datenkategorien geschickt zu haben und bezüglich des Zeitraums könnten gerne alle Daten seit Accounteröffnung gesammelt werden.

Die Antwort kam prompt und sogar personalisiert durch eine Mitarbeiterin von PayPal. Der mutmaßlich menschliche Gegenpart wirkte zunächst erfrischend und hob sich von vorherigen Kontaktschleifen ab. Leider folgte sehr bald beim Lesen der Nachricht die Ernüchterung. Es fing zunächst eingängig und vielversprechend an:

„Wie in unserer Datenschutzerklärung beschrieben, verwenden wir Ihre personenbezogenen Daten, um Zahlungen zu verarbeiten, Betrug und Missbrauch zu verhindern, Konflikte zu klären, Ihnen eine personalisierte Erfahrung zu vermitteln und Sie über Angebote, Produkte und Dienstleistungen zu informieren.“

Ein Teil meiner Anfrage wurde in sehr groben Zügen aufgenommen. Meine Daten werden also zur Schaffung einer personalisierten Erfahrung genutzt, bspw. durch gezielte Konsumanreize. Aber der entsprechende Datenauszug, der mir eine bessere Nachvollziehbarkeit ermöglicht hätte, fehlte. Ein mit Chuzpe versehener Abschied rundete die Nachricht ab:

„Schön, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte und ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.

Viele Grüße

Name der Mitarbeiterin

PayPal-Kundenservice“

Hier endete der Kontakt mit PayPal, eine weitere Schleife habe ich nicht angestoßen. Ein Blick in die Datenschutzerklärung von PayPal klärt darüber auf, dass sie Daten potenziell mit einer Vielzahl an Partnern teilen. Selbstverständlich nur mit der Erlaubnis ihrer Kund:innen, die allerdings per default gesetzt ist. 

Theoretisch streng, praktisch nachlässig

Der Grundsatz, Auskunft über die gespeicherten Daten erhalten zu können, ist wertvoll, in der Realität aber – wie sich gezeigt hat – begrenzt und damit ausbaubedürftig. So zeichnete Max Schrems, Gründer von noyb – des Europäischen Zentrums für digitale Rechte, ein düsteres Bild, als er Ende Juni 2024 in einer Anhörung des Bundestages zu Potenzialen und Herausforderungen innovativer Datenpolitik zum Thema Recht auf Selbstauskunft Bilanz zog: Die Praxis zeige, dass das Auskunftsrecht „weder flächendeckend eingehalten noch durchgesetzt“ wird. Konkret bedeutet das, dass bei der Hälfte der gestellten Anfragen keine substanzielle Antwort und beim überwiegenden Rest nur Teilantworten zu erwarten seien. Eine vollständige Auskunft, so leitete er aus der Praxis ab, erhalten Auskunftssuchende in lediglich 5% der Fälle.

Theoretisch bliebe in solchen Fällen die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Datenschutzbehörde zu beschweren und so eine vollständige Auskunft zu erwirken. Aber auch hier zeigte sich Schrems gerade mit Blick auf Deutschland ernüchtert. In der Anhörung verwies er darauf, dass noyb in der Regel davon absehe, Beschwerden bei deutschen Datenschutzbehörden einzureichen, weil diese schlichtweg nicht „bissig sind, da wird nicht ordentlich durchgesetzt“. Die Ironie liegt darin, dass die „deutsche Innenansicht“, also die Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit, komplett konträr dazu ist. In der Selbstwahrnehmung trifft die wahrgenommene Strenge im Datenschutz keineswegs auf entsprechende Vollzugsqualitäten und damit auf eine unzureichende praktische Durchsetzung der Betroffenenrechte.

Abschließend bleibt zu sagen, dass dieses Ergebnis insgesamt ernüchternd ist. Auch wenn sich ausgehend von diesem Fall keine pauschale Aussage über andere Zahlungsdienstleister treffen lässt, bleibt festzuhalten, dass Zahlungsverkehrsdaten wegen der Möglichkeit sensible Einblicke in unser Leben zu geben, besonders wertvoll für eine Vielzahl von Interessen sind. Transparenz darüber zu schaffen, welche Daten vorhanden sind, kann da nur der erste Schritt sein. Daher ist es bedenklich, wenn es an der praktischen Durchsetzung des Auskunftsrechts zu hapern scheint.

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Autor: Moritz Hütten eFin-Blog Farbe: gelb

Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Ein Beitrag von Moritz Hütten

9. Oktober 2024

Eine Szene konnten Sportbegeisterte bei den zurückliegenden Olympischen Sommerspielen in Paris immer wieder sehen: Athlet*innen, die für die Fotografen auf die gerade errungene Medaille bissen. Woher stammt die Idee hinter dem beliebten Fotomotiv? Wer sich weniger für Sport interessiert, kennt das Motiv vielleicht aus Westernfilmen, in denen der Held oder Halunke mit dem „Bisstest“ die Echtheit einer Goldmünze prüft.  Händler*innen konnten so angeblich erkennen, ob es sich wirklich um das weiche Edelmetall handelt.

Die Zusammensetzung der Medaillen von heute ist bekannt. Selbst die Goldmedaille weist nur einen geringen Goldanteil auf. Sie bringt es aktuell auf einen Materialwert von gerade mal 1000 €. Der Biss auf dem Siegertreppchen ist also lediglich ein Ritual.

Was wir hier aber sehen, ist das Doppelleben von Edelmetallen, allen voran Gold: Sie sind Material und Symbol zugleich und verkörpern Seltenheit und Beständigkeit. Nicht nur im Sport, sondern auch in der Geschichte unseres Geldes spielt Gold eine Rolle. Über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts hatten viele Länder einen Goldstandard, sprich ihre Währung war durch Goldreserven gedeckt. Auch wenn diese Deckung in den 1970er Jahren endgültig aufgehoben wurde, wirkt die Vorstellung von Gold als „echtem“ Wert bis heute nach und findet in Krisenzeiten sogar neuen Zulauf. Die Idee vom Geldwert durch Edelmetall nennt sich Metallismus und gehört zu den „Warengeld“-Theorien.

Goldschürfer findet einen Bitcoin

Metallismus und digitales Bezahlen wirken zunächst wie Gegensätze. Seit 2008 versucht die Kryptowährung Bitcoin jedoch, diese beiden Gegensätze zusammenzubringen, mit dem Anspruch, „digitales Gold“ zu sein. Was ist aber „digitales Gold“ und welche Konsequenzen hat das für unser Finanzsystem?

Es war einmal … – Eine kurze Geschichte des Metallismus

Am Anfang war der Tausch. Tauschende hatten aber ein Problem: Tauschen kann nur, wer hat, was der/die andere braucht und braucht, was der/die andere hat. Wenn ich Weizen habe und Schuhe möchte, dann brauche ich jemanden, dem es genau umgekehrt ergeht. Wirtschaftswissenschaftlich spricht man von der Koinzidenz von Bedürfnissen. Wenn sich die richtigen nicht finden, kommt der Tausch also schnell zum Erliegen, selbst wenn zu befriedigende Bedürfnisse bei allen vorhanden sind. Um das zu verhindern, braucht es eine Art „Joker“, der an die Stelle des eigentlich gewünschten Gutes treten kann.

Laut der Geschichtserzählung des Metallismus ruft das die Edelmetalle auf den Plan. Durch ihre Beständigkeit, Seltenheit, Transportierbarkeit und Teilbarkeit eignen sie sich ideal als Joker. Der wertige Joker funktioniert damit fast wie unser Geld heute. Weil sich mit ihm jedes andere Gut ertauschen lässt, beschreibt der Soziologe Georg Simmel den Edelmetall-Joker auch als das „absolute Mittel“.

Erst hier taucht in dieser Version der Geschichte der Staat auf. Wenn der Joker reibungslos zirkulieren soll, braucht es Standardisierung. Staatliche Münzstätten gewährleisten mit ihrer Prägung die Konsistenz von Gewicht und Feinheit jeder Münze. Der Wert entstammt dem Material, der Staat vereinfacht nur den Ablauf.

So weit, so falsch.

Der Wirtschaftsanthropologe David Graeber widerspricht in „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“ dieser Erzählung. Nach Graeber ist die Welt des freien Tauschhandels eine retrospektive Erfindung des angehenden Kapitalismus, der die Marktwirtschaft als „natürliche“ Gesellschaftsordnung rechtfertigt. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass Kredit und Schulden in der Geschichte deutlich vor dem Tauschhandel mit Geld auftreten.

Was hier erst einmal wichtig ist, ist, dass eine Geschichte des Geldes ohne Staat oder Gesellschaft Fiktion ist. Fiktiv zu sein, macht sie aber nicht weniger wirkmächtig. Vorstellungen eines „harten“ Geldwerts abseits „weicher“ politischer und sozialer Institutionen finden insbesondere in Zeiten multipler globaler Krisen sogar neuen Zulauf.

Was ist eigentlich Bitcoin?

2008 deutete sich vorsichtig eine überraschende Entwicklung an. Jemand unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto stellte den Entwurf für ein digitales Geldsystem vor, das sich in vielerlei Hinsicht an der Fiktion des Metallismus orientierte: Bitcoin.

Bitcoin ist ein dezentralisiertes Computerprotokoll, das das digitale Bezahlen ohne Intermediär oder Mittelsmann erlaubt und sich ideologisch sowohl am Bargeld als auch am Metallismus orientiert. 2008 wurde das Konzept schriftlich prägnant im sogenannten Bitcoin-Whitepaper vorgestellt; 2009 ging die dazugehörige Software online.

Das Besondere an Bitcoin war, dass Nakamoto einen Vorschlag erarbeitet hat, wie die Transaktionshistorie dieses Bezahlsystems konsistent und verlässlich verwaltet werden kann, ohne die Kontrolle darüber bei einer zentralen Instanz zu bündeln. Technisch läuft das Ganze so ab, dass durch eine Art Lotterieverfahren, dem sogenannten Mining, Schreibrechte für den nächsten Eintrag im digitalen Buchhaltungssystem, dem Ledger, unter all jenen verlost werden, die ihre Rechenleistung zum Betrieb des Protokolls bereitstellen. Wer mehr Rechenleistung bereitstellt, hat auch bessere Chancen und wer gewinnt, erhält einen fixen Betrag neu geschöpfter Bitcoins und einen variablen Betrag an Transaktionsgebühren.

Ungefähr alle 10 Minuten findet diese Ausschüttung statt und es werden im Durchschnitt etwa 4000 Transaktionen abgewickelt, indem sie in Form eines „Blocks“ dem Buchführungssystem hinzugefügt werden. Es ergibt sich eine Kette an Blöcken, die Blockchain. In fixen Intervallen nimmt die Anzahl der neu geschöpften Bitcoins in vorausschaubarer Weise ab, bis die von Anfang an festgelegte Maximalmenge von 21 Millionen Bitcoins erreicht ist.

Dass Bitcoin eine Kritik am bestehenden Finanzsystem ist, wurde gleich im ersten Block bekräftigt, wo sich bis heute ein Verweis auf eine Schlagzeile des Tages findet: „The Times 03/Jan/2009 Chancellor on brink of second bailout for banks“.

Wie kann man sich „digitalen Metallismus“ vorstellen?

Bitcoin hat schon sehr früh für Kontroversen gesorgt. Zu den bekannteren Beispielen gehört die Unterwanderung der Sanktionen gegen WikiLeaks oder die Nutzung im Onlinedrogenhandel 2010/11. Was Bitcoin jedoch wirklich kontrovers gemacht hat, war der Anspruch, „Geld“ zu sein. Gezielt und ohne staatliche Beteiligung „neues“ Geld zu schaffen, kam einem Tabubruch gleich. Dementsprechend versuchen Forschende bis heute, Bitcoin geldtheoretisch einzuordnen.

2013 kam von drei Sozialwissenschaftler:innen der Vorschlag, Bitcoin als „digitalen Metallismus“ zu beschreiben (Maurer et al 2013). Durch den Begriff wird sowohl dem Versuch der Geldmengenbegrenzung im Digitalen Rechenschaft getragen als auch der Nomenklatur von Bitcoin, die sich am Münzgeld und, siehe Mining, am Abbau von Edelmetallen orientiert. Coin, sprich Münze oder Geldstück, verweist auf den Archetyp „harten“ Geldes. Zahllose Artikel verwenden bis heute beim Thema Bitcoin gerne das Bild einer goldenen Münze, der ein dem Dollarzeichen ähnliches Bitcoin-Logo aufgeprägt ist. Während es verschiedene Versionen solcher konkreten Münzen als Souvenir oder gar als DIY-Münze samt Sticker mit persönlichem Wallet-Zugangscode gibt, sorgt diese physische und bildliche Darstellung eher für Verwirrung, weil die Vorstellung der fixen Münze den eigentlichen Abläufen der digitalen Transaktionsabwicklung zuwiderläuft.

Auch der Begriff des „Mining“ orientiert sich am physischen Vorbild des Goldschürfens. Wie im Bergbau wird hier arbeitsintensiv „geschürft“, in der Hoffnung, auf Gold zu stoßen, nur dass die Arbeit von (mittlerweile) stark spezialisierter Hardware geleistet wird.

Um zu verstehen, was es mit dem „digitalen Metallismus“ auf sich hat, sollte man in den Artikel schauen, in dem der Begriff geprägt wurde. Was die Wissenschaftler:innen dort zum Ausdruck bringen wollen, ist, dass schon der Metallismus, also die Idee vom „echten“ Geldwert durch Edelmetall, eine soziale Konstruktion ist. Was damit gesagt werden soll, wirkt zunächst paradox, ist Gold doch ein Material, dessen Eigenschaften für uns dinglich erfahrbar sind und dessen Seltenheit unstrittig ist. Wie kann es also eine „soziale Konstruktion“ sein?

In den Sozialwissenschaften beschreibt eine „soziale Konstruktion“, dass viele Aspekte unserer Realität, wie Normen, Werte und soziale Strukturen, keine „natürlichen“ Gegebenheiten, sondern das Ergebnis von sozialen Prozessen und Interaktionen sind. Damit wird nicht bestritten, dass Gold fixe physische Eigenschaften hat, aber seine Rolle als Wertaufbewahrungsmittel wird als sozial konstruiert verstanden. Oder anders gesagt: auch der vermeintlich „echte“ Goldwert entspringt sozialen Verhältnissen. 

„Digitaler Metallismus“ baut darauf auf und bezieht sich auf die „diskursiven Praktiken“ der Warengeld-Theoretiker:innen, durch die soziale Beziehungen, die Kredit- und Schuldverhältnissen (eigentlich) zugrunde liegen, „naturalisiert“ werden, was bedeutet, dass sie wie „natürliche“ Eigenschaften unserer Realität erscheinen.

Was man sich, übernimmt man diese Perspektive, dann eigentlich anschauen muss, ist die „Diskursarbeit“ der Bitcoinverfechter:innen. Ob Bitcoin „digitales Gold“ ist, ist nicht so sehr eine Wesensfrage als eine Frage der Positionierung. Während sich Bitcoin mit der Rolle als vollumfängliches Geld schwertut, läuft die Positionierung als „digitales Gold“ heute sehr erfolgreich.

Bitcoin – Vom „electronic cash“ zum „digitalen Gold“

Geld werden gemeinhin drei Funktionen zugeschrieben, die es im Alltag hat: Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel.

Als Tauschmittel und Recheneinheit versagt Bitcoin. Wer sich Mühe gibt, findet zwar Wege, vereinzelt Waren oder Dienstleistungen mit Bitcoins zu erwerben, selbst Bitcoin-Fans zahlen ihren morgendlichen Kaffee oder ihre Miete jedoch weiterhin in ihrer lokalen Währung. Ebenso werden die Preise für solche Angebote kaum in Bitcoin abgebildet, sondern beispielsweise in Euro oder US-Dollar, die dann in Kommabeträge von Bitcoins umgerechnet werden.

Vielfach wird Bitcoin mit (Online-)Kriminalität in Verbindung gebracht. Zwar schreibt die Bundesdruckerei dazu: „Kryptowährungen sind nicht per se ein kriminelles Instrument, aber der konkrete Einsatz und die spezifischen Eigenarten machen sie für Straftaten attraktiv“. Für bestimmte Straftaten wie Ransomware-Angriffe – eine „Lösegeldforderung“, nachdem Angreifer*innen etwa die Datenbestände einer Firma verschlüsselt haben – sind Kryptowährungen nahezu alternativlos.

Verfechter:innen von Bitcoin gehen bei solchen Aussagen auf die Barrikaden. Seit Jahren verweisen sie auf hehre Ziele von größerer Finanzinklusion bis zur Unabhängigkeit von einem volatilen Finanzsystem – hier sind aber weiterhin kaum Fortschritte ersichtlich. Als Zahlungsmittel werden Kryptowährungen kaum genutzt, als Instrument zur finanziellen Inklusion weisen sie erhebliche Probleme auf und selbst Bitcoin-Vorzeigeländer wie El Salvador verzeichnen eine stagnierende Nutzung auf niedrigem Niveau.

Im Kern geht es um einen jahrelangen Streit, ob Bitcoin vorrangig „electronic cash“ und damit Tauschmittel oder Wertaufbewahrungsmittel sein sollte. Gold gilt dabei als das Vorbild der inflationsgeschützten Anlageform per se. Für Vertreter:innen der ersten Gruppe sieht es heute schlecht aus. Die zweite Gruppe kann dagegen nicht unerhebliche Erfolge vorweisen, was sich zuletzt sogar an der Debatte um eine US-Bitcoinreserve zeigt.

„Digitales Gold“ – Vom Gegenentwurf zur Symbiose?

Wenn man den Begriff eng auslegt, scheint Bitcoin heute echte Chancen zu haben, die Rolle als „digitales Gold“ einzunehmen – wie steht es aber um die großen Verheißungen, die mit dem Goldstandard als Idee verbunden sind?

Für jene, die dem Goldstandard nachtrauern, steht er bis heute für eine Zeit der Stabilität und Prosperität. Auch Maurer et al. (2013) verweisen auf die daran angelehnten Versprechungen Bitcoins: „[…] solidity, materiality, stability, anonymity, and, strangely, community” (S. 263).

Was wir jetzt sehen, ist eine zunächst paradoxe Entwicklung. Die Suche nach Stabilität im „digitalen Gold“ entpuppt sich als Quelle von Instabilität und neuen Verwerfungen in Politik und Finanzsystem. Sicherlich ist das ein Stück weit gewollt, Bitcoin sollte von Beginn an Staat und Banken Kontrolle entziehen. Vieles von dem, was wir jetzt sehen, scheint den Interessen jener zuwiderzulaufen, die sich eine „Bitcoin-Revolution“ erhofft haben.

Erstens spielen Kryptowährungen eine wachsende Rolle in der Politik. Seit Jahren nehmen Lobbyaktivitäten zu. Zwar haben die meisten Projekte der Szene technisch enttäuscht, der spekulative Investitionsboom hat aber reichlich Geld in die Kassen der zentralisierten Krypto-Börsen gespült. Mit den wachsenden Einnahmen macht man sich nun daran, sich politisch Gehör zu verschaffen. Viele Bitcoin-Fans begrüßen es, wenn ihr/e „pro-Krypto“ Kandidat:in das Rennen macht oder entsprechende Themen auf der Agenda nach oben rücken.

Auch wenn man sich weiterhin revolutionär gibt, finden sich auf der Liste der Firmen, die in Krypto-Lobbyarbeit investieren, jedoch viele alte Bekannte der Tech- und Finanzbranche: von Meta und Paypal bis Visa und Citigroup. Große Plattformen, deren Überwachungs- und Kontrollpraktiken ursprünglich von Bitcoin und Co. herausgefordert werden sollten, können sich zusehends mit der Welt der Kryptowährungen arrangieren. Trotz der vermeintlichen Angst vor staatlichem Machtmissbrauch konnte man sich in der Szene zuletzt selbst für eine zweite Amtszeit von Donald Trump erwärmen.

Zweitens kann sich mittlerweile selbst die Finanzindustrie, die ursprünglich im Zentrum der Kritik von Bitcoin stand, mit der Kryptowährung anfreunden. 2017 bezeichnete Larry Fink, CEO der Investmentgesellschaft BlackRock Bitcoin noch als „Geldwäsche-Index“; 2024 ist Bitcoin für ihn „digitales Gold“ und ein „legitimes Finanzinstrument“. Finks Sinneswandel steht exemplarisch für eine Branche, die nicht dauerhaft auf die Aussicht auf spekulative Gewinne mit und um Bitcoin verzichten will. Vom ursprünglichen Antagonismus bleibt dabei zusehends nicht viel übrig, stattdessen werden Bitcoins in die eigene Produktpalette aufgenommen, zuletzt mit der Etablierung einer Reihe von Bitcoin-ETFs, wodurch Krypto-Spekulation tiefer ins bestehende Finanzsystem integriert wird.

Das Muster wiederholt sich innerhalb der vergleichsweise jungen Krypto-Szene. Schon früh haben verschiedene Personen oder Gruppen alternative Kryptowährungen aufgesetzt, die Bitcoin nach ihren Vorstellungen ergänzen oder ersetzen sollten. Die Website CoinMarketCap zählt heute fast 10.000 weitere Kryptowährungen. Hier kommen die „diskursiven Praktiken“ um Bitcoin so richtig zur Geltung. Viele Ableger lösen nicht dasselbe Knappheitsversprechen ein, sind stark zentralisiert und bedienen keinen nennenswerten Zweck, dennoch hat sich der Sprech von „Krypto-Assets“ oder „Kryptowerten“ festgesetzt. Das diffuse Gefühl von Wertigkeit und Beständigkeit hat einen Wildwuchs zumeist nutzloser Spekulationsobjekte befeuert. Besonders auffällig waren in den letzten Jahren unsinnige Exzesse um NFTs und dubiosen „Stablecoins“ wie Tether mit Sitz auf den British Virgin Islands.

Einzelne Investor:innen mögen vom Bitcoinkauf finanziell profitieren oder nicht, das ist von dieser Diskussion unberührt. Auf gesellschaftlicher Ebene manifestieren sich aktuell aber vor allem die Risiken dieser Entwicklung, von Krypto-Lobbyismus bis zur unvorsichtigen Integration ins bestehende Finanzsystem; von Spekulationsblasen bis zu fraglichen Stablecoins; die versprochenen Chancen bleibt man uns dabei noch schuldig.

Quellen:

Graeber, David (2014): Schulden: Die ersten 5000 Jahre. München: Goldmann.

Maurer, Bill; Nelms, Taylor C.; Swartz, Lana (2013): „When perhaps the real problem is money itself!”: the practical materiality of Bitcoin. Social Semiotics, 23(2), 261-277.

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