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Autor: Philipp Mahlow und Katharina Mosene eFin-Blog Farbe: gelb

Der Human in the Loop bei der automatisierten Kreditvergabe – Menschliche Expertise für größere Fairness

Der Human in the Loop bei der automatisierten Kreditvergabe – Menschliche Expertise für größere Fairness

Ein Beitrag von Philipp Mahlow und Katharina Mosene

15. April 2025

Im digitalen Zeitalter sind automatisierte Prozesse, bei denen Entscheidungen teilweise oder ganz ohne menschliches Zutun fallen, immer mehr Usus. Sie basieren auf Algorithmen, Künstlicher Intelligenz (KI) oder regelbasierten Systemen und finden etwa im Gesundheitswesen oder in der Finanzwelt Anwendung – dort auch bei der Kreditvergabe. Die erste Fallstudie unseres Forschungsprojektes Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen untersucht genau diesen Bereich: Wie arbeiten bei der Kreditvergabe automatisierte Prozesse und menschliche Akteur:innen im Rahmen der Entscheidungsfindung zusammen? Wer hat die Aufsicht? Wer sichert die Qualität der Entscheidungen?

Bei einer solchen Kreditvergabe geht es darum, Anträge effizient und fair zu  bewerten. Zunächst analysieren Algorithmen Daten wie Einkommen, Kredithistorie, bestehende Schulden und Rückzahlungsverhalten. Diese erste Prüfung übernehmen in der Regel Drittanbieter, z.B. Kreditauskunfteien. Ihre Kredit-Scores fließen in ein bankinternes Ampel-Modell ein, das das Kreditausfallsrisiko berechnet. Liegt dieses innerhalb eines vordefinierten Rahmens, folgt eine sofortige Zusage- oder Ablehnungsempfehlung. In nicht eindeutigen Fällen prüfen Risikoanalyst:innen die Finanzdaten  und treffen ggf. eine abweichende Entscheidung.

Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine kann mithin erhebliche Vorteile bringen. Automatisierte Systeme verarbeiten große Datenmengen schnell und konsistent, während menschliche Entscheidungen für Flexibilität sorgen und die Berücksichtigung individueller Umstände gewährleisten. Automatisierung reduziert gleichwohl emotionale oder subjektive Einflüsse, was zu einer objektiveren Kreditvergabe beitragen kann. Menschen wiederum können Fehlbewertungen korrigieren, indem sie Aspekte einbeziehen, die Algorithmen übersehen, wie plötzliche Einkommensveränderungen durch Elterngeld oder alternative Sicherheiten wie Eigentum. So wird verhindert, dass die Definition zu strikter Regeln im System zu ungerechtfertigten Ablehnungen führt. Damit das Zusammenspiel aber tatsächlich zu fairen und fundierten Entscheidungen führt, müssen die verwendeten Algorithmen kritisch hinterfragt, Verzerrungen identifiziert und menschliche Bewertungen gezielt eingesetzt werden. Nur so bleibt das System wirtschaftlich effizient und gleichzeitig sozial gerecht.

Aus der Vogelperspektive: Ein Mann steht in der Mitte eines Spielfeldkreises, Kopf über ein Device geneigt und wirft einen langen Schatten über den Spielfeldkreis hinaus

Die Kernfrage unseres, am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) angesiedelten Projektes Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen  ist daher: Wie können Mensch und Maschine sinnvoll zusammenarbeiten, sodass die Vorteile der Automatisierung genutzt werden, ohne dass dabei wichtige menschliche Kompetenzen und Werte verloren gehen? Gefördert von der Stiftung Mercator, beleuchten wir diese Thematik  anhand verschiedener Fallstudien. In diesem Blogbeitrag greifen wir zentrale Erkenntnisse aus einem Praxisbericht zur Fallstudie Kreditvergabe auf, in dem wir analysieren, wie Kreditentscheidungen – von der ersten Beratung bis zur Risikobewertung – in der Praxis gestaltet werden und welche Bedeutung menschliche Expertise und Automatisierung in diesem Umfeld hat.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die aktuell auf breiter Basis eingesetzten Verfahren überwiegend auf regelbasierten Systemen mit starren Wenn-Dann-Regeln beruhen. Moderne, also lernfähige KI-Lösungen kommen derzeit bei der Kreditwürdigkeitsprüfung meist hingegen noch keine zum Einsatz. Stattdessen nutzen Banken deterministische Systeme, die von menschlicher Erfahrung und Expertise ergänzt werden. Gerade in Sonderfällen, in denen automatisierte Verfahren an ihre Grenzen stoßen, bleibt der menschliche Beitrag daher unverzichtbar.

Die Humans in the Loop: Front-Desk-Mitarbeitende und Risiko-Analyst:innen

Die Vorstellung eines einzelnen „Human in the Loop“ – also einer einzelnen Person, die ein automatisiertes System überwacht und kontrolliert – entspricht in der Kreditvergabe nicht der Realität. Innerhalb der Bank gibt es immer mehrere Personen, die an unterschiedlichen Stellen in den Entscheidungsprozess eingebunden sind. Oft werden Ergebnisse automatisierter Systeme von ihnen nicht nur passiv kontrolliert, sondern sie greifen aktiv und gestaltend in den Entscheidungsprozess ein. Ein zentraler Befund des Projektes ist, dass die menschlichen Akteur*innen in der Kreditvergabe sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen, Dabei lassen sich aber zwei besonders hervorheben:

1. Front-Desk-Mitarbeitende als erste Schnittstelle

Die erste Anlaufstelle für Kund:innen sind die Front-Desk-Mitarbeitenden, die Kreditanträge entgegennehmen und Kund:innen durch den Antragsprozess führen. Ihre Aufgaben gehen weit über die reine Datenaufnahme hinaus. Sie beraten und unterstützen Antragsteller:innen, helfen dabei, Eingabefehler zu vermeiden, und leiten im Zweifelsfall Anträge an Risiko-Analyst:innen weiter. In der Praxis erfolgt die Kreditwürdigkeitsprüfung häufig über ein Ampelsystem: Ein grünes Signal führt zu einer positiven Kreditentscheidung, ein rotes zu einer Ablehnung. Bei einem gelben Signal, also einer unklaren Empfehlung, wird der Fall an die Risiko-Analyst:innen weitergegeben. Front-Desk-Mitarbeitende verfügen dabei zwar über Einblicke in den Credit-Score und andere relevante Daten, haben aber in Fällen mit eindeutiger Datengrundlage keinen eigenen Entscheidungsspielraum. Ihre Rolle ist also vor allem beratend und koordinierend – und nur in Ausnahmefällen entscheidend, wenn es um individuelle Sonderlösungen geht.

Ein Beispiel aus unseren Interviews verdeutlicht diesen Aspekt:

„Das hat bei mir auch schon funktioniert: Eltern in der Elternzeit. Rückblickend hätte ich nie gedacht, dass wir eine Immobilienfinanzierung überhaupt umsetzen könnten. Doch dann traf ich auf eine Sachbearbeiterin, die meinte: ‚Das ist nachvollziehbar. Erledigen Sie das einfach manuell.‘ Solange ein menschlicher Faktor mitspielt, sind auch Entscheidungen abseits des Standards möglich.“
 

– René Stephan, Geschäftskundenbetreuer

2. Risiko-Analyst:innen als Expert:innen in der Bonitätsprüfung

Insbesondere wenn das automatisierte System ein gelbes Signal ausgibt, also eine uneindeutige Empfehlung, übernehmen Risiko-Analyst:innen die Prüfung von Kreditanträgen. Sie überprüfen dann diesen Einzelfall und treffen die finale Entscheidung über die Kreditvergabe. Diese Expert:innen besitzen ein tiefes Verständnis für Finanzdaten und haben oft langjährige Erfahrung in der Bewertung von Kreditanträgen. Damit sind sie in der Lage, Abweichungen von standardisierten Bewertungen zu erkennen und gegebenenfalls manuell zu korrigieren.

„Natürlich nutzen wir ein Ratingsystem, um die Bonität zu bewerten. Das ist regulatorisch vorgegeben. Am Ende des Tages trifft aber der Mensch die Entscheidung.“
 

– Expert:in für Credit Risk Management

Durch ihre Expertise tragen Risiko-Analyst:innen so maßgeblich zur Vermeidung von Fehlentscheidungen bei und gewährleisten, dass individuelle Lebensumstände, die von standardisierten Systemen nicht angemessen gewertet werden können, in die finale Entscheidung einfließen.

Einflussfaktoren auf die menschliche Entscheidungsfindung

Sowohl Front-Desk-Mitarbeitende als auch Risiko-Analyst:innen treffen ihre Entscheidungen aber nicht im luftleeren Raum. Ihre Einschätzungen werden von einer Vielzahl an Faktoren geprägt – von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen über interne Vorgaben der Kreditinstitute bis hin zu individuellen Erfahrungen und Einschätzungen. Wir haben diese Faktoren, die die Entscheidungsqualität beeinflussen, insbesondere aus diversen Stakeholderinterviews geschlussfolgert. Sie lassen sich in drei Dimensionen einteilen:

Grafik "Einflussfaktoren im Kredivergabesystem"

1. Externe Einflussfaktoren

Zu den externen Faktoren zählen diverse gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Der Fachkräftemangel, die ökonomischen Ziele der Banken und gesetzliche Vorgaben wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) beeinflussen den Entscheidungsprozess und mithin Umfang, Transparenz, Fairness und Qualität der Entscheidung und des Prozesses.Auch die Datenqualität, also die Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit der Datensätze, mit denen automatisierte Systeme trainiert und die von externen Auskunfteien wie der Schufa bereitgestellt werden, spielen eine entscheidende Rolle.

2. Einflussfaktoren auf der Ebene der Akteur:innen

Mehrere Faktoren beeinflussen auch auf Ebene der handelnden Personen die Qualität der Kreditentscheidungen: ihr Rollen- und Berufsverständnis, der persönliche Kontakt und der verfügbare Entscheidungsspielraum. Vorurteile gegenüber spezifischen Lebensumständen oder subjektive Einschätzungen einzelner Mitarbeitender können die objektive Bewertung beeinträchtigen. Zugleich betonen Expert:innen, dass bei Kreditvergaben die menschliche Fähigkeit, Sonderfälle und individuelle Lebenssituationen zu erfassen, einen großen Mehrwert darstellt.

3. Technische Einflussfaktoren

Auch die verfügbare Technik prägt, wie Menschen Entscheidungen fällen. Maßgeblich sind dabei die Datenbasis, die Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Systems und das Interface-Design, also die Gestaltung von Benutzeroberflächen und die Frage, ob sie eine intuitive, effiziente und ästhetisch ansprechende Interaktion zwischen Mensch und Maschine ermöglichen. Ein schlecht gestaltetes Interface kann etwa dazu führen, dass Nutzer:innen wichtige Informationen übersehen oder falsch einpflegen. Ebenso essenziell ist die Transparenz der Algorithmen – damit Mitarbeitende verstehen, wie und warum das System zu einer bestimmten Empfehlung kommt und diese gegebenenfalls hinterfragen können. Hinzu kommt, welche Fehlerkultur ein Unternehmen im Umgang mit automatisierten Prozessen pflegt.

Herausforderungen im Zusammenspiel von Mensch und Maschine

Wie lässt sich nun aber sicherstellen, dass automatisierte Prozesse tatsächlich fair und nachvollziehbar bleiben? Wo entstehen Risiken, und welche Maßnahmen sind notwendig, um sie zu minimieren? Unsere Analyse im Praxisbericht offenbart mehrere Herausforderungen, die es zu adressieren gilt:

Kommunikationsprobleme & fehlendes Gesamtprozesswissen

Eine der zentralen Herausforderungen liegt darin, dass weder einzelne Akteure noch Institutionen den gesamten automatisierten Entscheidungsprozess vollständig überblicken. Das unzureichende Verständnis der Systemarchitektur – also, wie Entscheidungen im Einzelfall entstehen, welche Algorithmen zum Einsatz kommen und wie die Daten fließen – führt dazu, dass wichtige Zusammenhänge schwer zu erkennen sind. Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn menschliche Eingriffe notwendig wären, um Sonderfälle zu korrigieren.

Transparenzdefizite

Ein weiterer Kritikpunkt ist die mangelnde Transparenz – sowohl bei den Kreditinstituten als auch bei Wirtschaftsauskunfteien wie der Schufa oder der Creditreform. Verbraucher:innen erfahren oft kaum, warum eine Kreditentscheidung gefällt wurde. Das erschwert es ihnen, ihre eigene Bonität realistisch einzuschätzen und notwendige Anpassungen vorzunehmen. Gleichzeitig haben auch die Mitarbeitenden häufig nicht genügend Informationen zur Funktionsweise des automatisierten Systems, was Unsicherheiten und potenzielle Fehlbewertungen begünstigt.

Diskriminierung und Biases

Auch das Thema Diskriminierung spielt im Kontext der Kreditvergabe eine wichtige Rolle. Die aktuellen Gesetze, etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, schützen Verbraucher:innen nicht ausreichend vor ungerechter Benachteiligung. Es fehlen zudem wirksame Mechanismen, um Diskriminierungsvorwürfe effektiv vor Gericht zu prüfen. Dabei klafft eine Lücke zwischen der theoretischen Neutralität von Algorithmen und der Praxis, in der sie, ihr Bau und ihre Funktionsweise von menschlichen Vorurteilen und Erfahrungswerten beeinflusst sind.

Unsicherheit im Umgang mit Automatisierungstechnologien

Viele der involvierten Mitarbeitenden verfügen nicht über ein ausreichendes technisches Verständnis der eingesetzten Systeme. In unseren Interviews zeigte sich, dass einigen Mitarbeitenden unklar ist, ob im Rahmen der Kreditvergabe regelbasierte Systeme oder KI-basierte Anwendungen verwendet werden – und welche Begrenzungen diese Systeme jeweils haben. Dieses fehlende technische Know-how birgt die Gefahr, dass Empfehlungen des Systems unkritisch übernommen oder – im umgekehrten Fall – zu stark hinterfragt werden.

Handlungsanregungen für eine verbesserte Kreditvergabe

Auf Basis dieser Erkenntnisse formulieren wir im Praxisbericht konkrete Anregungen, wie die Rolle des „Human in the Loop“ gestärkt und der gesamte Entscheidungsprozess verbessert werden kann:

1. Erweiterung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)

Um Diskriminierung im Kreditvergabesektor effektiver zu bekämpfen, sollte der gesetzliche Rahmen erweitert werden. Würde das AGG auf Verbraucherkredite ausgeweitet, könnten betroffene Personen leichter gerichtlich gegen ungerechtfertigte Ablehnungen vorgehen, etwa durch eine Beweislastumkehr und verstärkte Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände. Dadurch würden Banken stärker motiviert, diskriminierungssensible Prozesse zu implementieren.

2. Erhöhung der Transparenz

Mehr Transparenz seitens der Kreditinstitute und der Auskunfteien wäre hilfreich. Verbraucher:innen sollten in leicht verständlicher Sprache über die entscheidungsrelevanten Faktoren informiert werden. Ab 2026 dürfte das aufgrund der Überarbeitung der Europäischen Verbraucherkrediterichtlinie auch rechtlich verpflichtend sein. Zudem könnten Banken die interne Kommunikation verbessern, damit alle Beteiligten – von der Beratung am Schalter bis zur Risikoanalyse – die Entscheidungslogiken aber auch Grenzen des Systems klar verstehen.

3. Verbesserung der Finanzbildung

Neben institutionellen Maßnahmen spielt auch die individuelle Aufklärung der Verbraucher:innen eine wichtige Rolle. Zielgerichtete Bildungsangebote können helfen, dass Antragsteller:innen ihre Kreditwürdigkeit realistischer einschätzen und ihre Finanzdaten korrekt in den Antragsprozess einbringen. Interaktive Erklärformate oder gezielte Schulungen bieten sich an, um den Umgang mit Kreditentscheidungen verständlich und alltagstauglich zu vermitteln

4. Fort- und Weiterbildung für Mitarbeitende

Um die Effektivität der menschlichen Beteiligung zu steigern, sollten insbesondere Front-Desk-Mitarbeitende und Risiko-Analyst:innen regelmäßig in technischen und prozessualen Fragen geschult werden. Dabei gilt es, nicht nur das technische Verständnis der eingesetzten Systeme zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, deren Limitationen kritisch zu hinterfragen.

5. Benutzerfreundliche Gestaltung der Antragsprozesse

Die zunehmende Automatisierung auch der Antragsstellung darf nicht dazu führen, dass entsprechende Kompetenzen der Verbraucher:innen zusehends für Erfolg oder Misserfolg ihres Antrags notwendig und diese zu ihrer Verantwortung werden. Intuitive, barrierearme Antrags-Interfaces und die Verfügbarkeit persönlicher Ansprechpartner:innen sind wichtige Bausteine, um sicherzustellen, dass auch Menschen ohne tiefgehende technische Kenntnisse einen erfolgreichen Kreditantrag stellen können. Beides würde im Zusammenspiel sicherstellen, dass individuelle Lebensumstände adäquat erfasst werden und Sonderfälle nicht durch starre, automatisierte Prozesse  durchs Raster fallen

Ausblick: Menschliche Expertise als Garantie für faire Entscheidungen

Die Automatisierung in der Kreditvergabe kann Prozesse beschleunigen und Fehlerquellen reduzieren. Doch gerade in einem sensiblen Bereich, der direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat, bleibt menschliche Expertise unverzichtbar. Unsere Fallstudie zeigt deutlich: nur die Kombination aus menschlichem Urteilsvermögen und automatisierter Datenverarbeitung schafft echten Mehrwert – vorausgesetzt, man versteht die jeweiligen Einflussfaktoren und steuert diese gezielt

Zwar sind regelbasierte automatisierte Systeme mittlerweile Standard, aber der Mensch bleibt ein unverzichtbarer Teil des Entscheidungsprozesses. Fachwissen und Erfahrung von Mitarbeitenden ergänzen, was Algorithmen nicht leisten können. Gerade in Sonderfällen machen diese schwer quantifizierbaren Informationen und der menschliche Faktor den Unterschied zwischen mechanischer und verantwortungsvoller Entscheidung.

Gleichzeitig offenbart unsere Untersuchung aber auch deutliche Herausforderungen: Es mangelt häufig an einem umfassenden Verständnis der Prozesse und an Transparenz – sowohl gegenüber den Kund:innen als auch innerhalb der Banken. Fehlende Kommunikationswege und unzureichende technische Kenntnisse können dazu führen, dass automatisierte Empfehlungen falsch interpretiert oder umgesetzt werden. Zudem bergen Diskriminierung und Biases Risiken, die bei zunehmender Automatisierung dingend adressiert werden müssen.

Automatisierung darf kein Selbstzweck sein, sondern muss als Werkzeug verstanden werden, das – richtig eingesetzt – die menschliche Urteilskraft ergänzt und stärkt. Nur so können Banken und Kreditinstitute auch in Zukunft eine verantwortungsvolle und diskriminierungsfreie Kreditvergabe gewährleisten.

Zum kompletten Bericht: Züger, T., Mahlow, P., Mosene, K., & Pothmann, D. (2025),  Praxisbericht: Human in the Loop im Feld der Kreditvergabe [Praxisbericht für den Sektor Finanzdienstleistung], Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG).

Weitergehende Informationen zum HIIG-Forschungsprojekt Human in the Loop? Autonomie und Automation in sozio-technischen Systemen

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Autor: Lars Hupel Digitaler Euro eFin-Blog Farbe: gelb

Der digitale Euro: Elektronisch, aber offline-fähig

Der digitale Euro: Elektronisch, aber offline-fähig

Ein Beitrag von Lars Hupel

3. März 2025

Die Europäische Zentralbank veröffentlichte im Dezember letzten Jahres ihren zweiten Fortschrittsbericht der seit November 2023 laufenden „Vorbereitungsphase“, die eine mögliche Herausgabe des digitalen Euro projektieren soll.1EZB: “Second progress report on the digital euro preparation phase”, Dezember 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/progress/html/ecb.deprp202412.en.html. Bis Ende 2025 arbeitet die EZB dazu insbesondere am sogenannten Rule Book, also dem Regelwerk, und sammelt im Rahmen mehrerer Ausschreibungen Angebote für technische Lösungen. Darunter ist auch die Fähigkeit zur Offline-Bezahlung. Der digitale Euro soll dadurch immer dann einsetzbar sein, wenn bisher Bargeld die einzige Option war: etwa bei schlechtem Empfang oder für das Taschengeld von Kindern. Durch Wallets, die in der Lage sind, Geldwerte offline zu speichern und zu verwalten, soll im Handel wie auch untereinander bezahlt werden können.

Der Kontext

Der digitale Euro wird als Retail CBDC (digitale Zentralbankwährung für den Privatgebrauch) in erster Linie Konsument:innen und Händler:innen zur Verfügung stehen, um alltägliche Zahlungen abzuwickeln. Dadurch grenzt er sich von den gängigen unbaren Zahlungsmitteln ab, die allesamt privatwirtschaftlich organisiert und betrieben sind. Gleichzeitig unterscheidet er sich vom geschäftlichen Zahlungsverkehr zwischen Unternehmen und Finanzinstitutionen, für den eine sogenannte Wholesale CBDC (eine digitale Zentralbankwährung für Geschäftsverkehr) im Gespräch ist.

Als Retail CBDC ähnelt der digitale Euro am ehesten dem Bargeld. Er etabliert das zweite Zahlungsmittel, welches eine direkte „Beziehung“ zwischen der breiten Öffentlichkeit und der Zentralbank herstellt. Genau wie beim Bargeld soll man auch mit dem digitalen Euro zahlen können, ohne online zu sein. Damit liegt die EZB im Trend: Gemäß der jüngsten Umfrage der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) führt die Mehrheit der befragten Zentralbanken Offlinefähigkeit als wichtigstes Feature von CBDC-Wallets an.2Alberto Di Iorio, Anneke Kosse und Ilaria Mattei: “Embracing diversity, advancing together – results of the 2023 BIS survey on central bank digital currencies and crypto”, Juni 2024, https://www.bis.org/publ/bppdf/bispap147.pdf; hier: Seite 10, Kategorie D “Technology”

Die Offline-Wallets

Konkret interessiert sich die EZB beim digitalen Euro für Zahlungsvorgänge der Kategorien Person-to-Person (P2P) und Person-to-Business (P2B, d.h. im Online-Shop und an der Ladenkasse).3EZB: “State of play on offline digital euro”, April 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/timeline/profuse/shared/pdf/ecb.degov240411_item3updateofflinedigitaleuro.en.pdf.

Illustration verschiedener Zahlhardware und Formen des Zahlens: von Person zu Person, im Onlineshop oder im Einzelhandel

Abbildung 1. Eigene Illustration

Mit Ausnahme vom E-Commerce soll der digitale Euro offline funktionieren, das heißt: ohne Internet-, Telefon- oder anderweitige Verbindung.

Eine Endnutzerin lädt sich mit einer Smartphone-Wallet von ihrer Bank Geld „herunter“. Dafür ist eine Online-Verbindung nötig. Ab diesem Moment soll sie aber offline – das heißt weder Mobilfunkempfang noch WLAN – beispielsweise ihrer Tochter Geld auf deren Wallet übertragen können, egal, ob es sich dabei um ein Wearable, eine Karte  oder ein zweites Smartphone handelt. Und auch die Tochter soll nun mit ihrer Wallet – weiterhin offline – bei einem Händler bezahlen können.

Eine solche konsekutive Weitergabe durch mehrere Hände ohne Intermediäre erscheint beim Bargeld ganz selbstverständlich, ist aber bei elektronischen Zahlungsverfahren bisher nicht möglich. Selbst neuere Zahlungsapps wie Wero, die auch auf den Retail-Markt abzielen, leisten dies nicht.

Diese neue technische Möglichkeit bezeichnet die BIZ in ihrer Nomenklatur als „intermittently offline“.4BIS Innovation Hub: “Project Polaris. Part 1: A handbook for offline payments with CBDC”, Mai 2023, https://www.bis.org/publ/othp64.pdf. Diese ist definiert als:

  1. beide Zahlungsparteien können über einen längeren Zeitraum offline sein;
  2. die Zahlung wird unmittelbar und final abgeschlossen; und
  3. die Zahlungsempfängerin kann das erhaltene Geld offline an Dritte weiterausgeben.

Initial könnten Wallets per Bank-App oder Geldautomaten befüllt (oder entleert) werden. Dazu müssen Banken den Austausch zwischen Bargeld, Giralgeld und digitalem Euro anbieten. Die Wahl der Wallet (Smartphone, Karte o.Ä.) ist dabei der Nutzerin freigestellt; alle funktionieren nach gleichem Prinzip. Außerdem können Banken zusätzliche Funktionen anbieten, die über den basalen Zahlungsverkehr hinausgehen, beispielsweise dass durch automatisches Aufladen stets ein bestimmter Betrag in der Offline-Wallet vorliegt.

Natürlich müssen die Wallets ein hohes Schutzniveau anbieten, damit Fälschungen ausgeschlossen sind. All das ist Bestandteil der Ausschreibung der EZB.

Die Technik

Um all diese Anforderungen zu bewältigen, ist spezielle Hardware nötig. Eine reine Software-Lösung würde sich zu einfach manipulieren lassen: Beispielsweise könnte ein Angreifer eine Wallet mit Geld aufladen, es in einem sicheren Speicher ablegen und eine Offlinezahlung durchführen. Nach dieser Zahlung könnte er allerdings den Speicher manipulieren und diesen auf den vorherigen Wert zurücksetzen. Nun könnte eine weitere Zahlung mit „demselben“ Geld nochmal durchgeführt werden. Dieses Szenario, in der Fachliteratur als double spending problem, also doppeltes Ausgeben, bekannt, gilt es zu verhindern, denn es käme – in der analogen Welt – dem Kopieren von Banknoten gleich.

Es gibt allerdings technische Lösungen, die eine digitale Kopie von Geld oder doppeltes Ausgeben verhindern. Sogenannte Secure Elements sind dedizierte Hardware-Chips, die in sich die Funktion von Prozessor und Speicher vereinen und nach außen definierte Kommunikationskanäle (meist Near Field Communication, NFC) anbieten. Heutzutage kommen Secure Elements schon in einer Vielzahl von Geräten zum Einsatz: klassische elektronische Zahlkarten, Smartphones, Smartwatches, Wearables, Reisepässe, Personalausweise und viele mehr enthalten Secure Elements. Auch SIM- und Gesundheitskarten (zu erkennen an den Kontaktflächen) basieren auf Secure Elements.

verschiedene Hardware mit Secure Elements: Smartphone, Uhr oder Karte

Abbildung 2. Geräte mit eingebauten Secure Elements

Offensichtlich haben die Herausgeber dieser Geräte ein Interesse daran, dass sich Prozessor und Speicher nicht manipulieren lassen. Schließlich gilt es heute schon zu verhindern, dass Personalausweise oder Kreditkarten in analoger oder auf dem Smartphone gespeicherter Form geklont und Identitäten gestohlen werden könnten.

Wie der Name bereits suggeriert sind Secure Elements manipulationssicher, d.h. sie verfügen über technische Abwehrmaßnahmen. Sie garantieren, dass gespeicherte Daten nicht unberechtigt geändert und Algorithmen korrekt ausgeführt werden. Das obige Szenario würde also mit ihnen nicht funktionieren. Technisch gesehen gehen die Maßnahmen über den landläufig bekannten Kopierschutz etwa von DVDs weit hinaus.

Eine Zahlung würde stets zwischen den Secure Elements zweier Wallets ablaufen: im Regelfall kontaktlos via NFC. Wallets können daher nur auf Geräten sicher implementiert werden, die ein Secure Element enthalten. Genau das stellt sich die EZB als integralen Bestandteil des digitalen Euro vor. Damit wäre auch sichergestellt, dass eine Angreiferin sich nicht blanke Karten besorgt und diese mit einer eigenen Wallet-Implementierung bestückt. Wallets müssen sich, bevor digitaler Euro ausgetauscht wird, gegenseitig authentifizieren. Das bedeutet, dass beispielsweise ein Händler nicht „einfach so“ von einer beliebigen, möglicherweise manipulierten Wallet Geld offline akzeptieren würde. Dies wird durch elektronische Zertifikate, ein gängiges Verfahren, sichergestellt. Wichtig ist, dass diese Authentifizierung lokal funktioniert und daher kein Austausch von Identitäten mit der Zentralbank stattfindet.

Kritiker:innen sehen in der Forderung nach Secure Elements allerdings eine Benachteiligung reiner Software-Lösungen. Doch diese Kritik ist in zweierlei Hinsicht fehlgeleitet.

  1. Reine Software-Lösungen bieten kein ausreichend hohes Schutzniveau vor dem digitalen „Gelddrucken“ und gerade ein nationales Zahlungssystem ist für fremdstaatliche Angriffe prädestiniert.
  2. Für die Nutzung der Secure Elements ist es zwar notwendig, dass Smartphone-Hersteller dafür ihre Genehmigung erteilen. Man kann nicht einfach „irgendwelche“ Apps auf dem Sicherheitschip installieren, denn das würde die Sicherheitsgarantien unterlaufen. Aber die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Gesetzgebung sieht vor, dass Hersteller – auch außereuropäische – ihre Geräte für die Sicherheitsfunktionen des digitalen Euro öffnen müssen. Die EZB steht mit den Herstellern im Austausch.5Siehe EZB: “Second progress report on the digital euro preparation phase”, Dezember 2024, https://www.ecb.europa.eu/euro/digital_euro/progress/html/ecb.deprp202412.en.html. Beispielsweise hat Apple in der Vergangenheit, auch im größeren Kontext des Digital Market Acts, ihre Geräte für alternative Zahlverfahren geöffnet.6Finextra: “Norway’s Vipps launches world’s first Apple Pay rival for iPhone”, 10.Dezember 2024, https://www.finextra.com/newsarticle/45188/norways-vipps-launches-worlds-first-apple-pay-rival-for-iphone.

Davon unbenommen können Wallets für den digitalen Euro auch auf den Zahlungskarten europäischer Banken angeboten werden, was die letzten Vorbehalte hinsichtlich europäischer Infrastruktur ausräumen sollte.

Die Bedenken

Von technischer Seite gibt es aber noch weitere Bedenken. So wird vorgebracht, dass die oben geschilderte Offlinefähigkeit („intermittently offline“) mathematisch nicht möglich sei. Tatsächlich gibt es bei verteilten Systemen das sogenannte CAP-Theorem. Dieses besagt, dass ein Netzwerk nicht gleichzeitig konsistent (consistent), verfügbar (available) und resilient (partition tolerant) gegen Verbindungsabbrüche sein kann (lediglich zwei der drei Eigenschaften könnten erfüllt werden). Angewendet auf CBDC folgern nun manche, dass Offlinefähigkeit prinzipiell nicht funktionieren könne. Diese Schlussfolgerung fußt aber auf einer falschen Interpretation des Theorems. Wie die nachfolgende Grafik illustriert, muss man sich in der Tat für eine der drei Seiten des Dreiecks entscheiden. Banknoten sind offlinefähig, aber bei Verlust nicht wiederherstellbar. Schecks sind ebenso offlinefähig, aber erlauben es, mehr Geld auszugeben als man auf dem Konto hat. Debitkarten wiederum sind wiederherstellbar, aber nicht offlinefähig.

CAP-Theorem als Dreieck mit offlinefähig als einem, wiederherstellbar als zweitem und "kein doppeltes Ausgeben" als drittem Eck, mit Scheck zwischen ersten beiden, also sowohl offlinefähig als auch wiederherstellbar, Debitkarte sowohl wiederherstellbar als auch ohne double spending, Banknote sowohl offlinefähig als auch keine Möglichkeit doppelten Ausgebens, aber jeweils ohne die dritte EIgenschaft.

Abbildung 3. Das Dreieck der gewünschten Eigenschaften von Zahlungsmethoden

Der digitale Euro würde sich als ihre digitale Entsprechung wie die Banknoten positionieren: Der Vergleich von Secure Elements mit den proprietären Farben und Drucktechniken bei Banknoten als Sicherheitsmerkmalen liegt daher nahe. Da Banknoten (wie auch beispielsweise Pässe) staatliche Hoheitszeichen sind, die die Autorität und Legitimität eines Staates repräsentieren, ist die Fähigkeit, sie im analogen wie digitalen Raum schützen zu können, essenziell.

Die fehlende Wiederherstellbarkeit des digitalen Euro ist dabei ein Zeugnis von hohen Datenschutzstandards. Denn wie beim Bargeld haben weder die EZB noch Banken einen Einblick, welcher digitale Euro sich gerade in welcher Wallet befindet.

Zentralbanken sind in einer guten Position, sichere und datenschutzfreundliche, öffentliche Infrastrukturen für den Zahlungsverkehr aufzubauen. Regulierung und gemeinsame Standards sorgen dafür, dass Geräte verschiedener Hersteller und Apps verschiedener Banken nahtlos zusammen funktionieren können.

Das Netz und der doppelte Boden

Trotzdem sind Wallets nicht für immer offline, aus zweierlei Gründen.

Erstens ist es zur Erhöhung der Sicherheit wichtig, dass die Wallets periodisch einen sogenannten Integritätscheck durchführen, um das auf der Wallet vorhandene Geld auf Echtheit zu prüfen. Außerdem würde eine als gestohlen gemeldete Wallet deaktiviert. Im Regelfall geschieht dies nahtlos, beispielsweise wenn ich, nachdem das Geld ausgegeben ist, neues Geld herunterlade. Manipulationen würden spätestens hier auffallen, wodurch der Wirkradius von potenziellen Angriffen drastisch eingeschränkt wird.

Zweitens gibt es ein Interesse daran, dass mit dem digitalen Euro kein Geld gewaschen werden kann. Im Gegensatz zum Geldkoffer, der mit zunehmendem Inhalt unhandlich wird, ist der Betrag beim Digitalgeld lediglich eine Zahl: in Kombination mit anonymen Offlinezahlungen ein Rezept für Desaster. Die EZB sieht daher strenge Limits vor. So ist ein generelles Haltelimit von 3000 € vorgesehen. Transaktionslimits könnten hinzukommen. 

Das Fazit

In der Gesamtschau ergibt sich ein differenziertes Bild. Die Sicherheitsarchitektur von offlinefähigen Digitalwährungen verfügt über mehrere Ebenen: angefangen von der Hardware über kryptografisch sichere Kommunikationsprotokolle bis hin zum Integritätscheck durch die Zentralbank. .

Der digitale Euro gleicht als Zentralbankgeld dem Bargeld, nicht einem klassischen Konto. Geeignete Interfaces sorgen für die Integration mit sicherer Hardware und gleichzeitigen Bedienkomfort. Hierzu können Bank-Apps dienen, die zusätzliche Leistungen anbieten könnten.

Die immer wieder vorgebrachten technischen Bedenken können durch praktische Erfahrungen sowohl in existierenden CBDC-Projekten als auch in der freien Wirtschaft (breite Industrie) ausgeräumt werden. Secure Elements sind etablierte Vertrauensanker, die längst für kritische hoheitliche Aufgaben im Einsatz sind und daher auch für den digitalen Euro relevant.

Zu weiteren Beiträgen im eFin-Blog-Dossier Digitaler Euro

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Autor: Eneia Dragomir eFin-Blog Farbe: gelb

Initiative für ETF-Bildung – Kommentare zur „Initiative für Finanzbildung“ des BMF und BMBF

Initiative für ETF-Bildung – Kommentare zur „Initiative für Finanzbildung“ des BMF und BMBF

Ein Beitrag von Eneia Dragomir

31. Januar 2025

Die Ampelkoalition ist Geschichte und zu den Projekten, die durch das rot-grün-gelbe Dreierbündnis gestartet wurden, gehört die „Initiative Finanzielle Bildung“. Genauer gesagt, war es ein „gelbes“ Projekt. Finanzminister Christian Lindner und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, beide FDP, läuteten am 23. März 2023 auf einem Berliner Podium den „Aufbruch Finanzielle Bildung“ ein.1 Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Immer wieder kamen Sie auf die drei Eckpunkte ihrer Initiative zu sprechen. Demnach sollte die finanzielle Bildung in Deutschland 1. durch die Erarbeitung einer nationalen Finanzbildungsstrategie gestärkt werden. Das sollte in Zusammenarbeit mit der OECD und unter Einbeziehung aller relevanten Stakeholder geschehen. Es sollte 2. eine „zentrale Finanzbildungsplattform“ geschaffen werden, um die vorhandenen sowie hinzuzunehmende Finanzbildungsangebote zu bündeln, für die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer:innen in „adressatengerechten Formaten“ bereitzustellen sowie die Vernetzung im Bereich der finanziellen Bildung zu fördern. 3. sollte die Forschung zu finanzieller Bildung gestärkt werden, um die Datengrundlage zu verbessern sowie um zukünftige bildungspolitische Maßnahmen „evidenzbasiert“ zu entwickeln.2Gemeinsame Pressemitteilung von BMF und BMBF: BMF und BMBF stellen Initiative Finanzielle Bildung vor , 23. März 2023. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025)

Ein erster kritischer Zwischenruf zur Initiative kam gewissermaßen postwendend vom Präventionsnetzwerk Finanzkompetenz (PNFK), einem Zusammenschluss zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Netzwerk äußerte in seiner Stellungnahme zum Aufbruch die Befürchtung, dass gewachsene Strukturen in Gefahr sein könnten. Insbesondere seien die Belange „vulnerabler Gruppen“, also junger Menschen aus einkommensschwachen Familien, Geflüchteter und Senior:innen mit geringer Rente, unterrepräsentiert. Eine digitale Plattform, das einzige konkrete Projekt der Finanzbildungsinitiative, sei ungeeignet, um insbesondere diese Gruppen zu erreichen. Denn mit einer solchen Plattform werde die Informationsbeschaffung an diese Menschen delegiert und man laufe Gefahr, nur jene zu erreichen, die ohnehin für das Thema sensibilisiert seien.

Aufmerksamkeit für Finfluencer

Auf der Auftaktveranstaltung selbst wurden immer wieder „Finfluencer“ aufgerufen, Brücken zu den jungen Menschen zu bauen, beispielsweise der auf TikTok erfolgreiche Kamiar Bar Bar. Dieser war einer der wenigen Akteure aus dem Feld der Finanzbildung, die mit Lindner und Stark-Watzinger auf dem Podium sprachen. Finfluencer Bar Bar wurde als Vertreter dieser auf Social Media reichweitenstarken Vermittlung finanzieller Kompetenzen eine Viertelstunde nach Beginn der Veranstaltung zusammen mit Verena von Hugo, Vorständin im Bündnis ökonomische Bildung, auf die Bühne gebeten. Eine Dreiviertelstunde später kam auch Lorenzo Wienecke dazu, der mit seiner Initiative Jugendbildung seit 2017 Veranstaltungen an Schulen organisiert. Gegen Ende der Veranstaltung kam aus dem Publikum die Frage, ob die Verbraucherzentralen und ihr Bundesverband in die Initiative eingebunden würden.3Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März, 1:07:55-1:08:11. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Auch andere etablierte Akteure, beispielsweise der Schuldenberatung, der Sozialen Arbeit, der sozioökonomischen Bildung oder der politischen Bildung waren auf dem Podium nicht vertreten.

Schon in der Podiumszusammensetzung deutet sich eine mögliche Umstrukturierung des Feldes der finanziellen Bildung an, vor der das PNFK warnte. Mit den Verbraucherzentralen verwies das Netzwerk darauf, dass eine hohe Reichweite in den sozialen Medien noch kein Nachweis der Qualität sei. Einen etwas kritischeren Blick auf Finfluencer deutete auf dem Podium BaFin-Präsident Mark Branson an. Auf Nachfrage aus dem Publikum meinte er, es gebe auf Social Media Inhalte, die „gar nicht unschuldig“ seien.4Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023, 1:11:45ff. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025) Ausdrücklich kritisierte das PNFK in seiner Stellungnahme „Lindners verkürzten Blick“ auf das Themenfeld der Finanzbildung. Denn gerade in den Statements des Finanzministers ging es auffallend oft um die Chancen und die Leistungsfähigkeit des Kapitalmarkts. Überhaupt war das Kürzel „ETF“ oft zu hören. So schloss das PNFK in seinem Statement, die „Förderung eines kritischen Verständnisses des Finanzwesens scheint bisher kein Bestandteil der Überlegungen und geplanten Strategie zu sein“.

Finanzbildung als politisches Projekt?

Im Oktober 2024 erschien die bisher ausführlichste Kritik der Initiative für finanzielle Bildung.5Thomas Höhne: Finanzbildung als politisches Projekt – Eine kritische Analyse der FDP-Initiative zur finanziellen Bildung, OBS-Arbeitspapier 71, Frankfurt am Main, Oktober 2024. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025) Thomas Höhne, Erziehungswissenschaftler an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, stellt die Grundaussage seiner „kritischen Analyse der FDP-Initiative zur finanziellen Bildung“ im Titel seiner Studie zugespitzt heraus: „Finanzbildung als politisches Projekt“. Die Finanzbildungsinitiative von BMF und BMBF verfolge primär eine „aktivierungspolitische“ und wirtschaftsliberale Zielsetzung: „Die Investitionsbereitschaft der Bevölkerung in Aktien soll erhöht werden“, so der Autor in der Pressemittelung zur Studie. Für dieses parteipolitische Anliegen der FDP werde die Finanzielle Bildung instrumentalisiert.

Höhne hebt hervor, das öffentliche Bemühen, eine geteilte Schirmherrschaft von BMF und BMBF herauszustreichen, verdecke die tatsächliche Dominanz des BMF in Konzeption und Ausgestaltung der Initiative. So wurde auf Anfrage der Unionsfraktion hin deutlich, dass das Finanzministerium die Federführung bei der nationalen Finanzbildungsstrategie und der Finanzbildungsplattform innehat.6Antwort
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU: Aktueller Stand der Initiative Finanzielle Bildung, Drucksache 20/9335, 15. November 2023. (PDF, Zugriff 30. Januar 2025)
Das BMBF sei lediglich für die Förderung der Forschung zu finanzieller Bildung zuständig. Ihm komme damit die „fragwürdige Rolle“ zu, die Initiative als Bildungsprojekt zu legitimieren, so Höhne. Denn eine BMF-Kampagne für die Steigerung der Kapitalmarktteilnahme und für die Aktienrente wäre leicht unter „Ideologieverdacht“ geraten.

Die Finanzbildungsplattform macht Höhne als eigentlichen Kern des Projekts aus. Sie sei das Mittel zur Koordination und Steuerung der nationalen Finanzbildungsstrategie und damit für eine Umstrukturierung des Feldes der finanziellen Bildung. Die Webseite mitgeldundverstand.de ging Anfang Dezember 2023 online. Für seine Studie analysierte Höhne die Plattform sieben Monate später und fällte ein verheerendes Urteil: Nur 8% der angebotenen Inhalte seien als Bildungsmaterialien qualifizierbar. Ansonsten handele es sich um eine reine Informationsplattform. Selbst die wenigen Bildungsinhalte könnten teilweise einer bildungstheoretischen Bewertung nicht standhalten.

Höhne veranschaulicht das an einem Video. Das „FDP-Video“ sei „monoperspektivisch, bewertet die Schuldenbremse als durchgehend politisch, wirtschaftlich und moralisch legitimes politisches Handeln, demgegenüber jede Relativierung oder Infragestellung als nicht legitim“ dargestellt werde. Die Kontroversen zur Schuldenbremse, sei es in der Wissenschaft oder der Politik, werden nicht angedeutet. Würden die drei Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses angelegt – Überwältigungsverbot, Kontroversität, Adressatenorientierung –, wie sie für die Materialen der Bundeszentrale für politische Bildung gelten, sähe es schlecht aus: Die Einseitigkeit der Darstellungen widerspreche dem Kontroversitätsprinzip und die monoperspektivische Ausrichtung könne überwältigend wirken. Das Video gebe einseitig die Position der FDP zur Schuldenbremse wieder, so Höhne. Hier werde Parteienwerbung als Bildungsmaterial getarnt.

Attac Deutschland, die zusammen mit der gewerkschaftseigenen Otto-Brenner-Stiftung die Studie in Auftrag gegeben haben, hat mit der Veröffentlichung von Höhnes Analyse eine alternative Finanzbildungsplattform eingerichtet. Auf geldmitverstand.de sollen Materialien für eine kritische ökonomische Bildung gesammelt werden, die auf der Webseite des BMF fehlen. Dort finden sich Verlinkungen zu Inhalten von Attac, aber auch zu Materialien des Netzwerks Plurale Ökonomik, der Bundeszentrale für politische Bildung, des Netzwerks Steuergerechtigkeit, des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt sowie zu verschiedenen Podcasts.

Das Festival für Finanzbildung

Seit der Analyse von Höhne hat sich auf mitgeldundverstand.de wenig getan. Hinzugekommen sind die Mitschnitte des Programms auf der Hauptbühne des „Festivals für Finanzbildung“, das Mitte Oktober 2024 stattgefunden hat, einem der letzten Lebenszeichen der Finanzbildungsinitiative. Auch hier ist auffällig oft von ETFs die Rede. Es ging teilweise gar skurril zu, als dafür geworben wurde, Finanzbildung neu zu denken, indem man mit einer App „im Duolingo-Stil“ zu investieren lernt. So könne vielleicht „ganz Deutschland süchtig nach finanzieller Bildung“ gemacht werden“7Julia Kruslin & Sophie Thurner: Finanzielle Bildung neu gedacht. Investieren im Duolingo-Stil, Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung, 15. Oktober 2024, 12:29ff (Zugriff 30. Januar 2025) Anders als beim Aufbruch im März 2023 waren auf dem Festival neben neueren Akteuren, Startups und Finfluencern auch etablierte Player wie das PNFK, die Caritas, die Volkshochschulen oder der Bundesverband der Verbraucherzentralen vertreten. Diese brachten ihre Expertise etwa in der Schuldenprävention oder der Qualitätskontrolle von Finanzbildungsinhalten ein.

Birgit Happel, Mitglied des PNFK-Vorstands, stellte die Notwendigkeit finanzieller sozialer Arbeit dar.8Birgit Happel: Finanzielle Soziale Arbeit. Empowerment für ein selbstbestimmtes Leben, Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung, 15. Oktober 2024 (Zugriff 30. Januar 2025). Ihr Vortrag, der letzte des Festivals, wirkt wie eine Veranstaltungskritik und ruft viele Punkte in Erinnerung, die das PNFK in seinem ersten Statement zur Finanzbildungsinitiative angemahnt hatte. So forderte Happel dazu auf, die finanzielle Grundbildung finanzschwacher Gruppen nicht aus den Augen zu verlieren, da sich die ohnehin großen finanziellen Ungleichheiten verfestigen würden, wenn der Fokus darauf liege, Bessergestellten Mut zur Eröffnung des ersten ETF-Sparplans zu machen. Und Frauen würden nicht nur durch fehlende Grundkenntnisse über das Funktionieren des Aktenmarktes ökonomisch belastet, sondern auch weil Care-Arbeit immer noch ganz überwiegend ihnen obliege und Kitaplätze Mangelware seien.

Parallelstrukturen und unzureichende Vernetzung

Zu den Mängeln dieser Initiative gehören nicht nur die kritisierten Verkürzungen, sondern insbesondere die ungenügende Vernetzung sowie Doppelspurigkeiten. Schon in seiner ersten Stellungnahme wies das PNFK auf den „Materialkompass“ des Bundesverbands der Verbraucherzentralen hin, mit dem qualitätsgesicherte Materialien zur finanziellen Bildung auffindbar gemacht werden – also das, was mitgeldundverstand.de eigentlich leisten soll. Nicolas Mantseris, ebenfalls Vorstandsmitglied des PNFK, wies in seinem Vortrag auf dem Festival für Finanzbildung darauf hin, dass man mit der „FinKom“, der Finanzkompetenz-Infobörse, bereits seit Jahren ein kleines Format des Festivals organisiere. Es entsteht der Eindruck, dass Parallelstrukturen aufgebaut wurden, anstatt zu koordinieren und zu vernetzen, wie es im Rahmen der „Initiative Finanzielle Bildung“ immer wieder öffentlich behauptet wurde. Und ob diese Doppelstrukturen leisten können, was sie sollen, ist zweifelhaft.

Das droht auch mit der im Referentenentwurf von Anfang Oktober 2024 zum „Finanzbildungsstärkungsgesetz“ vorgeschlagenen Erweiterung der Stiftung „Geld und Währung“. Diese war 2002 eingerichtet worden, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bedeutung „stabilen Geldes“ zu erhalten und zu fördern. Die Stiftung soll um Finanzbildung erweitert werden und künftig „in enger Abstimmung mit den Stakeholdern“ die Umsetzung von bundesweiten Maßnahmen und Strategien zur Stärkung der finanziellen Bildung koordinieren und sogar eigene Finanzbildungsinhalte entwickeln.9 Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Finanzbildung – Änderung des Gesetzes über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze und die Errichtung der Stiftung „Geld und Währung“ (Finanzbildungsstärkungsgesetz), Bundesfinanzministerium, 7. Oktober 2024. In seiner Stellungnahme zum Entwurf drückte das PNFK wiederum seine Sorge aus, dass bestehende Netzwerke und Akteure bedroht seien, wenn neue Netzwerke an diesen vorbei aufgebaut würden.10
Stellungnahme des Präventionsnetzwerkes Finanzkompetenz e.V.
zum Referentenentwurf des Finanzbildungsstärkungsgesetzes
, 17. Oktober 2024.

Von der ETF- zur Finanzbildung

Abschließend bleibt festzuhalten, dass eine bundesweite Finanzbildungsstrategie seit Jahren gefordert und dementsprechend auch grundsätzlich willkommen geheißen wird. Die Initiative für Finanzbildung der FDP-Ministerien ist bislang jedoch durch inhaltliche Verkürzungen, mangelnde Vernetzung und eine Onlineplattform aufgefallen, die weit hinter den Ankündigungen zurückbleibt. Es bleibt zu hoffen, dass eine kommende Regierung die konstruktive Kritik aufnimmt und auf der vorhandenen Expertise aufbaut, um einzulösen, was der damalige Finanzminister Christian Lindner auf der Auftaktveranstaltung im März 2023 versprochen hat: „Finanzielle Bildung ist nicht Vertrieb für die Finanzindustrie. Finanzielle Bildung ist nicht Indoktrination für irgendeine Form von Wirtschaftspolitik.“11Finanzielle Bildung: Bundesfinanzminister & Bundesbildungsministerin stellen Initiative vor, 23. März 2023, 1:05.24-38. (Youtube, Zugriff 30. Januar 2025)

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Autor: Ruben Kremers eFin-Blog Farbe: gelb

„Retire Rich”: Wer profitiert vom Business-Feminismus der Fintech-Branche?

„Retire Rich”: Wer profitiert vom Business-Feminismus der Fintech-Branche?

Ein Beitrag von Ruben Kremers

9. Dezember 2024

Am 8 März 2024, pünktlich zum Weltfrauentag, brachten der Neobroker Trade Republic und das Modelabel saint sass eine Strumpfhose mit der Aufschrift „RETIRE RICH“ (z. Dt. „REICH IN DIE RENTE“) auf den Markt. Die Aktion sollte Frauen zum Investieren ermutigen und sie auf Angebote der privaten Altersvorsorge aufmerksam machen, die nicht zuletzt von Trade Republic selbst vertrieben wurden. „Frauen investieren seltener und fangen später an zu investieren“, stand auf der Verkaufswebseite, „deshalb ist jede fünfte Frau in Europa über 65 Jahren von Altersarmut bedroht“. Trade Republic biete Frauen daher einen sicheren, einfachen, und kostenlosen Zugang zu Kapitalmärkten, um privates Vermögen aufzubauen und die Altersvorsorge abzusichern.

Werbefoto der Trade-Republik-Kampagne: Blick auf mit Strumpfhose bekleideten Oberschenkel einer Frau und den dort aufgedruckten Schriftzug "Retire RIch"
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Die Vermarktung frauenspezifischer Themen ist bei weitem keine Seltenheit im Fintech-Sektor und unterstreicht den generellen Optimismus der Branche, politische Probleme aller Art unternehmerisch lösen zu können. Gleichzeitig entsteht im praktischen Alltag eher der Eindruck, dass Fintech in Sachen Geschlechtergerechtigkeit hinter anderen Branchen zurückbleibt – trotz der prominenten Rolle zahlreicher, speziell an Frauen gerichteter Werbekampagnen, Netzwerke und Initiativen. Dieser Eindruck wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung bestätigt, wobei die deutsche Fintech-Szene noch relativ unerforscht ist. Vor diesem Hintergrund bietet die Werbekampagne zum Weltfrauentag einen willkommenen Anlass, einen kurzen Blick auf den feministischen Anspruch der Branche zu werfen.

„Das ist doch alles nur Marketing!“

Es kann verlockend sein, feministische Ziele in der Fintech-Branche als reinen Opportunismus abzutun. Allzu oft werben Fintech-Unternehmen in Mission Statements mit feministischen Bekenntnissen, ohne diese im Alltag gezielt zu verfolgen oder unter Druck zu verteidigen. Der Vorwurf des Opportunismus kann in solchen Fällen dabei behilflich sein, leere Versprechen zu thematisieren und verbindlichere Maßnahmen einzufordern.

Jedoch greift der Vorwurf des Opportunismus auch häufig zu kurz. Zum einen sind viele Akteur:innen in der Fintech-Branche davon überzeugt, dass Startups feministische Ziele gerade deshalb verfolgen sollten, weil sie nun mal gut fürs Geschäft seien: Aus guten, opportunistischen Gründen! Opportunistische Motive werden in diesem Kontext nicht unbedingt kritisch gesehen und Unternehmen einen Vorwurf daraus zu machen stößt auf Unverständnis. Andererseits gibt es zahlreiche aufrichtige Versuche im Fintech-Sektor, ihn feministischer zu gestalten. Diese als opportunistisch zu bezeichnen, wäre schlicht fahrlässig und ginge an der Realität vorbei.

Es lohnt sich daher, den feministischen Anspruch des Fintech-Sektors nicht einfach in Abrede zu stellen, sondern die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Herausforderungen zu lenken, die sich aus diesem Anspruch im praktischen Alltag ergeben. Es mag sein, dass der Fintech-Feminismus manchmal naiv-idealistisch und oft sogar zynisch-opportunistisch daherkommt. Richtig ist aber auch, dass er dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten zum Thema zu machen und Lösungsansätze zur Diskussion zu stellen.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne: Links ein Model, sichtbar ab den Knien aufwärts, bekleidet mit Lederjacke und grauer Shorts und der Retire-Rich-Strumpfhose.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Business-Feminismus

In der akademischen Debatte werden die Versuche der Wirtschaft, feministische Ziele mit unternehmerischen Zielen in Einklang zu bringen, als Business-Feminismus beschrieben. Befürworter:innen des Business-Feminismus betonen, dass die strukturelle Benachteiligung von Frauen wirtschaftlichen Schaden anrichte. Frauen in der Führungsetage machten Firmen erfolgreicher und innovativer. Von Frauen gegründete Startups lieferten attraktive Anlagemöglichkeiten. Und Produkte speziell für Frauen bildeten einen lukrativen Markt.

Unter den Kritiker:innen des Business-Feminismus gibt es jene, die anti-feministisch gegen die Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft argumentieren. Und es gibt jene, die feministisch auf die Grenzen des Business-Feminismus hinweisen. Letztere bestreiten in der Regel nicht, dass der Business-Feminismus dazu beitragen kann, bestehende Ungerechtigkeiten für Frauen abzubauen. Sie weisen aber darauf hin, dass er tendenziell privilegierte Frauen begünstigt – und selbst das nur dann, wenn die Privilegien von Männern und das uneingeschränkte Primat wirtschaftlichen Eigeninteresses unangetastet bleiben.

Diese Kritik mag abstrakt klingen. Sie bietet aber einen nützlichen Ausgangspunkt, um die Schwachpunkte des Fintech-Feminismus besser zu verstehen. In diesem Sinne kann der Fintech-Feminismus als eine Spielart des Business-Feminismus betrachtet werden – und die Werbekampagne zum Weltfrauentag als ein anschauliches Beispiel seiner Widersprüche.

Die Widersprüche des Fintech-Feminismus

#1 Finanzielle Selbstbestimmung

Ein bedeutender Schwachpunkt des Fintech-Feminismus wird an dem selbsterklärten Ziel der Kampagne deutlich, die drohende Altersarmut von Frauen durch einen erleichterten Zugang zu Kapitalmärkten und privater Altersvorsorge zu verhindern. Dieser Versuch stellt ein typisches Beispiel zahlreicher Bemühungen in der Fintech-Branche dar, die Gleichberechtigung von Frauen durch die Förderung ihrer finanziellen Unabhängigkeit und ihrer finanziellen Selbstbestimmung zu unterstützen.

Einerseits thematisieren diese Bemühungen ein echtes Problem. Finanzthemen und Investitionen werden noch immer zu oft zur Männersache erklärt. Frauen haben daher oft ein geringeres Finanzwissen als Männer, legen ihr Erspartes deutlich seltener in Aktien oder Immobilien an, und erhalten dementsprechend geringere Renditen.1Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.860997.de/publikationen/wochenberichte/2022_49_3/auch_beim_sparen_gibt_es_einen_erstaunlichen_gender-gap__kommentar.html. Andererseits blenden diese Bemühungen eine Reihe weiterer Probleme aus, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht schwerer wiegen. Denn die finanzielle Benachteiligung von Frauen beruht vor allem auf ihrem geringeren Einkommen, nicht so sehr auf der geringeren Rendite an Kapitalmärkten. Zudem haben fast 40 Prozent der Menschen in Deutschland kein nennenswertes Vermögen.2Siehe: https://www.diw.de/de/diw_01.c.851101.de/nachrichten/die_soziale_notlage_trifft_schon_laengst_die_breite_masse.html. Frauen ohne nennenswertes Vermögen fehlen Ersparnisse, nicht mehr Finanzwissen oder ein einfacher Zugang zu Kapitalmärkten, um einer drohenden Altersarmut zu entgehen.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne. Rechts oben der Schriftzug Der Gender Pension Gap. Links das Model hockend in engem schwarzen T-Shirt und Strumphose.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

Wie der Business-Feminismus riskiert der Fintech-Feminismus hier, ein allzu einseitiges Verständnis der Gleichberechtigung zu verfolgen, bei dem die gesellschaftliche Realität vielschichtiger, sich überschneidender sozialer Ungleichheiten aus dem Blick gerät. Es ist zweifellos wichtig, Finanzthemen und Finanzkompetenzen an Frauen und Männer gleichermaßen zu vermitteln. Es ist aber auch wahr, dass ein Fokus auf die Vermittlung von Finanzwissen und Finanzkompetenzen im Bereich Kapitalmarkt vorrangig Frauen erreicht, die bereits über ein gewisses Maß an Reichtum und Bildung verfügen. Die Probleme von Frauen, die über weniger kulturelles und finanzielles Kapital verfügen und schon deshalb vorrangig unterstützt werden müssten, drohen unberücksichtigt zu bleiben.

#2 Fintechs Frauenbilder

Eine weitere Herausforderung des Fintech-Feminismus wird an der strategischen Inszenierung der Zielgruppe der Kampagne zum Weltfrauentag deutlich. Trade Republic und saint sass präsentieren eine junge Frau – zerzaustes Haar, schwarze Lederjacke, knappes Crop-Top, grauer Minirock – in lässiger Pose. Eine Inszenierung, die zugleich als unabhängig, selbstbewusst, verführerisch gelesen werden kann, aber auch als lasziv, devot, und übersexualisiert. Es bleibt unklar, ob die Strumpfhose hier vorrangig dazu dienen soll, Frauen anzusprechen und auf das Thema der Altersarmut aufmerksam zu machen. Oder ob sie vielmehr den Blicken der männlichen Kunden dienen soll, die rund 84 Prozent der Nutzer von Trade Republic ausmachen.

Diese Ambivalenz ist symptomatisch für die widersprüchlichen Erwartungen an das Aussehen, mit denen Frauen auch in der Fintech-Branche konfrontiert sind. Und für die unverhältnismäßige Bedeutung, die das Aussehen für sie im Vergleich zu den Männern einnimmt. So sind Frauen stets dazu aufgefordert, weiblich, aber nicht zu weiblich aufzutreten, attraktiv, aber nicht zu attraktiv zu wirken. Dabei ist ihr Aussehen, anders als das der Männer, der permanenten Beurteilung durch andere ausgesetzt. Dies äußert sich etwa in ungefragten Begutachtungen, anzüglichen Bemerkungen oder abfälligen Kommentaren, die sich disproportional an Frauen richten, und die oft fließend in übergriffige Formen des Alltagssexismus übergehen.

Vor diesem Hintergrund mag die Strumpfhosenkampagne zwar das legitime Bedürfnis mancher Frauen inszenieren, unabhängig, selbstbewusst, und verführerisch zu sein. Sie untermauert dabei aber auch die generelle Erwartung an Frauen, die Sexualisierung ihres Aussehens und die damit verbundene Ungleichheit gegenüber Männern als einen normalen Aspekt des unternehmerischen Alltags zu akzeptieren. Die Idee, ein in Strumpfhosen posierendes Model am Weltfrauentag zu einem Symbol im Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen zu erklären, erscheint mit Blick auf diese Ungleichheit daher, gelinde gesagt, unglaubwürdig.

Screenshot der Trade-Republic-Kampagne. Links unten der Schriftzug Retire Rich. Mittig das Model halbliegend, mit einem Bein aufgestellt.
Bild: https://traderepublic.com/de-de/womens-day.

#3 Bros, Geeks und Nerds

Eine letzte Schwachstelle des Fintech-Feminismus wird an der Art und Weise deutlich, in der die Weltfrauenkampagne die Gleichberechtigung von Frauen beinahe wie selbstverständlich als reines Frauen-Thema präsentiert. Dabei ist offensichtlich, dass die bestehenden Privilegien von Männern die vielleicht wichtigste Hürde für die Gleichberechtigung von Frauen in der Branche darstellen. Wobei diese Privilegien unter Männern ungleich verteilt sind. Eine Frage, die mehr Aufmerksamkeit verdient, ist daher, wie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Fintech-Branche von einem unternehmerischen Ethos aufrechterhalten werden, das den Computerfreak, das verkannte Genie, gepaart mit der Risikobereitschaft, Rücksichtslosigkeit und dem Reichtum eines Investmentbankers zum Leitbild des erfolgreichen Unternehmers erklärt.

Eine Eigenart der Fintech-Szene ist, dass sie die einst negativen Klischees über Computerfreaks und Investmentbanker oft als positive Klischees männlicher Startup-Gründer reinterpretiert. Statt konventionelle Vorstellungen männlicher Überlegenheit zu verdrängen, hat dies in Teilen der Szene zu einer Verschiebung der Überlegenheitsfantasie geführt. Diese äußert sich in den regelmäßigen Exzessen der vielzitierten Bro-Culture, die sexistische Beleidigungen und sexuelle Übergriffe in Teilen der Szene normalisiert. Sie äußert sich darin, dass Wagniskapitalfonds in Deutschland noch immer beinahe ausschließlich in Startup-Unternehmen mit männlichen Gründern investieren,3Siehe: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/mehr-unternehmerinnen-fuer-den-mittelstand.html und dass der Verweis auf „traditionelle Rollenbilder“ dabei als plausible Rechtfertigung annerkannt wird. Schließlich äußert sie sich auch in der Leichtigkeit, mit der insbesondere Männer in der Branche feministische Themen zur Nebensache erklären, die – ganz im Sinne des Business-Feminismus – nur dann interessant wird, wenn sie Wachstum und Profitabilität für das eigene Unternehmen verspricht.

Ein anderer Feminismus für die Fintech-Branche?

Wer profitiert vom Fintech-Feminismus? Das Beispiel der Weltfrauentagskampagne macht deutlich, dass diese Frage nicht einfach zu beantworten ist. Der Fintech-Feminismus vermag es, die strukturelle Benachteiligung von Frauen sichtbar zu machen und die Forderung nach Veränderung zu verbreiten. Er hat dabei aber vorrangig die Interessen privilegierter Frauen im Blick und lässt die strukturellen Privilegien von Männern und den absoluten Vorrang der Profitmaximierung von Unternehmen unangetastet. Wie könnte daher ein ambitionierterer Fintech-Feminismus aussehen?

Ein erster Ansatzpunkt wäre es, zu fragen, wie die Interessen der am wenigsten priviligierten Frauen mit an Bord geholt werden können. Das würde bedeuten, nicht nur mehr Frauen zum Investieren zu ermutigen, sondern auch über kollektive Formen der Fürsorge, des Wohlstands, und der Umverteilung nachzudenken. Wie können digitale Finanztechnologien dazu beitragen, die Lage von Frauen zu verbessern, die keine nennenswerten Ersparnisse haben?

Ein zweiter Ansatzpunkt wäre es, die Sexualisierung von Frauen im unternehmerischen Alltag als ein kollektives Problem zu bekämpfen, von dem Frauen jedoch in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Wie können unternehmerische Weiblichkeiten dargestellt, verkörpert, und verteidigt werden, die auch Frauen eine Orientierung im unternehmerischen Alltag bieten, die nicht bereits gesellschaftlichen Normen entsprechen?

Schließlich müsste ein ambitionierter Fintech-Feminismus auch damit beginnen, den Fokus auf die Rolle und Privilegien von Männern zu legen. Wie kann der Kampf gegen den Alltagssexismus in der Branche als ein Männerthema artikuliert und verankert werden? Wie können mehr Männer dazu gebracht werden, die eigenen Privilegien nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu Gunsten einer gerechteren, vielseitigeren, und letztlich innovativeren Branche aufzugeben? Und kann die Glorifizierung des Computerfreak-Investmentbankers durch alternative Erzählungen erfolgreichen Unternehmertums zurückgedrängt und sogar ersetzt werden?

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Autor: Marek Jessen eFin-Blog Farbe: gelb

Teilt PayPal meine Daten, nur nicht mit mir? Eine Datenabfrage und die Grenzen des Auskunftsrechts

Teilt PayPal meine Daten, nur nicht mit mir? Eine Datenabfrage und die Grenzen des Auskunftsrechts

Ein Beitrag von Marek Jessen

6. November 2024

Kannst du mir das „paypalen“? – eine Frage, die ihren Weg in unser aller Alltag gefunden hat. Nur wenigen Firmen gelingt es, dass die Verwendung ihrer Dienste mit einem eigenen Verb bezeichnet wird – PayPal gehört dazu. Der Dienst steht sinnbildlich für das einfache und schnelle Versenden von Geld zwischen Freund:innen. PayPal ist allerdings weit mehr und mittlerweile aus dem Konzert digitaler Zahlungsmittel nicht mehr wegzudenken.

Für das Forschungsprojekt Geld als Datenträger, das die Datennutzung verschiedener digitaler Zahlungsmittel untersucht, wollte ich zunächst vermeintlich einfache Wege gehen, um erste Eindrücke von der Datennutzung digitaler Zahlungsanbieter zu gewinnen. PayPal sollte da nicht fehlen. Mit einem guten Schwung Neugierde wollte ich als PayPal-Nutzer mein Auskunftsrecht gemäß Art. 15 DSGVO geltend machen. Ob ich erfolgreich war und was dieser Versuch über die Durchsetzung von Rechten im Rahmen der DSGVO aussagt, darum soll es im Folgenden gehen.

Ein paar Eckpunkte zu PayPal

Die Geschichte von PayPal beginnt 1998, damals noch unter dem Namen Confinity. Aus heutiger Sicht interessant: Einer der Gründer war Peter Thiel, auch bekannt als früher Facebook-Investor (jetzt Meta), Vorstandsvorsitzender von Palantir (einem Anbieter von Software zur Analyse großer Datenmengen) und glühender Anhänger von Donald Trump. Mit der Fusionierung mit X.com im Jahre 2000 verschwindet der Name Confinity und wird durch den des Fusionspartners ersetzt. Elon Musk als einer der Mitgründer von X.com wird nach der Fusionierung Teil des Vorstands und CEO. Wenig später erhält das Unternehmen seinen heutigen Namen: PayPal. Durch die Übernahme von eBay im Jahre 2002 wurde ein weiterer wichtiger Grundstein für die heutige Bekanntheit gelegt.

Stand heute wird im deutschen Onlinehandel der meiste Umsatz über PayPal abgewickelt. Mit 88% der Befragten, die in einer Bundesbankstudie angegeben haben, PayPal zu kennen, ist es auch das bekannteste Web- und App-basierte Bezahlverfahren. Damit liegt es deutlich vor Klarna (74%), Google Pay (55%) sowie Apple Pay (55%). Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich im privaten Bereich ab, also bei sog. Peer-to-Peer (P2P)-Zahlungen. Knapp die Hälfte (48%) bevorzugen dafür „unbare“ Zahlungsmittel, wie es in der Bundesbankstudie heißt. An erster Stelle sind das klassische Überweisungen, diese werden jedoch dicht gefolgt von PayPal-Zahlungen, die insbesondere von jüngeren Leuten genutzt werden. Im europäischen Vergleich bieten in Deutschland die meisten Onlinehändler (93%) PayPal als Zahlungsmethode an. Abhängig von etablierten nationalen Lösungen oder einer Vorliebe für Barzahlungen, kann die Rate innerhalb der europäischen Länder erheblich schwanken. Beispielsweise bieten in Serbien lediglich 4% der Onlinehändler PayPal als Zahlungsmethode an.

Recht auf Auskunft geltend machen, aber wie?

Erfolg und Bekanntheit von PayPal machen es somit zwingend zu einem Teil unserer Untersuchung. Ein erster Anfang sollte mit einer einfachen Abfrage der Daten, also erstmal meiner Daten, gemacht werden.

Denn die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit (kurz BfDI) sieht in dem Recht auf Auskunft (Art. 15 DSGVO) ein „bedeutsames Betroffenenrecht“, das mir den Erhalt gespeicherter personenbezogener Daten ermöglicht, auch den „ergänzender Informationen, etwa über die Verarbeitungszwecke, die Herkunft der Daten […] oder über Empfänger“, an die meine Daten geliefert werden. Das Auskunftsrecht bezieht sich außerdem nicht nur auf „sogenannte Stammdaten“, sondern umfasst bspw. alle Daten mit Bezug zu meiner Person, wie z.B. Chatverläufe mit dem Kundensupport oder für PayPal besonders relevant: getätigte Geldsendungen. Es steht mir gemäß Gesetz offen, dieses Recht gegenüber öffentlichen Stellen zu erwirken, ebenso wie gegenüber nichtöffentlichen Stellen, u.a. Wirtschaftsunternehmen – und damit auch von PayPal.

Erstellt durch Adobe Firefly. Silhouette einer männlichen Figur, die von Zeichen für Zahlungsverkehr umgeben und durchzogen ist.

Mithilfe von Suchmaschinen fand ich sehr schnell einen Weg, meine Daten herunterzuladen. Offen gestanden wirkte das recht intuitiv, einer Recherche hätte es womöglich nicht bedurft. Letztendlich führt der folgende Pfad im PayPal-Account dorthin: „Einstellungen“ – „Daten & Datenschutz“ – „Ihre Daten herunterladen“. Bereits nach wenigen Sekunden erschien im eingebetteten Chat meines PayPal-Accounts die Nachricht Sender: CUSTOMER SERVICE mit dem Betreff: Wir haben Ihre Anforderung auf Datenzugriff erhalten. Versehen mit dem Verweis, dass mit der Arbeit begonnen werde und innerhalb von 30 Tagen eine Rückmeldung komme. Nach wenigen Minuten wiederum erhielt ich eine weitere Nachricht Sender: CUSTOMER SERVICE mit dem Betreff: Hier sind ihre Daten.

Beschwingt durch die intuitive Bedienbarkeit und schnelle Abwicklung meiner Anfrage öffnete ich das angehängte Datenpaket bestehend aus zwei Dokumenten: Data Processing Information.pdf und Personal Data File.pdf. Doch schnell wurde mir klar, dass meine Neugier nicht befriedigt, sondern enttäuscht wurde. Das Personal Data File enthielt primär meine Stammdaten (Name, Geburtstag, E-Mailadresse) sowie einige wenige Zusatzinformationen (verknüpftes Bankkonto) und blieb weit hinter meiner Erwartung zurück, eine umfassende Datenauskunft zu bekommen. Der Eindruck, das sei alles nicht zureichend, ließ sich auch deswegen nicht abschütteln, weil offensichtlich mehr Informationen in meinem Account über mich einsehbar als in der Auskunft enthalten waren.

Nun also per Einschreiben…

Mit nun gefasstem Forschungseifer dachte ich über andere, bestenfalls zielführendere, Wege nach. Ich wollte es auf dem Postweg versuchen. Über die Verbraucherzentrale fand ich eine Art Musterschreiben, das ich um weitere Identifikationsmerkmale ergänzte: meinen Benutzernamen und meine Mobile Advertising ID. Denn laut netzpolitik.org erleichtern zusätzliche Informationen bei Datenabfragen, insbesondere bei Datenhändlern, das Finden in deren Datenbanken.

Es blieb nun noch die Frage, an welche Adresse das Schreiben zu richten sei. Aufschluss darüber gibt die Landesbeauftragte für Datenschutz und Akteneinsicht in Brandenburg (lda), die im Grundsatz für PayPal verantwortlich ist. Die PayPal Deutschland GmbH hat nämlich ihren Sitz in Kleinmachnow, einer kleinen Gemeinde ca. 15 km von Potsdam entfernt. Auf der Homepage wird jedoch auf die Zuständigkeit der luxemburgischen Datenschutzbehörde, die Nationale Kommission für den Datenschutz (CNPD), verwiesen. In der deutschen Zweigniederlassung von PayPal findet nach „derzeitigem Kenntnisstand keine relevante Verarbeitung personenbezogener Nutzerdaten statt“. Ich schickte meinen Brief also an den europäischen Sitz des Unternehmens in Luxemburg.

Wenige Tage später bekam ich wieder über das Chatfenster eine Nachricht. Dieses Mal von PayPal Support mit dem Betreff: Postalischer Kontakt. Zur Beschleunigung des Prozesses kam die Nachfrage, ob ich den Datenumfang in Bezug auf Datenkategorien und den Erhebungszeitraum einschränken wolle. Unter Verweis auf das zugeschickte Dokument wies ich darauf hin, bereits eine erschöpfende Liste an Datenkategorien geschickt zu haben und bezüglich des Zeitraums könnten gerne alle Daten seit Accounteröffnung gesammelt werden.

Die Antwort kam prompt und sogar personalisiert durch eine Mitarbeiterin von PayPal. Der mutmaßlich menschliche Gegenpart wirkte zunächst erfrischend und hob sich von vorherigen Kontaktschleifen ab. Leider folgte sehr bald beim Lesen der Nachricht die Ernüchterung. Es fing zunächst eingängig und vielversprechend an:

„Wie in unserer Datenschutzerklärung beschrieben, verwenden wir Ihre personenbezogenen Daten, um Zahlungen zu verarbeiten, Betrug und Missbrauch zu verhindern, Konflikte zu klären, Ihnen eine personalisierte Erfahrung zu vermitteln und Sie über Angebote, Produkte und Dienstleistungen zu informieren.“

Ein Teil meiner Anfrage wurde in sehr groben Zügen aufgenommen. Meine Daten werden also zur Schaffung einer personalisierten Erfahrung genutzt, bspw. durch gezielte Konsumanreize. Aber der entsprechende Datenauszug, der mir eine bessere Nachvollziehbarkeit ermöglicht hätte, fehlte. Ein mit Chuzpe versehener Abschied rundete die Nachricht ab:

„Schön, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte und ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.

Viele Grüße

Name der Mitarbeiterin

PayPal-Kundenservice“

Hier endete der Kontakt mit PayPal, eine weitere Schleife habe ich nicht angestoßen. Ein Blick in die Datenschutzerklärung von PayPal klärt darüber auf, dass sie Daten potenziell mit einer Vielzahl an Partnern teilen. Selbstverständlich nur mit der Erlaubnis ihrer Kund:innen, die allerdings per default gesetzt ist. 

Theoretisch streng, praktisch nachlässig

Der Grundsatz, Auskunft über die gespeicherten Daten erhalten zu können, ist wertvoll, in der Realität aber – wie sich gezeigt hat – begrenzt und damit ausbaubedürftig. So zeichnete Max Schrems, Gründer von noyb – des Europäischen Zentrums für digitale Rechte, ein düsteres Bild, als er Ende Juni 2024 in einer Anhörung des Bundestages zu Potenzialen und Herausforderungen innovativer Datenpolitik zum Thema Recht auf Selbstauskunft Bilanz zog: Die Praxis zeige, dass das Auskunftsrecht „weder flächendeckend eingehalten noch durchgesetzt“ wird. Konkret bedeutet das, dass bei der Hälfte der gestellten Anfragen keine substanzielle Antwort und beim überwiegenden Rest nur Teilantworten zu erwarten seien. Eine vollständige Auskunft, so leitete er aus der Praxis ab, erhalten Auskunftssuchende in lediglich 5% der Fälle.

Theoretisch bliebe in solchen Fällen die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Datenschutzbehörde zu beschweren und so eine vollständige Auskunft zu erwirken. Aber auch hier zeigte sich Schrems gerade mit Blick auf Deutschland ernüchtert. In der Anhörung verwies er darauf, dass noyb in der Regel davon absehe, Beschwerden bei deutschen Datenschutzbehörden einzureichen, weil diese schlichtweg nicht „bissig sind, da wird nicht ordentlich durchgesetzt“. Die Ironie liegt darin, dass die „deutsche Innenansicht“, also die Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit, komplett konträr dazu ist. In der Selbstwahrnehmung trifft die wahrgenommene Strenge im Datenschutz keineswegs auf entsprechende Vollzugsqualitäten und damit auf eine unzureichende praktische Durchsetzung der Betroffenenrechte.

Abschließend bleibt zu sagen, dass dieses Ergebnis insgesamt ernüchternd ist. Auch wenn sich ausgehend von diesem Fall keine pauschale Aussage über andere Zahlungsdienstleister treffen lässt, bleibt festzuhalten, dass Zahlungsverkehrsdaten wegen der Möglichkeit sensible Einblicke in unser Leben zu geben, besonders wertvoll für eine Vielzahl von Interessen sind. Transparenz darüber zu schaffen, welche Daten vorhanden sind, kann da nur der erste Schritt sein. Daher ist es bedenklich, wenn es an der praktischen Durchsetzung des Auskunftsrechts zu hapern scheint.

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Autor: Moritz Hütten eFin-Blog Farbe: gelb

Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Hartes Geld im 21. Jahrhundert: Ist Bitcoin „digitales Gold“?

Ein Beitrag von Moritz Hütten

9. Oktober 2024

Eine Szene konnten Sportbegeisterte bei den zurückliegenden Olympischen Sommerspielen in Paris immer wieder sehen: Athlet*innen, die für die Fotografen auf die gerade errungene Medaille bissen. Woher stammt die Idee hinter dem beliebten Fotomotiv? Wer sich weniger für Sport interessiert, kennt das Motiv vielleicht aus Westernfilmen, in denen der Held oder Halunke mit dem „Bisstest“ die Echtheit einer Goldmünze prüft.  Händler*innen konnten so angeblich erkennen, ob es sich wirklich um das weiche Edelmetall handelt.

Die Zusammensetzung der Medaillen von heute ist bekannt. Selbst die Goldmedaille weist nur einen geringen Goldanteil auf. Sie bringt es aktuell auf einen Materialwert von gerade mal 1000 €. Der Biss auf dem Siegertreppchen ist also lediglich ein Ritual.

Was wir hier aber sehen, ist das Doppelleben von Edelmetallen, allen voran Gold: Sie sind Material und Symbol zugleich und verkörpern Seltenheit und Beständigkeit. Nicht nur im Sport, sondern auch in der Geschichte unseres Geldes spielt Gold eine Rolle. Über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts hatten viele Länder einen Goldstandard, sprich ihre Währung war durch Goldreserven gedeckt. Auch wenn diese Deckung in den 1970er Jahren endgültig aufgehoben wurde, wirkt die Vorstellung von Gold als „echtem“ Wert bis heute nach und findet in Krisenzeiten sogar neuen Zulauf. Die Idee vom Geldwert durch Edelmetall nennt sich Metallismus und gehört zu den „Warengeld“-Theorien.

Goldschürfer findet einen Bitcoin

Metallismus und digitales Bezahlen wirken zunächst wie Gegensätze. Seit 2008 versucht die Kryptowährung Bitcoin jedoch, diese beiden Gegensätze zusammenzubringen, mit dem Anspruch, „digitales Gold“ zu sein. Was ist aber „digitales Gold“ und welche Konsequenzen hat das für unser Finanzsystem?

Es war einmal … – Eine kurze Geschichte des Metallismus

Am Anfang war der Tausch. Tauschende hatten aber ein Problem: Tauschen kann nur, wer hat, was der/die andere braucht und braucht, was der/die andere hat. Wenn ich Weizen habe und Schuhe möchte, dann brauche ich jemanden, dem es genau umgekehrt ergeht. Wirtschaftswissenschaftlich spricht man von der Koinzidenz von Bedürfnissen. Wenn sich die richtigen nicht finden, kommt der Tausch also schnell zum Erliegen, selbst wenn zu befriedigende Bedürfnisse bei allen vorhanden sind. Um das zu verhindern, braucht es eine Art „Joker“, der an die Stelle des eigentlich gewünschten Gutes treten kann.

Laut der Geschichtserzählung des Metallismus ruft das die Edelmetalle auf den Plan. Durch ihre Beständigkeit, Seltenheit, Transportierbarkeit und Teilbarkeit eignen sie sich ideal als Joker. Der wertige Joker funktioniert damit fast wie unser Geld heute. Weil sich mit ihm jedes andere Gut ertauschen lässt, beschreibt der Soziologe Georg Simmel den Edelmetall-Joker auch als das „absolute Mittel“.

Erst hier taucht in dieser Version der Geschichte der Staat auf. Wenn der Joker reibungslos zirkulieren soll, braucht es Standardisierung. Staatliche Münzstätten gewährleisten mit ihrer Prägung die Konsistenz von Gewicht und Feinheit jeder Münze. Der Wert entstammt dem Material, der Staat vereinfacht nur den Ablauf.

So weit, so falsch.

Der Wirtschaftsanthropologe David Graeber widerspricht in „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“ dieser Erzählung. Nach Graeber ist die Welt des freien Tauschhandels eine retrospektive Erfindung des angehenden Kapitalismus, der die Marktwirtschaft als „natürliche“ Gesellschaftsordnung rechtfertigt. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass Kredit und Schulden in der Geschichte deutlich vor dem Tauschhandel mit Geld auftreten.

Was hier erst einmal wichtig ist, ist, dass eine Geschichte des Geldes ohne Staat oder Gesellschaft Fiktion ist. Fiktiv zu sein, macht sie aber nicht weniger wirkmächtig. Vorstellungen eines „harten“ Geldwerts abseits „weicher“ politischer und sozialer Institutionen finden insbesondere in Zeiten multipler globaler Krisen sogar neuen Zulauf.

Was ist eigentlich Bitcoin?

2008 deutete sich vorsichtig eine überraschende Entwicklung an. Jemand unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto stellte den Entwurf für ein digitales Geldsystem vor, das sich in vielerlei Hinsicht an der Fiktion des Metallismus orientierte: Bitcoin.

Bitcoin ist ein dezentralisiertes Computerprotokoll, das das digitale Bezahlen ohne Intermediär oder Mittelsmann erlaubt und sich ideologisch sowohl am Bargeld als auch am Metallismus orientiert. 2008 wurde das Konzept schriftlich prägnant im sogenannten Bitcoin-Whitepaper vorgestellt; 2009 ging die dazugehörige Software online.

Das Besondere an Bitcoin war, dass Nakamoto einen Vorschlag erarbeitet hat, wie die Transaktionshistorie dieses Bezahlsystems konsistent und verlässlich verwaltet werden kann, ohne die Kontrolle darüber bei einer zentralen Instanz zu bündeln. Technisch läuft das Ganze so ab, dass durch eine Art Lotterieverfahren, dem sogenannten Mining, Schreibrechte für den nächsten Eintrag im digitalen Buchhaltungssystem, dem Ledger, unter all jenen verlost werden, die ihre Rechenleistung zum Betrieb des Protokolls bereitstellen. Wer mehr Rechenleistung bereitstellt, hat auch bessere Chancen und wer gewinnt, erhält einen fixen Betrag neu geschöpfter Bitcoins und einen variablen Betrag an Transaktionsgebühren.

Ungefähr alle 10 Minuten findet diese Ausschüttung statt und es werden im Durchschnitt etwa 4000 Transaktionen abgewickelt, indem sie in Form eines „Blocks“ dem Buchführungssystem hinzugefügt werden. Es ergibt sich eine Kette an Blöcken, die Blockchain. In fixen Intervallen nimmt die Anzahl der neu geschöpften Bitcoins in vorausschaubarer Weise ab, bis die von Anfang an festgelegte Maximalmenge von 21 Millionen Bitcoins erreicht ist.

Dass Bitcoin eine Kritik am bestehenden Finanzsystem ist, wurde gleich im ersten Block bekräftigt, wo sich bis heute ein Verweis auf eine Schlagzeile des Tages findet: „The Times 03/Jan/2009 Chancellor on brink of second bailout for banks“.

Wie kann man sich „digitalen Metallismus“ vorstellen?

Bitcoin hat schon sehr früh für Kontroversen gesorgt. Zu den bekannteren Beispielen gehört die Unterwanderung der Sanktionen gegen WikiLeaks oder die Nutzung im Onlinedrogenhandel 2010/11. Was Bitcoin jedoch wirklich kontrovers gemacht hat, war der Anspruch, „Geld“ zu sein. Gezielt und ohne staatliche Beteiligung „neues“ Geld zu schaffen, kam einem Tabubruch gleich. Dementsprechend versuchen Forschende bis heute, Bitcoin geldtheoretisch einzuordnen.

2013 kam von drei Sozialwissenschaftler:innen der Vorschlag, Bitcoin als „digitalen Metallismus“ zu beschreiben (Maurer et al 2013). Durch den Begriff wird sowohl dem Versuch der Geldmengenbegrenzung im Digitalen Rechenschaft getragen als auch der Nomenklatur von Bitcoin, die sich am Münzgeld und, siehe Mining, am Abbau von Edelmetallen orientiert. Coin, sprich Münze oder Geldstück, verweist auf den Archetyp „harten“ Geldes. Zahllose Artikel verwenden bis heute beim Thema Bitcoin gerne das Bild einer goldenen Münze, der ein dem Dollarzeichen ähnliches Bitcoin-Logo aufgeprägt ist. Während es verschiedene Versionen solcher konkreten Münzen als Souvenir oder gar als DIY-Münze samt Sticker mit persönlichem Wallet-Zugangscode gibt, sorgt diese physische und bildliche Darstellung eher für Verwirrung, weil die Vorstellung der fixen Münze den eigentlichen Abläufen der digitalen Transaktionsabwicklung zuwiderläuft.

Auch der Begriff des „Mining“ orientiert sich am physischen Vorbild des Goldschürfens. Wie im Bergbau wird hier arbeitsintensiv „geschürft“, in der Hoffnung, auf Gold zu stoßen, nur dass die Arbeit von (mittlerweile) stark spezialisierter Hardware geleistet wird.

Um zu verstehen, was es mit dem „digitalen Metallismus“ auf sich hat, sollte man in den Artikel schauen, in dem der Begriff geprägt wurde. Was die Wissenschaftler:innen dort zum Ausdruck bringen wollen, ist, dass schon der Metallismus, also die Idee vom „echten“ Geldwert durch Edelmetall, eine soziale Konstruktion ist. Was damit gesagt werden soll, wirkt zunächst paradox, ist Gold doch ein Material, dessen Eigenschaften für uns dinglich erfahrbar sind und dessen Seltenheit unstrittig ist. Wie kann es also eine „soziale Konstruktion“ sein?

In den Sozialwissenschaften beschreibt eine „soziale Konstruktion“, dass viele Aspekte unserer Realität, wie Normen, Werte und soziale Strukturen, keine „natürlichen“ Gegebenheiten, sondern das Ergebnis von sozialen Prozessen und Interaktionen sind. Damit wird nicht bestritten, dass Gold fixe physische Eigenschaften hat, aber seine Rolle als Wertaufbewahrungsmittel wird als sozial konstruiert verstanden. Oder anders gesagt: auch der vermeintlich „echte“ Goldwert entspringt sozialen Verhältnissen. 

„Digitaler Metallismus“ baut darauf auf und bezieht sich auf die „diskursiven Praktiken“ der Warengeld-Theoretiker:innen, durch die soziale Beziehungen, die Kredit- und Schuldverhältnissen (eigentlich) zugrunde liegen, „naturalisiert“ werden, was bedeutet, dass sie wie „natürliche“ Eigenschaften unserer Realität erscheinen.

Was man sich, übernimmt man diese Perspektive, dann eigentlich anschauen muss, ist die „Diskursarbeit“ der Bitcoinverfechter:innen. Ob Bitcoin „digitales Gold“ ist, ist nicht so sehr eine Wesensfrage als eine Frage der Positionierung. Während sich Bitcoin mit der Rolle als vollumfängliches Geld schwertut, läuft die Positionierung als „digitales Gold“ heute sehr erfolgreich.

Bitcoin – Vom „electronic cash“ zum „digitalen Gold“

Geld werden gemeinhin drei Funktionen zugeschrieben, die es im Alltag hat: Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel.

Als Tauschmittel und Recheneinheit versagt Bitcoin. Wer sich Mühe gibt, findet zwar Wege, vereinzelt Waren oder Dienstleistungen mit Bitcoins zu erwerben, selbst Bitcoin-Fans zahlen ihren morgendlichen Kaffee oder ihre Miete jedoch weiterhin in ihrer lokalen Währung. Ebenso werden die Preise für solche Angebote kaum in Bitcoin abgebildet, sondern beispielsweise in Euro oder US-Dollar, die dann in Kommabeträge von Bitcoins umgerechnet werden.

Vielfach wird Bitcoin mit (Online-)Kriminalität in Verbindung gebracht. Zwar schreibt die Bundesdruckerei dazu: „Kryptowährungen sind nicht per se ein kriminelles Instrument, aber der konkrete Einsatz und die spezifischen Eigenarten machen sie für Straftaten attraktiv“. Für bestimmte Straftaten wie Ransomware-Angriffe – eine „Lösegeldforderung“, nachdem Angreifer*innen etwa die Datenbestände einer Firma verschlüsselt haben – sind Kryptowährungen nahezu alternativlos.

Verfechter:innen von Bitcoin gehen bei solchen Aussagen auf die Barrikaden. Seit Jahren verweisen sie auf hehre Ziele von größerer Finanzinklusion bis zur Unabhängigkeit von einem volatilen Finanzsystem – hier sind aber weiterhin kaum Fortschritte ersichtlich. Als Zahlungsmittel werden Kryptowährungen kaum genutzt, als Instrument zur finanziellen Inklusion weisen sie erhebliche Probleme auf und selbst Bitcoin-Vorzeigeländer wie El Salvador verzeichnen eine stagnierende Nutzung auf niedrigem Niveau.

Im Kern geht es um einen jahrelangen Streit, ob Bitcoin vorrangig „electronic cash“ und damit Tauschmittel oder Wertaufbewahrungsmittel sein sollte. Gold gilt dabei als das Vorbild der inflationsgeschützten Anlageform per se. Für Vertreter:innen der ersten Gruppe sieht es heute schlecht aus. Die zweite Gruppe kann dagegen nicht unerhebliche Erfolge vorweisen, was sich zuletzt sogar an der Debatte um eine US-Bitcoinreserve zeigt.

„Digitales Gold“ – Vom Gegenentwurf zur Symbiose?

Wenn man den Begriff eng auslegt, scheint Bitcoin heute echte Chancen zu haben, die Rolle als „digitales Gold“ einzunehmen – wie steht es aber um die großen Verheißungen, die mit dem Goldstandard als Idee verbunden sind?

Für jene, die dem Goldstandard nachtrauern, steht er bis heute für eine Zeit der Stabilität und Prosperität. Auch Maurer et al. (2013) verweisen auf die daran angelehnten Versprechungen Bitcoins: „[…] solidity, materiality, stability, anonymity, and, strangely, community” (S. 263).

Was wir jetzt sehen, ist eine zunächst paradoxe Entwicklung. Die Suche nach Stabilität im „digitalen Gold“ entpuppt sich als Quelle von Instabilität und neuen Verwerfungen in Politik und Finanzsystem. Sicherlich ist das ein Stück weit gewollt, Bitcoin sollte von Beginn an Staat und Banken Kontrolle entziehen. Vieles von dem, was wir jetzt sehen, scheint den Interessen jener zuwiderzulaufen, die sich eine „Bitcoin-Revolution“ erhofft haben.

Erstens spielen Kryptowährungen eine wachsende Rolle in der Politik. Seit Jahren nehmen Lobbyaktivitäten zu. Zwar haben die meisten Projekte der Szene technisch enttäuscht, der spekulative Investitionsboom hat aber reichlich Geld in die Kassen der zentralisierten Krypto-Börsen gespült. Mit den wachsenden Einnahmen macht man sich nun daran, sich politisch Gehör zu verschaffen. Viele Bitcoin-Fans begrüßen es, wenn ihr/e „pro-Krypto“ Kandidat:in das Rennen macht oder entsprechende Themen auf der Agenda nach oben rücken.

Auch wenn man sich weiterhin revolutionär gibt, finden sich auf der Liste der Firmen, die in Krypto-Lobbyarbeit investieren, jedoch viele alte Bekannte der Tech- und Finanzbranche: von Meta und Paypal bis Visa und Citigroup. Große Plattformen, deren Überwachungs- und Kontrollpraktiken ursprünglich von Bitcoin und Co. herausgefordert werden sollten, können sich zusehends mit der Welt der Kryptowährungen arrangieren. Trotz der vermeintlichen Angst vor staatlichem Machtmissbrauch konnte man sich in der Szene zuletzt selbst für eine zweite Amtszeit von Donald Trump erwärmen.

Zweitens kann sich mittlerweile selbst die Finanzindustrie, die ursprünglich im Zentrum der Kritik von Bitcoin stand, mit der Kryptowährung anfreunden. 2017 bezeichnete Larry Fink, CEO der Investmentgesellschaft BlackRock Bitcoin noch als „Geldwäsche-Index“; 2024 ist Bitcoin für ihn „digitales Gold“ und ein „legitimes Finanzinstrument“. Finks Sinneswandel steht exemplarisch für eine Branche, die nicht dauerhaft auf die Aussicht auf spekulative Gewinne mit und um Bitcoin verzichten will. Vom ursprünglichen Antagonismus bleibt dabei zusehends nicht viel übrig, stattdessen werden Bitcoins in die eigene Produktpalette aufgenommen, zuletzt mit der Etablierung einer Reihe von Bitcoin-ETFs, wodurch Krypto-Spekulation tiefer ins bestehende Finanzsystem integriert wird.

Das Muster wiederholt sich innerhalb der vergleichsweise jungen Krypto-Szene. Schon früh haben verschiedene Personen oder Gruppen alternative Kryptowährungen aufgesetzt, die Bitcoin nach ihren Vorstellungen ergänzen oder ersetzen sollten. Die Website CoinMarketCap zählt heute fast 10.000 weitere Kryptowährungen. Hier kommen die „diskursiven Praktiken“ um Bitcoin so richtig zur Geltung. Viele Ableger lösen nicht dasselbe Knappheitsversprechen ein, sind stark zentralisiert und bedienen keinen nennenswerten Zweck, dennoch hat sich der Sprech von „Krypto-Assets“ oder „Kryptowerten“ festgesetzt. Das diffuse Gefühl von Wertigkeit und Beständigkeit hat einen Wildwuchs zumeist nutzloser Spekulationsobjekte befeuert. Besonders auffällig waren in den letzten Jahren unsinnige Exzesse um NFTs und dubiosen „Stablecoins“ wie Tether mit Sitz auf den British Virgin Islands.

Einzelne Investor:innen mögen vom Bitcoinkauf finanziell profitieren oder nicht, das ist von dieser Diskussion unberührt. Auf gesellschaftlicher Ebene manifestieren sich aktuell aber vor allem die Risiken dieser Entwicklung, von Krypto-Lobbyismus bis zur unvorsichtigen Integration ins bestehende Finanzsystem; von Spekulationsblasen bis zu fraglichen Stablecoins; die versprochenen Chancen bleibt man uns dabei noch schuldig.

Quellen:

Graeber, David (2014): Schulden: Die ersten 5000 Jahre. München: Goldmann.

Maurer, Bill; Nelms, Taylor C.; Swartz, Lana (2013): „When perhaps the real problem is money itself!”: the practical materiality of Bitcoin. Social Semiotics, 23(2), 261-277.

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Autor: Christian Grothoff eFin-Blog Farbe: gelb

„Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen“: Das Taler-Bezahlsystem

„Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen“: Das Taler-Bezahlsystem

Christian Grothoff im Interview mit Eneia Dragomir

19. September 2024

„Taxable, Anonymous, Libre, Electronic Resources“, kurz „Taler“ ist ein Versuch, die Eigenschaften des Bargelds für Online-Zahlungen zu reproduzieren. Das soll vor allem durch Kryptografie möglich werden. Digitales Bezahlen und Kryptografie? Was nach einer weiteren so genannten Kryptowährung klingt, soll alles andere als das sein. Wir haben mit Christian Grothoff über das Taler-Projekt, über datenschutzfreundliches digitales Bezahlen sowie über die Probleme des Bitcoin und anderer „Kryptowährungen“, aber auch des Digitalen Euro gesprochen.

Das Interview wird in zwei Teilen veröffentlicht. In diesem ersten Teil geht es um das Taler-Bezahlsystem und darum, warum der Bitcoin eigentlich kein Coin ist.

Herr Grothoff, Sie engagieren sich im GNU-Projekt, einem Betriebssystem, das als freie Software entwickelt wird. Sie sind auch maßgeblich an der Entwicklung des darauf basierenden GNU-Taler-Bezahlsystems beteiligt, unter anderem auch als CEO der Taler Systems SA. Mit dem GNU-Taler soll laut der Unternehmenswebseite ein „digitales Pendant“ zum Bargeld geschaffen werden, das sich durch „Datenschutz und Datenminimierung“ auszeichnet und vor allem dadurch, dass die Anonymität von Bargeldzahlungen digital reproduziert wird. Wie soll dieses datenschutzfreundliche digitale Bezahlen umgesetzt werden?

Also in groben Konturen: Das Taler System wird von einer regulierten Entität betrieben. Das kann eine Bank, wie die GLS Bank in Deutschland oder die Magnet-Bank in Ungarn, eine Zentralbank oder ein Zahlungsdienstleister sein, also irgendjemand, dem wir in Bezug auf Geld ein bisschen Vertrauen schenken können, weil er reguliert ist. Als Kunde kann ich diesem Betreiber durch eine SEPA-Transaktion Geld von meinem Girokonto überweisen und im Gegenzug stellt er mir dafür eine digitale Münze aus.

Diese digitale Münze zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Sie hat durch den Aussteller eine digitale Signatur erhalten. Deswegen hat sie einen Wert. Ich kann mir nicht einfach selbst digitale Münzen erstellen, der Betreiber bürgt für den Wert der Münze. Die Signatur beinhaltet auch, wie viel die digitale Münze wert ist, ob sie ein, zwei oder vier Euro wert ist. Das sehe ich als Nutzer eigentlich nicht, denn in meiner Wallet wird der Gesamtbetrag aller meiner digitalen Münzen angezeigt. Ich muss also nicht selbst nachzählen und die Signaturen analysieren. Und wie bei Bargeld können wir die digitale Münze nur einmal ausgeben. Da es sich bei der Erstellung der Münze um eine Art digitales Drucken handelt, besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass der Kunde die Münze kopiert. Wenn ich diesen digital signierten Token auf meinem Rechner habe, kann ich eine Kopie machen. Da ich nicht davon ausgehe, dass wir einen absolut sicheren Kopierschutz erfinden werden, das hat die Musikindustrie bislang auch nicht geschafft, setzen wir auf die erwähnte regulierte Entität: Wenn ich die digitale Münze ausgebe, dann muss der Händler sofort online zum Herausgeber der Münze gehen und fragen, „Hey, einer deiner Kunden hat bei mir bezahlt. Prüfe bitte, ob diese Münze gültig ist. Ist sie richtig signiert? Wurde sie schon mal ausgegeben?“ Nur wenn die Münze richtig signiert ist und noch nicht ausgegeben wurde, sagt der Bezahldienstleister, „alles okay, Du kannst dem Kunden die gewünschten Güter geben oder die Dienstleistung ausführen.“ Jede Münze hat eine eindeutige Nummer, durch die der Bezahldienstleister sie wiedererkennen kann. Dadurch kann er verhindern, dass sie doppelt ausgegeben wird.

Das ist die High-Level-Beschreibung: Es wird eine elektronische Münze mit einer Signatur ausgestellt, die nur einmal ausgegeben werden kann. Das macht ökonomisch Sinn, weil keine neue Währung geschaffen wird, und es macht in Hinblick auf den Datenschutz Sinn, weil ich als Bezahldienstleister keine Transaktionshistorie des Nutzers bilden kann.

Also die Signatur der Münze soll diese eindeutig identifizierbar machen? Wie bleibt dann aber der Kunde beim Geldausgeben anonym?

Da kommt die Kryptographie ins Spiel: Wir verwenden keine normale Signatur, sondern eine sogenannte blinde Signatur. Das heißt, beim Ausstellen der digitalen Münze lernt der Aussteller nicht die Seriennummer der Münze. Wenn ich zum Beispiel Herrn Meier so eine Münze mit einer blinden Signatur ausstelle, und er bezahlt damit beim Bäcker, dann habe ich erfahren, dass jemand gerade beim Bäcker war, aber ich kann nicht erkennen, dass die digitale Münze die gleiche war, die ich Herrn Meier ausgestellt hatte. Der Betreiber des Bezahlsystems lernt die Seriennummer und Signatur einer Münze nur, wenn sie eingelöst wird. Er kann zwar sehen, diese Münze hat er mal ausgestellt, aber nicht an wen. Wenn er Hunderte von Kunden hat, weiß er, dass einer dieser Kunden diese Münze bezogen hat. Er weiß, dass sein Kunde ihm einen bestimmten Betrag überwiesen hat und er ihm dafür Taler ausgestellt hat. Aber er kann die Münze, die ausgegeben wurde, nicht mehr mit dem Erstellungsvorgang verknüpfen. Das heißt, er kennt die Kunden, die Geld abheben, er weiß auch, welchen Betrag welcher Kunde bekommt, aber er weiß nicht, welche Münzen genau bei welchen Kunden im Portemonnaie gelandet sind. Es ist wie beim Geldautomaten: Die Bank weiß, wer das Geld abhebt. Theoretisch könnte so ein Geldautomat die Seriennummer der Scheine mitschreiben, in der Praxis tun sie es nicht, sagten uns die Zentralbanken. Beim Taler-Bezahlsystem geht es sogar technisch nicht, denn der Kunde macht die Kryptografie, das heißt, der Kunde hat diese Seriennummer vor dem Bezahldienstleister versteckt, der kann also diese Seriennummer nicht mit diesem Kunden verknüpfen. Kommt die Münze aber zurück, dann kann er sicher sein, dass er sie damals einem seiner Kunden ausgestellt hat und dem Händler das Geld überweisen. Das heißt, technisch hat der Kunde beim Geldausgeben Anonymität – nicht, wenn er das Geld abhebt, nur wenn er es ausgibt. Der Händler ist hingegen transparent, weil er dem Betreiber des Taler-Bezahlsystems sagen muss, ich bin der Geldempfänger, bitte gib mir das Guthaben. Wir haben also Einkommenstransparenz, weil wir wissen, wer Geld bekommt.

Durch die Transparenz der Einnahmen und die Kundenidentifikation bei der Münzausgabe ist das Bezahlsystem auch rechtskonform, denn die „Know Your Customer“- oder KYC-Regel ist damit erfüllt: Die Bank weiß, wem sie Taler ausgestellt hat, und sie weiß, wer Taler bekommt. Aber sie weiß nicht, wie beides zusammenhängt, sie kann also die Transaktionshistorie nicht rekonstruieren. So können wir Rechtskonformität und Datenschutz gleichzeitig herstellen.

Taler ist ein Akronym und steht für „Taxable, Anonymous, Libre, Electronic Resources“, also „besteuerbare, anonyme, freie Ressourcen“. Warum ist die Besteuerbarkeit so wichtig, dass sie Namensbestandteil geworden ist?

Wir wollen für den Kunden, der Geld ausgibt, Anonymität. Aber wir sind keine Absolutisten in Sachen Anonymität. Wir sagen nicht, dass es keinerlei staatliche Kontrolle braucht. Gerade bei der Wirtschaft ist staatliche Kontrolle oder Regulation notwendig! Ein freier Markt und eine funktionierende Gesellschaft brauchen Regulierung und Steuern. Man kann zwar politisch diskutieren, wie hoch die Steuern sein sollen, aber ein Staat, der keine solide Finanzgrundlage hat, ist nicht in der Lage, in die Zukunft, in Bildung, in die Infrastruktur zu investieren. Ein funktionierendes Steuerwesen ist daher essenziell für eine moderne Gesellschaft. Deswegen machen wir das Bezahlen anonym, aber Einkommen transparent. Das T steht insofern auch für „transparent“. Wir haben aber „taxable“ gewählt, weil dann klarer ist, dass es um Einkommen geht, das besteuert werden kann.

Also, welchen Bus ich nehme, welchen Arzt ich besuche, welche Medikamente ich nehme, welche Zeitungen ich lese, wohin ich in den letzten Monaten gereist bin, an welche Organisationen ich spende, dafür brauche ich Datenschutz. Aber die Gesellschaft darf Transparenz verlangen, wenn es um Einnahmen geht. Einkommenstransparenz kann die Gesellschaft verlangen, weil es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder handelt es sich um Einkommen aus Erwerbstätigkeit, also um eine sozial erwünschte Tätigkeit, oder es ist eine kriminelle Tätigkeit, aus der das Einkommen erzielt wird. Und das Bezahlsystem sollte es nicht ermöglichen, das zu verschleiern.

Diesen Trade-off halten wir für gerechtfertigt, weil es darum geht, sich zwischen zwei Extremen zu bewegen: Einerseits der totalen Überwachung, also, der Staat weiß alles über die Individuen und andererseits einem Anonymitätsabsolutismus, der dazu führt, dass ein ökonomischer Wilder Westen entsteht, in dem sich der Stärkere durchsetzt. Wir meinen, dass ein Mittelweg möglich ist: Anonymität beim Geldausgeben und Transparenz bei Einkommen.

Sie haben gesagt, der Kunde macht die Kryptografie. Also die Taler-Wallet auf dem Device des Kunden macht die Kryptografie?

Genau, die Taler-Wallet macht die Kryptografie, die für den Datenschutz des Kunden relevant ist. Das heißt, er muss sich nicht darauf verlassen, dass beim Bezahldienstleister, bei der Zentralbank oder beim Händler die richtige Software läuft. Er muss nur dafür sorgen, dass auf seinem Gerät die richtige Software läuft. Wenn aber irgendwelche Malware auf seinem Gerät läuft, die alles auf seinem Bildschirm mitlesen kann, dann hat er ein Problem.

Das Taler-Bezahlsystem soll ein Micropayment-Dienst sein – warum dieser Fokus auf kleine Beträge?

Wir wollen Anonymität beim digitalen Geldausgeben ermöglichen, aber beim Bezahlen großer Summen gibt es gute Gründe, warum diese Anonymität aufgehoben werden muss: so soll Geldwäsche verhindert werden. Es geht also z.B. nicht um den Hauskauf. Das wäre mit Taler zwar theoretisch möglich, nur ist normalerweise der Käufer anonym und der Verkäufer muss dann gegebenenfalls feststellen, an wen er sein Haus verkauft. Das Bezahlsystem hat die Daten nicht, aber der Verkäufer kann sie selbst anfordern. Zentrale Vorteile von Taler gehen dann aber verloren.

Und der zweite Grund, warum es nur für kleinere Beträge wirklich gut geeignet ist: Ich habe die digitalen Münzen wie Bargeld in Eigenverwahrung. Wenn ich diese digitalen Token bekommen habe, dann sind sie auf meinem Rechner gespeichert, sie sind unter meiner Kontrolle. Ich kann sie ausgeben, wie ich will, aber, wenn ich sie verliere, habe ich sie endgültig verloren. Auch das ist wie beim Bargeld: Einer Bank kann ich auch nicht sagen: Ich habe aus ihrem Geldautomaten 1.000 Euro rausgeholt, ich habe sie leider verloren, gebt sie mir nochmal. Die meisten Leute würden mit 100 Euro durch die Stadt laufen, mit 1000 vielleicht einige, mit 10.000 würden sich die meisten mulmig fühlen, mit 100.000 rennt keiner mehr herum.

In Vorträgen betonen Sie, dass es sich bei Taler nicht um eine sogenannte Kryptowährung handelt. Was unterscheidet den GNU-Taler beispielsweise von Bitcoin?

Also erstmal: Bitcoin ist kein Coin, es ist keine digitale Münze. Bei Bitcoin handelt es sich eigentlich um Accounts, also um Konten, wo der Kontoinhaber über einen privaten Schlüssel identifiziert wird und das Konto über den Hash des öffentlichen Schlüssels. Und alle Transaktionen, die ich über mein Bitcoin-Konto tätige, werden öffentlich in einem verteilten Konto, einem Distributed Ledger, publiziert – in dem Fall einer Blockchain, einem öffentlich einsehbaren Verzeichnis aller Transaktionen. Ein Bitcoin-Wallet hat die privaten Schlüssel, die Kontozugriffsrechte darstellen. Einen Wert haben sie nur, wenn auf das Konto Geld überwiesen und noch nicht abgehoben wurde. Der Wert bestimmt sich somit aus dem Saldo dessen, was eingegangen ist und dem, was rausgegangen ist – ganz klassisch wie bei Bankkonten. Wo ist da ein „Coin“?

Ein Coin oder Token ist eigentlich etwas, das man nur einmal benutzt, wie eine Wertmarke oder ein Busticket für eine einfache Fahrt. Das Ticket wird erstellt, wird gekauft, genutzt und abgestempelt, Müll. Deswegen hat es keine Historie, ich kann also nicht rekonstruieren, wann derselbe Nutzer welche Fahrten gemacht hat. Das Ticket ist ein Token. Und wenn ich die beiden grundlegenden Ereignisse – Erstellung des Tokens, Entwertung des Tokens – nicht miteinander verknüpfen kann, dann handelt es sich um ein anonymes Token. Dieses Token ist datensparsam und datenschutzfreundlich, weil keine Profilbildung möglich ist.

Das ist bei Bitcoin nicht der Fall, bei Taler schon. Taler ist eine digitale Münze, die ich nur einmal ausgeben kann. Beim Taler-Bezahlsystem sind die Signaturen mit dem Token verbunden und nicht mit der Wallet und es kann keine Transaktionshistorie gebildet werden. So kommt der Datenschutz bei Taler zustande. Die Transaktionshistorie jedes Taler-Coins ist im Grunde: wurde ausgestellt, wurde verwendet, Ende. Und die beiden Ereignisse können nicht miteinander verknüpft werden. Es ist dadurch kryptografisch unmöglich, die Identität des Kunden, der das E-Geld abgehoben hat, mit dem Bezahlvorgang zu verbinden. Das ist ganz anders als beim kontenbasierten Bitcoin-System oder den anderen Cryptocurrencies, die auch fast alle de facto kontenbasiert sind.

Und was ist das Problem bei kontenbasierten Systemen?

Bei diesen kontenbasierten Systemen habe ich keinen guten Datenschutz. Wenn ich als Privatperson Datenschutz will, ist es immer möglich, dass ich einen kleinen Fehler begehe und jemand aufgrund meiner Transaktionen ein Bild zusammenträgt und sagen kann, „das Konto gehört Christian“. Dann ist bei einer Blockchain auf einmal meine gesamte Transaktionshistorie öffentlich einsehbar. Aber ohne diese Fehler kann es ebenfalls sein, dass ein Krimineller seine Transaktionen erfolgreich vor dem Staat verstecken kann. Dann wird das Bezahlsystem zum Vehikel für Kriminelle. Bitcoin hat also zu wenig und zu viel Anonymität: Man kann sich weder sicher sein, dass Transaktionsdaten geschützt sind, noch dass der Staat bei Bedarf Transaktionen nachvollziehen kann.

Also: Ein Token hat keine Historie, ein Konto hat einen Wert aufgrund seiner Historie. Das Token kann ich besitzen, es befindet sich unter meiner Kontrolle, während ein Konto etwas ist, was jemand anderes für mich verwahrt und verwaltet. Diese Instanz verwaltet die Liste der Bestände der Konten und ist dafür zuständig, dass mir Beträge gutgeschrieben werden oder Ausgaben abgezogen werden. Das ist auch bei Bitcoin der Fall: Wenn ich Bitcoin nutzen möchte, muss ich mit den Minern verhandeln, dass sie meine Transaktion in die Blockchain eintragen. Dafür muss ich ihnen Gebühren zahlen. Und wenn sie meine Transaktion nicht annehmen, dann wird sie nicht durchgeführt.

Ist der Unterschied, dass beim Taler-System die Keys mit dem Coin verbunden sind und bei Bitcoin mit der Wallet?

Bei Bitcoin gibt es primär den Account-Key, durch den ich die Berechtigung habe, auf die bisher noch nicht ausgegebenen Beträge zuzugreifen. Bei Taler habe ich den Token- oder Coin-Key, der mich dazu berechtigt, die Münze auszugeben. Kryptografische Schlüssel sowie eine Wallet, in der sich Geld befindet, die auf meinem Computer liegen sollte, haben wir in beiden Systemen.

In der Praxis haben ja die wenigsten Leute ihre Bitcoin in einem eigenen Wallet auf ihrem Computer. Die meisten nutzen irgendwelche Anbieter, die ihre Kryptowerte für sie verwalten. Wenn diese Anbieter pleitegehen oder gehackt werden, was ja nicht so selten passiert, dann sind die Bitcoins häufig verloren.

Der wichtigste Unterschied zwischen Taler und Bitcoin ist aber, dass bei Taler die ausgestellten Token nur deswegen einen Wert haben, weil ein regulierter Finanzdienstleister sagt bzw. verbürgt, dieser Token ist einen Euro wert. Er könnte aber auch sagen, dass er eine Feinunze Gold oder einen Schweizer Franken oder auch einen Bitcoin wert ist. Wir nehmen bestehende Assets, bestehende Ressourcen, und digitalisieren bzw. tokenisieren sie. Taler ist nur ein Bezahlsystem, es ist keine eigene Währung und will auch keine sein. Bitcoin hingegen möchte Geldpolitik machen, indem es einen konkurrierenden Mechanismus etabliert, wie und wieviel Geld erzeugt wird. Bitcoin ist 2008 unter anderem damit angetreten, die etablierte Geldpolitik zu kritisieren und eine Alternative zu etablieren. An die Stelle der alten soll eine sehr strikte algorithmische Geldpolitik treten. Klar, kann man über die Geldpolitik im Allgemeinen und über das, was Zentralbanken genau machen, streiten; aber das, was sich ein paar Programmierer ausgedacht haben, die von niemandem gewählt wurden und von Ökonomie häufig keine Ahnung haben, soll besser sein? Die Regeln, die sie sich irgendwann mal ausgedacht haben, sollen für immer gelten und unveränderlich sein? Sind die unfehlbar?

Inwiefern sind diese Regeln problematisch?

Bitcoin schlägt eine vermeintlich einfache Lösung für ein komplexes Problem vor: Unsere Geldpolitik soll darin bestehen, dass wir alle x Jahre ein „Halving“ durchführen, also die Belohnung für die Miner halbieren, sodass weniger Bitcoin in Umlauf gebracht werden, und die absolute Geldmenge deckeln wir auf knapp 21 Mio. Bitcoin, d.h. irgendwann werden gar keine neuen Bitcoins mehr erzeugt.

Vermutlich würde kaum jemand bestreiten, dass die Geldpolitik immer an die realwirtschaftliche Lage angepasst werden sollte: Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, sollte Geldpolitik dieses Problem adressieren, wenn volkswirtschaftliche Ressourcen nicht genutzt werden, sollte die Konjunktur angekurbelt werden und wenn die knapp sind, sollte die Konjunktur gedrosselt werden, damit die Preise nicht explodieren. Geldpolitik verfolgt durchaus politische Ziele: Ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wichtiger oder die Geldwertstabilität? Die Prioritäten können wir politisch debattieren, aber Bitcoin sagt einfach: „Uns interessiert die Realwirtschaft nicht. Wir machen eine fixe Geldpolitik, die wir vor 16 Jahren festgelegt haben. Und die ist automatisch besser als das, was Ökonomen sagen oder was politisch ausgehandelt wird.“

Wir haben es da mit einem Problem zu tun, das keine einfache Lösung hat. Wir können da eigentlich nur manövrieren und versuchen, gesellschaftlich tragfähige Lösungen auszuhandeln.

Wie andere Kritiker des Bitcoin bzw. der Blockchain-Technologien kritisieren sie deren Energiehunger, der beim Proof-of-Work-Verfahren extrem ist. In der Diskussion ist das Proof-of-Stake-Verfahren, das den Energiehunger deutlich senkt. Wie sehen Sie das?

Wenn ich annehme, dass Bitcoin mit Proof-of-Work ein kohlegetriebener Panzer ist, dann ist Proof-of-Stake ein SUV – also deutlich weniger Energieverbrauch, aber bei weitem noch nicht das Transportmittel, das wir in Zukunft brauchen. Um im Bild zu bleiben: Wir haben bisher in einer Welt gelebt, in der alle Fahrrad gefahren sind, wir müssten aber zu Fußgängern werden.

Auch Proof-of-Stake ist immer noch tausendmal ineffizienter als das traditionelle Bankensystem. Warum? Beispielsweise findet bei der Ethereum-Blockchain, die Proof-of-Stake anwendet, kein Mining mehr statt, also diese absolut sinnlose Verschwendung von Rechenleistung. Da wird eine Zahl geraten und immer wieder geraten, bis der erste Miner sie erraten hat. Die gesamte Rechenleistung und die Energie, die dafür aufgewendet wurde, sind verschwendet. Und wofür? Damit die Blockchain um ein paar Transaktionen verlängert wird. Die Rechenleistung wird nicht aufgewendet, um Klimaszenarien zu errechnen oder um Forschung zu betreiben, noch nicht einmal, um ein schönes KI-Bild zu rendern. 99,99 Prozent der Energie wird sinnlos verfeuert.

Proof-of-Stake ist ein anderer Konsensmechanismus, um zu bestimmen, wer die Blockchain verlängern darf. Wir führen jetzt nicht mehr diese sinnlosen Rechnungen durch. Gut. Aber wer darf dann Blöcke hinzufügen? Die, die einen bestimmten Stake der Währung, also einen bestimmten Anteil haben, also die Reichen. Weil sie zu denen gehören, die am meisten haben, dürfen sie Gebühren dafür kassieren, dass sie die Blockchain verlängern. Im Wesentlichen ist Proof-of-Stake also ein Algorithmus, der sagt, die Reichen werden automatisch reicher. Dieses Verfahren hat zwei Probleme: Es verschwendet immer noch unnötig viel Energie, weil die etwa 100.000 Validatoren, die prüfen und validieren sollen, die Transaktionen sehen müssen. Die Zahl wechselt, aber, wenn wir sagen, es sind grob so 100.000, dann brauche ich 100.000-mal die Bandbreite und muss 100.000-mal die Berechnung durchführen. Diese Bandbreite wird tatsächlich für die Validierung der Transaktionen genutzt, aber im Vergleich zu einer Transaktion im traditionellen Bankensystem ist Proof-of-Stake sehr grob gesprochen um den Faktor 1000 langsamer.

Im traditionellen Bankensystem wird die Transaktion von der Bank geprüft, vielleicht auch von der Bank des Empfängers der Transaktion und weiteren Institutionen, aber es sind insgesamt eher wenige Parteien involviert. Diese erstellen zwar auch ein paar kryptografische Signaturen und machen ein paar Datenbankeinträge, aber es sind nicht 100.000 Parteien. Es sind drei, vier oder fünf, bei internationalen Transaktionen vielleicht zehn Parteien.

Proof-of-Stake macht die Reichen reicher?

Genau, Proof-of-Stake ist plutokratisch, denn um mitentscheiden zu können muss ich nachweisen, dass ich einen Stake habe, dass ich also bereits viel Ether besitze, das ist die Währung von Ethereum. Dann darf ich mitmachen und mitverdienen. Das kennen wir aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit: Die Banker waren reiche Leute, die Banknoten herausgegeben haben. Die haben nicht viel mit unseren heutigen Banknoten zu tun, die von der Zentralbank ausgestellt werden, sondern es waren Scheine, die auf eine bestimmte Bank gelautet haben. Diese Altcoins, die Coins, die es neben Bitcoin gibt, sind eine Neuauflage dieses vormodernen Systems. Auch sie sagen: „Ich bin reich, Du kannst mir vertrauen, nimm meine Währung.“ Wie die vormodernen Bankiers, setzen sie ihre eigenen Zinssätze bzw. verlangen Gebühren und kassieren dann. Der Unterschied ist, dass heute jeder seine eigene Cryptocurrency erzeugen kann. Die meisten davon sind wertlos und die, die nicht wertlos sind, sind die, die Geld für Marketing haben. Proof-of-Stake will also zu Verhältnissen zurück, die wir im 16., 17. und 18. Jahrhundert hatten, als wir Privatbanken hatten, die ihr Privatgeld herausgegeben haben.

Redaktionelle Notiz: Im zweiten Teil des Interviews, der am 23. September erscheint, geht es um Christian Grothoffs Kritik am Digitalen Euro und inwiefern das Taler-System bzw. ein token-basierter Ansatz Abhilfe schaffen könnte.

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Akzentfarbe: gelb Autor: Laura Grosser eFin-Blog Farbe: gelb

Maut – Digitales Bezahlen bei Reisen im Ausland

Maut – Digitales Bezahlen im Ausland

Ein Beitrag von Laura Grosser

26. August 2024

Sommerzeit ist Reisezeit – und das nicht nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus, Bahn und Flugzeug, sondern häufig mit eigener oder gemieteter Motorisierung. Ob mit dem eigenen PKW (mit oder ohne Wohnwagen), Camper oder Motorrad, viele legen gerade in den Sommermonaten im In- und Ausland weite Strecken zurück in Gegenden, die sie für gewöhnlich nicht durchqueren. Dabei ist man nicht immer gebührenfrei auf den Straßen unterwegs: In bestimmten Autobahnabschnitten und Durchgangsstraßen, über manche Brücken und Pässe oder in gewissen Stadtteilen werden Mautgebühren verlangt. In insgesamt 24 Ländern Europas gibt es streckenabhängige Mauten, Vignettenpflicht und/ oder Sondermauten für Tunnel, Pässe oder Brücken. Das ist nichts Neues, übersichtlich kann man sich beispielsweise auf der Seite des ADAC informieren – und auch viele (digitale) Ländervignetten kaufen.1https://www.adac.de/reise-freizeit/maut-vignette/

Eine Straße windet sich durch eine Berglandschaft. Auf der rechten Fahrbahn erscheint eine Preisangabe von 50 Euro, Kronen oder anderem

Doch von Sommerurlaub zu Sommerurlaub fiel mir auf, dass sich die Bezahlweisen dieser Straßengebühren ändern. Mit Personal ausgestattete Mautstellen sieht man immer seltener, viele Mauthäuschen bleiben dauerhaft geschlossen. An manchen Stellen ist es unmöglich, die Gebühren bar zu entrichten. An anderen sind nur zwei von zehn dieser Stellen darauf ausgerichtet, lange Schlangen bilden sich vor ihnen. Den Nummernschildern entnehme ich, dass es vor allem Urlauber sind, die sich hier einreihen. Ob sie wohl auf Nummer sicher gehen wollen, dass der Bezahlvorgang funktioniert? Oder sehen sie sich lieber einem menschlichen Ansprechpartner gegenüber? Ein anderer Grund mag sein, dass sie nicht mehr Daten als nötig von sich übermitteln möchten. Alle anderen Bezahlmöglichkeiten sind maschinengestützt – mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen.

Die Vignette

Die Vignette ist die datenfreie Variante. Man klebt sie ans Auto, egal ob Privat- oder Mietwagen, es gibt keine Registrierung des Kennzeichens, keinen Vertrag. An Raststätten lässt sich gar bar bezahlen. Erst durch ihre Bestellung im Internet oder Kartenzahlung fallen Daten an. Allerdings wird sie mehr und mehr von ihrer digitalen Version abgelöst: die E-Vignette ist elektronisch mit dem Kennzeichen verknüpft. In der Schweiz kann man seit Februar 2024 so auch übers Internet direkt eine Vignette lösen, mit vorab 1,6 Millionen verkauften zeigt sich ein starker Trend.2https://www.blick.ch/wirtschaft/stichtag-am-1-februar-bereits-1-6-millionen-e-vignetten-im-umlauf-das-musst-du-wissen-id19372835.html

Die EC- oder Kreditkarte am Schalter

An Mautstellen wird gerade von Reisenden aus dem Ausland die Möglichkeit, mit EC- oder Kreditkarte zu bezahlen, nach der Barzahlung am häufigsten genutzt, wie ich der Einreihung in Schlangen vor Mautstellen beispielsweise in Frankreich entnehme. Wie bei jeder Kartenzahlung werden dadurch Daten generiert und übertragen, sodass nachverfolgbar ist, mit wessen Karte wann wo welcher Betrag gezahlt wurde. Welches spezifische Auto die Mautstrecke passiert, wird nicht registriert, nur Gewicht und Größe spielen für die Erhebung der Höhe der Maut eine Rolle. Von Vorteil ist das schnellere Prozedere. Bargeld in der jeweiligen Landeswährung muss nicht mit sich geführt werden, die Abbuchungen können auf dem eigenen Konto kontrolliert werden. Wird die Karte aber nicht angenommen, steht man vor einem Problem: wie aus der Schlange herauskommen und wen um Hilfe bitten?

Die Mautbox

Hat man eine Mautbox im Auto, die lediglich zur Erkennung gescannt wird, geht es noch schneller. Die Schranke öffnet sich bereits beim Anrollen. Und ebenso automatisiert werden die Gebühren abgebucht. Die Schnelligkeit der Durchfahrt wird allerdings auch mit Daten bezahlt: Es gibt eine Aufstellung, wo man wann auf Mautstrecken gefahren ist, das Kennzeichen des eigenen Fahrzeugs oder von mehreren, auch Mietwagen, werden registriert, und man muss seine Mailadresse, Kontodaten und Anschrift zur Versendung der Mautbox angeben. Zudem muss ein sich automatisch verlängernder Jahresvertrag abgeschlossen werden. Mautboxzwang gibt es für reisende Urlauber in kleinen Fahrzeugen nirgends, es bleibt eine Option (anders für LKW oder vergleichbar große Urlaubsgefährte).

ANPR-Kameras – Bezahlen im Internet oder über Apps

In meinem Norwegenurlaub habe ich im großen Stil eine neue Erfahrung gemacht: Überall wimmelt es  von ANPR-Kameras. Nicht nur auf Autobahnen, auch auf kleineren Landstraßen, Fähren und auf Parkplätzen. ANPR steht für „Automatic Number Plate Recognition“ – die Kennzeichen werden gescannt und somit registriert, wer wann welche Straße nimmt, welche Fähre man nimmt oder wo man parkt. An den großen Fährstationen mit Vorabbuchung wurde ich so von den Kontrolleuren bereits mit Namen gegrüßt. Denn schon bei der Anfahrt sind für sie im Kontrollhäuschen alle relevanten Daten einsehbar.

Die dadurch beschleunigten Abläufe sind mir durchaus willkommen, ein seltsameres Gefühl kommt auf, wenn man auf einen Parkplatz einbiegt und sogleich auf einer großen Anzeige mit Kennzeichen – also immerhin nicht mit Namen – begrüßt wird. Sofort weiß man: Ich bin registriert, der Parkplatz wird überwacht. Und: die Gebühren werden auf jeden Fall eingetrieben. Aber wie? Nicht immer ist es möglich, mit Bargeld an einem Automaten zu bezahlen. Ich hatte auch schon die leidige Erfahrung, gemeinsam mit Urlaubern aus einem anderen Land vor einem Automaten zu verzweifeln, da zunächst keine unserer Karten angenommen wurde. Was passiert, wenn man wegfährt, ohne, dass man bezahlen konnte? Die Kameras hatten das Kennzeichen registriert, wie sich den Bildschirmen bei der Einfahrt entnehmen ließ, bezahlen muss man unweigerlich. Doch wie hoch die Strafe ausfallen würde, konnte man keinem Schild entnehmen. Ebensowenig, ab wann eine Gebühr anfällt – bereits wenn man eine Runde über den Parkplatz dreht, sich aber doch umentscheidet oder schlicht keinen geeigneten Platz für sein Wohnmobil findet? In meinem Urlaub ist alles nochmal gut gegangen, aber es bauten sich Hemmungen auf, mit ANPR-Technologien operierende Parkplätze anzusteuern.

Zumindest, wenn man sich nicht auf den verknüpften Apps angemeldet hat. Diese können von Parkplatzbetreiber zu Parkplatzbetreiber variieren, sodass sich am Ende des Urlaubs eine Unzahl an Apps anhäufen kann, die Kennzeichen und Kreditkarte zur automatischen Abbuchung der Gebühren hinterlegt haben. Was aber die Straßen- und Fährgebühren in Norwegen und Schweden betrifft, stellte diese Bezahlweise einen Segen für einen entspannten Urlaub dar: Über die App Epass24 werden alle Gebühren bezahlt. Sind Kennzeichen und Kreditkarte einmal hinterlegt, wird die Maut einmal monatlich abgebucht. Auf den ersten Blick schlicht und einfach, auf den zweiten frage ich mich: Wo habe ich überhaupt in welcher Höhe für Überfahrten, Brückenüberquerungen und Straßennutzungen zahlen müssen? Denn es wird nur ein Gesamtbetrag am Ende abgebucht, nur die Fährkosten werden separat gelistet, aber ebenfalls nicht aufgeschlüsselt. Für wen ist es allerdings wie lange einseh- und rückverfolgbar? Welche Daten werden an wen übermittelt? Schließlich hat Epass24 neben Kennzeichen, Bezahlinformationen und Gebührenauflistung auch Name und Adresse, E-Mail-Adresse sowie Fahrzeugmodell und bei Verstößen gegen die Verkehrsordnung auch Fotos. Verschiedene Mautbetreiber nutzen die Dienste von Epass24, 3https://www.epass24.com/de/the-toll-operators/ die Daten werden auch zu Analysezwecken genutzt. Natürlich räumt Epass24 das zustehende Recht ein, die persönlichen Daten einzusehen und zu löschen, scheint sie aber so lange wie möglich zu speichern.4 https://www.epass24.com/data-protection-policy/ Entziehen kann man sich der Datenerhebung nicht, wenn man in Ländern wie Norwegen im Urlaub unterwegs ist.

Die Maut der Zukunft

Die Digitalisierung des Bezahlvorgangs von Mautgebühren ist so immer weiter auf dem Vormarsch. Die Fragen des Datenschutzes und der Transparenz sollten allerdings lauter gestellt werden, gerade weil man sich diesem Trend immer weniger entziehen kann. Mit Personal besetzte Mautstellen werden seltener, da sie einen Kostenfaktor darstellen, den Verkehr verlangsamen und Staus verursachen. Es ist nachvollziehbar, dass es sich wirtschaftlich und infrastrukturell lohnt, die Gebührenzahlung zu digitalisieren. Die Online-Registrierung der Fahrzeugtypen hat auch den Vorteil, dass Gebühren individuell angepasst werden können. Nicht nur die Kategorisierung in Motorrad, PKW, Bus und LKW kann hier wie bislang entscheidend sein, auf manchen Strecken oder Parkplätzen müssen Elektrofahrzeuge oder mit Wasserstoff betriebene Autos sowie PKW mit besonders niedrigen Emissionen keine Gebühren bezahlen. So können auch politische Interventionen und Fördermaßnahmen durch die Digitalisierung des Mautwesens leichter durchgeführt werden. Die Zukunft des Entrichtens von Mautgebühren liegt definitiv in digitalen Bezahlvorgängen.

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Autor: Sebastian Gießmann eFin-Blog Farbe: gelb

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Die erste App: kleine Geschichte der Kreditkarte

Ein Beitrag von Sebastian Gießmann

25. Juli 2024

Die Kreditkarte ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Sie gehört zum Erbe der US-amerikanischen Konsumkultur und der „dreißig glorreichen Jahre“ des westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber trotz neuer Finanztechnologien im mobilen digitalen Bezahlen bleibt sie weltweit das führende Zahlungsmittel.

Alte Kreditkarten und neue Apps mischen sich dabei auf paradoxe Weise: Sechs Jahre nach dem Start von Apple Pay als smartphone-basiertem Bezahldienst bot Apple 2020 in Zusammenarbeit mit Goldman Sachs eine eigene physische Kreditkarte an. Nun mit einem Smartphone-Wallet gekoppelt, löste sie eine Neugestaltung der bestehenden Plastikkarten aus. Die schon länger obsolete, leichte Erhöhung der persönlichen Daten, die einst durch Papierabdruck die Nutzung von Kreditkarten per Formulardurchschlag erlaubt hatte, ist verschwunden. Das soziale Prestige der Kartennutzer:in äußert sich jetzt weniger darin, mit ihrem guten Namen zu bezahlen, sondern in den Werten der Walletdaten auf ihrem mobilen Bildschirm. Namen, Kreditkartennummer und weitere persönliche Daten sind in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Rückseite der Karten gewandert. Nach der Covid-19-Pandemie ist zudem die persönliche Unterschrift auf Rechnungen deutlich seltener geworden.

Mit dem Wechsel im Kartendesign reagiert die Banken- und Kreditkartenindustrie auf die von Big Tech gesetzten Maßstäbe im digitalen Bezahlen. Aber kann sie mit den nicht-westlichen Innovationsdynamiken von Finanztechnologien noch Schritt halten? Chinesische Unternehmen wie Alibaba und Tencent haben die bank-basierte Kartenform des digitalen Bezahlens durch app-basierte Dienste übersprungen. Vergleichbares gilt für die Entwicklung des mobilen Bezahlens in afrikanischen Ländern. Warum aber halten sich Kreditkarten trotzdem hartnäckig als Bezahlmittel und Geschäftsmodell, das sogar neue Allianzen mit der Welt der Krypto-Assets eingehen kann?

Charge it! Kredit, Überwachung und Konsum

Eine Antwort darauf liegt in der wechselhaften und immer wieder überraschenden Medien- und Sozialgeschichte des Kredits in den USA. Die Praktiken des gegenseitigen Einräumens und Einforderns von Kredit waren – und sind –konstitutiv für alltägliche Ökonomien und Big Business zugleich. Die auf indigenen Territorien im 19. Jahrhundert vollzogene geografische Expansion der USA war durch Bargeldmangel und die Absenz einer Zentralbank gekennzeichnet. Der ökonomische Austausch über große Distanzen erforderte wechselseitiges Vertrauen an der frontier ebenso wie in den rasant wachsenden Städten. Seit den 1840er Jahren boten sich Agenturen zur Überprüfung von Kreditwürdigkeit als vertrauensschaffende Vermittler an. Ein weitreichendes Netzwerk von Korrespondent:innen ermöglichte den Mercantile Agencies die private Überwachung wirtschaftlicher Aktivitäten.  Zunächst auf professionelle Akteur:innen beschränkt, klassifizierten und bewerteten Auskunfteien ab den 1870er Jahren in den großen Städten die Kreditwürdigkeit von Kund:innen.

Ab 1914 setzte Western Union für die Abrechnung von Telegrammen charge cards ein, die auf einem kleinen rechteckigen Stück Papier die Kontonummer, den Namen, die Adresse der jeweiligen Firma oder Person und ein Unterschriftsfeld enthielten. Auf dieser administrativen Basis setzte eine grundlegende Erweiterung der Kreditfähigkeit von Einzelpersonen durch neue Bezahlmedien nach dem Ersten Weltkrieg ein. In den 1920er Jahren wurde es in den USA erstmals möglich, gesammelte Schulden an andere Unternehmer:innen zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausketten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen. In den Kaufhäusern hatten sich credit departments etabliert, die die Kreditwürdigkeit von Kund:innen anhand von karteikarten-basierten Registraturen und persönlichen Interviews systematisch prüften. Die hohe Nachfrage nach Kredit für größere Anschaffungen, darunter Automobile und Schallplattenspieler, und rechtlich abgesicherten persönlichen Krediten traf auf das neue Kaufen und Verkaufen von angesammelten Schulden im Finanzsystem.

Kundenkarten erleichterten die Registrierung und Identifizierung der Konsument:innen. Neben der entsprechenden Buch- und Karteiführung beinhalteten diese ein spezielles Format, die sogenannten charge-a-plates oder charge plates. Sie ermöglichten basale Zahlungspraktiken in Kaufhäusern, Tankstellen und Hotels wie etwa die um bis zu 30 Tage verspätete Zahlung bei bewährten, ‚guten‘ Kundenbeziehungen. Die Zahlung mit den ab 1928 genutzten charge plates – oder mit den verwandten, älteren charge coins – war einerseits eine Angelegenheit des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits korrespondierte jede Karte mit einem lokalen Kundenkonto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv zur Personalisierung der Karten beitrugen.

Der „Fresno Drop“: Plastik für alle

Privaten Konsum mit aufgeschobenen Zahlungen und Schulden zu verbinden, wurde so zur weit verbreiteten neuen Praxis. Die bisherige Skepsis gegenüber persönlichem Kredit verflüchtigte sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg fragte insbesondere die weiße amerikanische Mittelschicht, als die Kriegsersparnisse aufgebraucht waren, intensiv neue Kredite nach. Die Finanz- und Immobilienindustrie (finance and real estate, kurz: FIRE) antwortete in den 1950er Jahren mit einer Vielzahl von neuen Angeboten, die die bereits akzeptierte Finanzierung von Käufen auf Kredit noch mehr zum Normalfall machten. Als ‚erste‘ Kreditkartenfirma dieser neuen Konsumwelten gilt nach wie vor Diners‘ Club. Zu ihrer Gründung 1949/1950 offerierte sie bequemes monatliches Bezahlen der bei Geschäftsessen in New York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners‘ Club zunächst kein Medium aus Metall oder Plastik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants.Die historischen Schreibweisen variieren. In den Gründungsjahren war Diners‘ Club üblich, später Diners Club (International).

Beim Material herrschte zunächst Vielfalt: Metallene charge cards, Karten auf Celluloid-Basis oder gedruckte Diners-Club-Ausweise waren üblich. Ölfirmen begannen Mitte der 1950er Jahre, ihrerseits charge cards auf Plastikbasis auszugeben. Ab 1958 bot die Bank of America mit der BankAmericard erstmals Plastikkarten an; 1959 folgte American Express. Der wichtigste Markttest erfolgte im September 1958 durch die Bank of America in der kalifornischen Stadt Fresno. Er ist als „Fresno Drop“ bekannt geworden. Nach einem initialen Massenmailing fanden 65.000 Haushalte unaufgefordert Plastikkarten für einen Bank of America charge account plan in ihren Briefkästen. Die Karte erlaubte ihren Nutzer:innen den Erwerb von Waren in anfänglich 300 kleineren Geschäften in und um Fresno. Einmal im Monat erhielten Kund:innen eine Rechnung, die entweder ohne Zinsen im vollem Umfang zu bezahlen war oder aber bei einer jährlichen Zinsrate von 18 Prozent später beglichen werden konnte. Trotz hoher Anfangsverluste gelang der Bank of America der Aufbau eines nationalen Franchise-Systems. Im Gegensatz zum Diners Club setzte es weniger auf Exklusivität denn auf Zugänglichkeit für die Mittel- und Unterschichten. Mit der 1977 erfolgten Umbenennung der BankAmericard in „Visa“ wurde die Internationalisierung des Bezahlens per Kreditkarte zum strategischen Programm.

Karten, Terminals und Großrechner: der globale Aufstieg von Visa und Mastercard

Als größter Wettbewerber der BankAmericard etablierte sich ab 1966 die Interbank Card Association. Die beteiligten Banken gründeten ihren Verbund in Reaktion auf die landesweite Lizensierung von BankAmericards. Interbank vereinte eine Vielzahl regionaler Zusammenschlüsse kleinerer und mittelgroßer Banken, die selbstbewusst mit dem Slogan „Join the revolution: Be a card carrying capitalist“ warben. 1969 ersetzte der Markenname Master Charge das kaum wiedererkennbare Logo der Interbank. Auf die Internationalisierung von Visa hin folgte 1979 die Umbenennung in MasterCard. Hatten sich Visa und Mastercard in ihrer Organisationsstruktur und -kultur zunächst stark unterschieden, wurden diese Differenzen durch den Wettbewerb der 1970er Jahre fast aufgehoben. So kam es in den 1980er Jahren zwei Mal zu Gedankenspielen, beide Firmen zu fusionieren, zumal sie vergleichbare digitale Infrastrukturen aufgebaut hatten.

Tatsächlich war der rasante Aufstieg der amerikanischen Kreditkarte zu globaler Hegemonie untrennbar mit Computern verbunden, die den schnellen mobilen Kredit verwalt- und prozessierbar machten. Schon die Ausgabe der ersten personalisierten BankAmericards 1958 wäre ohne die Nutzung von IBM-Rechnern, Lochkarten, einer Kartenprägemaschine namens Databosser und der Software Electronic Recording Machine-Accounting (ERMA) des Stanford Research Institute nicht möglich gewesen. Die Massenmailings der 1960er Jahre provozierten einen massiven Ausbau computer- und telefonbasierter Infrastrukturen, der mit den wilden Nutzungs- und Betrugspraktiken kaum Schritt halten konnte. „In a rush to get their plastic into the air, banks randomly fired off credit cards. Computers – key to controlling them – are still trying to catch up“, bilanzierte ein LIFE-Artikel im März 1970. Gebändigt wurde die Vielzahl an konkurrierenden Bezahlangeboten ab 1971 durch eine von Bank- und Computerindustrie gemeinsam betriebene Standardisierung.

1971 – der Anfang von etwas, das mittlerweile bestimmt werden kann

Die ersten Kreditkartenangebote europäischer Banken ab 1964 waren Teil des Wohlstandswachstums, der die westlichen Industriestaaten zwischen 1945 und 1975 prägte. Für Demokratiefragen des digitalisierten Finanzsektors sind aber nicht nur die berühmten trente glorieuses des Kapitalismus entscheidend. Die erste technische Standardisierung des Kreditkartenformats samt Magnetstreifen wurde just in jenem Jahr 1971 vorgenommen, in dem US-Präsident Richard Nixon per Fernsehansprache am 15. August die Aufgabe der Goldbindung des US-Dollars verkündete. Eine grundsätzliche Deckung von Geld, Währung und Kredit durch den Wert physischer Objekte ist seitdem nicht mehr gegeben. Diese muss nun jeweils durch vernetzte Buchhaltung neu geschaffen werden. So entwickelte sich der Kapitalismus durch digitale Infrastrukturen weiter, in denen Kredit qua Tastendruck in computerbasierter Buchhaltung gewährt wird. Neoliberale (und libertäre) Ideologien trieben diese beispiellose Finanzialisierung aller Lebensumstände, die noch die kleinste Transaktion im digitalen Bezahlen durchdringt, weiter voran.

Obwohl glamouröse Kreditkartenwerbung und Sticker an Ladengeschäften seit den 1960er Jahren etwas anderes suggerierten, etablierte sich die Kreditkarte bei den US-amerikanischen Mittel- und Unterschichten in einer Zeit ökonomischer Krisen. Die 1970er und noch die beginnenden 1980er Jahre waren durch ernste Rezessionen wie die Ölkrise und Stagflation gekennzeichnet. Unter Jimmy Carters Regierung, die Konsument:innenkredite begrenzen wollte, um die Inflation im Zaum zu halten, führte dies zu teils absurden Szenen. So trat der Präsident von Mastercard Russell Hogg 1980 in Werbespots auf, in denen er das Fernsehpublikum dazu aufforderte, seine Mastercard nur für notwendige Einkäufe und Notfälle zu verwenden.

„Card not present“: Bezahlen im World Wide Web

Die Kreditkarte ist eine der wenigen voll entwickelten digitalen Medien- und Finanztechnologien, die noch vor der allgemeinen Verfügbarkeit des Internets weltweit nutzbar wurde. In den 1980er Jahren prägten Plastikkarten die Konsum- und Medienkulturen im Globalen Norden. Visa und Mastercard etablierten ein ökonomisch ertragreiches, weltweites Duopol, sichtbar durch ihr Sponsoring globaler Sportereignisse, das ihnen vor allem im Fernsehen eine bis heute ungebrochene Präsenz verschafft. Parallel dazu entwickelten Europa und Japan eigene Zahlungssysteme wie die Eurocard und JCB, die der US-Hegemonie entgegen treten sollten und zumindest in den 1980er und 1990er Jahren durchaus erfolgreich waren.

Die physische Präsenz von Kredit- und Debitkarten stellte deren angenommenen Normalfall im 20. Jahrhundert dar: Plastikkarte, Magnetstreifen und Chips waren primär für die Offline-Interaktion im digitalisierten Handel entwickelt worden. Mit der telefonischen Nutzung hatte sich in den 1980er Jahren aber eine – durchaus betrugslastige – Praxis entwickelt, bei der Karte und Daten nicht vor Ort physisch präsent sein mussten. Eines der ersten Amazon-Patente, mit denen Jeff Bezos 1995 verlässliches Bezahlen in unsicheren Umgebungen absichern wollte, beinhaltete daher ein Konzept zur Nutzung von Telefonen für die Übermittlung von Kreditkartennummern im World Wide Web.

Das öffentlich zugängliche, den Wissenschaften entwachsende Internet traf nach 1990 auf die neue politisch-ökonomische Weltordnung. Sie zeichnete sich durch ihre stetige Globalisierung und offene Märkte aus. Gegenüber den gerade entstehenden Konzepten zum digital cash bot sich die Kreditkarte ganz praktisch zum Einsatz im eCommerce des World Wide Webs an. Die amerikanische Kreditkarte war in dieser Situation zu ihrem eigenen Vorteil schon da und wahrte so gegenüber den aufkommenden Debitkarten ihre Bedeutung. Mittels der Kombination einer älteren digitalen Technologie und des WWWs etablierte sich ein Medienverbund, in dem Visa und Mastercard als Plattformunternehmen und Fintechs avant la lettre fungieren konnten. Dies ermöglichte ihre Ausbreitung in immer mehr Märkte und Gesellschaften. Konsumorientierte Mittelschichten fragten schnelle Kredite und Zahlungen nach, ob nun in Brasilien oder im ehemaligen Ostblock – und amerikanisierten sich durch die Adaption neuer Finanzmedien zusehends. Zugleich nutzten die Kreditkartenunternehmen seit Ende der 1980er Jahre den verhaltensorientierten Mehrwert ihrer Transaktionsdaten, was jeder Zahlung einen zusätzlichen ökonomischen Wert verleiht.

Apps & Wallets: Finanzialisierung oder Demokratisierung?

Sollte die Kreditkarte künftig anderen Bezahloptionen weichen, wird dies voraussichtlich durch neue Allianzen von Big Tech und Finanzwirtschaft geschehen. Trotz aller Vorhersagen, das Finanzsystem würde durch Plattformunternehmen gefährlich unter Druck geraten, passt es sich Schritt für Schritt dem technischen Wandel an, den es einst selbst digitalisierend in Gang gesetzt hat. Wer hier neue digitale Praktiken besser antizipiert – seien es kommerzielle Bezahlsysteme wie Apple Pay, Super-Apps à la WeChat oder manche Krypto-Assets mit Bezahlfunktion –, liegt im Wettlauf um die Transaktionsgebühren und Verhaltensdaten einer bargeldlosen Gesellschaft vorn.

Diese Fortschreibung einer schnellen, infrastrukturell abgesicherten Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit für Konsument:innen hat ohne Zweifel ihren Preis. Er betrifft gravierende und weitestgehend unsichtbare soziale Differenzierungen, die anhand von Finanzdaten vorgenommen werden – und somit eine mit den feinen Unterschieden von scores operierende, digitalisierte Klassengesellschaft schaffen. Die Kreditkarte hat sich im 20. Jahrhundert als Lösung für sozioökonomische Fragen des Alltags angeboten, die sie selbst schafft und zugleich verschärft hat. Ihr Versprechen mobiler finanzieller Freiheit übernehmen im 21. Jahrhundert andere Bezahldienste. Hat die erste App damit ausgedient? Mitnichten. Denn die mit der Kreditkarte etablierte Verbindung von Konto, Körper und Person bleibt auch in neuen Apps und Wallets die ökonomische Bedingung unserer sozialen Medien.

Textlizenz: CC BY-SA 4.0

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Autor: Konstantin Schönfelder eFin-Blog Farbe: gelb Uncategorized

„Eigenes Risiko als Gefahr für andere“

„Eigenes Risiko als Gefahr für andere“ – ZEVEDI Citizen Lecture mit Joseph Vogl

Ein Beitrag von Konstantin Schönfelder

11. Juni 2024

Eine „Bestandsaufnahme“ nennt der nun emeritierte Professor Joseph Vogl, von Haus aus Literaturwissenschaftler, seine Analysen über den Finanzmarkt, die er seit 2010 anstrengt, dem Erscheinungsjahr vom „heimlichen Bestseller“1 Das Gespenst des Kapitals. Seitdem ließ er mit Souveränitätseffekt (2015) und zuletzt mit Kapital und Ressentiment (2021) zwei weitere monographische und vieldiskutierte Teile einer düsteren Finanzwirtschaftssaga folgen, die wohl auch nach seiner Emeritierung noch fortgesetzt werden wird. Doch es ist „nur“ eine „Bestandsaufnahme“, wie sich Vogl an jenem Vortragsabend in der Technischen Universität Darmstadt bescheidet, als er im Rahmen der Citizen Lecture „Finanzen, Staat, Digitalisierung & Demokratie“ seinen Beitrag zu „Souveränitätsproblemen im Finanzmarktkapitalismus“ ausführt.2 Vogl entwirft keine spekulative Dystopie, keine (etwa marxistische) Parteinahme, dafür interessiere er sich derzeit nicht sonderlich, sondern eine historisch geleitete Beschreibung von der Entstehung, Expansion und Ermächtigung von Finanzmärkten, die in den letzten Jahrzehnten vor allem von Technologien des Digitalen gepusht wurden, um schließlich in etwas, was Vogl „Plattformkapitalismus“ nennt, zu münden. Die aber zuweilen dystopische Züge annimmt. Aber gehen wir es doch einmal schrittweise durch.

Vogl diagnostiziert der Digitalökonomie, der Finanzindustrie, dem Informationskapitalismus – für ihn alles Synonyme – eine diabolische Lüge im Grunde ihres Wesens. Sie gibt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Denn in Wahrheit ist, laut Vogl, die Finanzindustrie eine machtvolle „vierte Gewalt“, die er auch die monetative Gewalt nennt. In seinem jüngsten Buch hat er dieser ein ganzes Kapitel gewidmet. Diese monetative Gewalt liegt in den unsichtbaren Händen der Finanzregime, die „mehr und mehr staatlichen Ehrgeiz entwickeln“, ohne dabei aber rechtlich gebunden zu sein, wie es andere staatliche Akteure sind. Bei diesen Finanzregimen denkt Vogl vor allem an Plattformen mit „transgouvernementaler Handlungsmacht”3, also an die milliardenschweren Digitalkonzerne Google, Meta und Co., die es in ausgeklügelten Systemen geschafft haben, ihre gewinnbringenden Geschäftsmodelle exponentiell auszuweiten und Haftung in entgegengesetzter Richtung abzustreifen.

Möglich gemacht hat es unter anderem die bis ins Unheimliche gesteigerte Geschwindigkeit der Übertragung von Information. Schon die Zeitung, so leitet es Vogl her, war ursprünglich ein Medium zur Übertragung von Finanznachrichten. Und jene Kaufmänner mit diesem Informationsvorsprung hatten einen Marktvorteil, den sie kapitalisieren konnten. Der gamechanger dahingehend kam durch die Einführung des World Wide Web in den 1990er-Jahren, das Information instantan und massenhaft verfügbar machte. Auswüchse der Finanzindustrie, wie etwa das high frequency trading, sind nur eine logische Folge dieser technologischen Disruption. Die Frage, die sich im Nachhinein damit aufgetan hat, ist: Wie kann man diese nicht rivalisierenden Güter zu Waren machen?

Aus Informationen Waren machen

Mit nicht rivalisierenden Gütern sind jene gemeint, die durch ihren Verbrauch nicht verknappt werden. Benzin wird durch den Verbrauch verknappt, zum Beispiel. Aber Information und Kommunikation wird im Einsatz nur weiter vervielfältigt. Die Antwort, die die Plattformunternehmen darauf gefunden haben, ist, die Daten wie Rohstoffe zu behandeln:

Sie wissen, dass man mit jeder Googlesuche, jedem Tweet oder jeder Bewegung auf sozialen Märkten, Datenrohstoffe produziert. Rohstoffe, die unter der Bedingung stehen, dass man selbst über sie nicht verfügen kann, also dass man digital enteignet wird. Das ist der enorme Gewinn dieser Unternehmen.

Enteignet werden die Nutzenden also dadurch, dass sie bestimmte niedrigschwellige Informationsangebote wahrnehmen – Karten, Datenbanken, Kommunikationsdienste -, aber damit im Gegenzug all ihre angesammelten Daten irgendwo und außer Sichtweite gespeichert, verarbeitet und verkauft werden. Lukrativ ist dieses Geschäftsmodell zunehmend deshalb, da die Datenpakete im Web 2.0 bereits gewinnbringend verbandelt sind. So heißt es in Kapital und Ressentiment:

Unter den technischen Bedingungen des Web 2.0 und der Plattformkommunikationen sollten vielmehr alle Daten, die durch die verfolgbaren Online-Tätigkeiten der gesamten Netzpopulation hervorgebracht werden, als immer schon extrahierte Daten, als Metadaten und somit relationale Objekte begriffen werden, in denen Daten bereits mit Daten korreliert und kollationiert sind und sich zur weiteren Verarbeitung anbieten.4

Nun liegt es nahe, dass die Internetriesen mit dieser selbstwachsenden Saat nicht nur Schnittstellen oder Medien sein wollen, die sich mit Vermittler- und Werbeeinnahmen begnügen. Es geht vielmehr darum, diesen Prozess beschreibt Vogl in der Vorlesung sehr anschaulich, dass sie beginnen, öffentliche Aufgaben zu übernehmen, Infrastrukturen bilden, Krankenhausdienste anbieten etc. Und während die Unternehmen das tun, lancieren sie die These, „und das ist neu […], dass der Kapitalismus, der wirkliche Kapitalismus, keinen Wettbewerb, sondern Monopolisten benötigt.” Diese quasi-staatlichen Akteure mit dem Wunsch, Monopol sein zu dürfen, sind so auch ins Finanzgeschäft vorgedrungen, denn sie haben ja alles, was sie dafür brauchen. Angebote von Bezahldiensten zum Beispiel, neben Investmentfonds und Finanzierungsinstrumenten, gehörten schon seit Längerem zu den „wesentlichen Treibsetzen” amerikanischer und chinesischer Plattformunternehmen. „Sie bieten den Vorzug, dass sie die verlässlichsten Daten zur gezielten Platzierung von Produkten und Werbung liefern und dass sich mit ihnen überdies der dezentrale internationale Zahlungsverkehr zentral überwachen lässt.“ Schon PayPal, so Vogl, sei mit dem Anspruch angetreten, eine Art Internetwährung zu schaffen, um den Dollar im internationalen Zahlungsverkehr zu ersetzen und staatliche Währungsmonopole zu unterlaufen. Und zuletzt hatte Meta versucht, mit Diem (ehemals Libra) eine eigenständige Internetwährung zu gründen, oder wie es Vogl sagt, „private Kontrolle mit para-staatlicher Ausweitung der Konzernmacht zu kombinieren“ – ein Vorhaben, das erst am Einspruch der Federal Reserve Bank gescheitert ist.

Entbunden vom Recht?

Nun scheint an diesem Beispiel ebenso deutlich zu werden, dass diese Plattformakteure nicht gänzlich rechtlich entbunden sind, aber dass sie ein sonderbarer Rechtsstatus kennzeichnet. Vogl rekonstruiert den Moment des Jahres 1996, als im Telecommunications Act, zur Beförderung des Internets, festgelegt wurde, dass die Plattformen für die Daten, die sie zirkulieren, nicht verantwortlich sind. Dieser Ausnahmefall habe uns einen „neuen Kapitalismus beschert“, denn die „Unternehmen machen mit Produkten ihre Geschäfte, die tief in das Soziale, in die Öffentlichkeit hineinwirken, für die diese Unternehmen aber nicht verantwortlich sind.“ Oder kurz: „Nutzer erzeugen, was Konzerne verkaufen.“5

Dies alles berührt das „Souveränitätsproblem des Finanzmarktkapitalismus“ ganz wesentlich. Kurz vor Schluss definiert Vogl schließlich den titelgebenden Begriff seines Vortrags so: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.“ Sollten mit den Gläubigern letzter Instanz die Plattformunternehmen gemeint sein, lohnt es sich, im subversiven Potential dieses Satzes zu lesen. Von der anderen Seite des Plattformunternehmens aus gesehen, den Nutzenden, ist die „Gefahr für andere“, also ebenso die Gefahr für einen selbst, womöglich ein Handlungsspielraum. Die Idee einer sozialen Vernetzung, auch die Vorstellung einer direkten oder indirekten finanziellen Teilhabe an dieser wirtschaftlichen superpower, muss ja keine sonderbar einerseits privatisierte und andrerseits quasi-staatlich-monopolistische Angelegenheit sein, wie es Vogl mit einer für ihn typischen Wortneuschöpfung „Dämonokratie“ ins Wort setzt. Die EU, so bringt Vogl auf Nachfrage das Referat noch einmal auf eine andere Note, versuche ja, diese Entwicklung der Finanzmärkte einzudämmen. Der Digital Markets Act sei etwa ein außergewöhnlich gutes Beispiel. Es gäbe sicher noch andere. Nun wäre das dann allerdings ein anderes Kapitel, vielleicht ja für ein weiteres Buch, und damit die Fortsetzung der Finanzsaga, die sich vor den kritischen Augen von Joseph Vogl und unseren weiter abspielt – mit offenem Ausgang.


  1. Dietmar Hawranek et al.: „Märkte außer Kontrolle“. In: Der Spiegel, 22.08.2011. ↩︎
  2. Joseph Vogl: „Souveränitätsprobleme im Finanzmarktkapitalismus“. Citizen Lecture Finanzen, Staat, Digitalisierung & Demokratie, 27.05.2024, https://tu-darmstadt.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=3df89c29-7164-460b-8aed-b17d0103dc33.  Alle weiteren, nicht ausgewiesenen Zitate oder Belege sind als Wortlaute der Vorlesung entnommen. ↩︎
  3. Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment, C.H. Beck: München 2021, S. 60. ↩︎
  4. Ebd., S. 80. ↩︎
  5. Ebd. ↩︎

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