Fünf Jahre nach dem DeFi Summer: Eine kritische Reflexion zu den Demokratieversprechen der Decentralized-Finance-Industrie
Ein Beitrag von Tara Merk
8. September 2025
Im Sommer 2020 war die Branche plötzlich in aller Munde: Decentralized Finance (DeFi). DeFi bezeichnet ein Ökosystem von Finanzanwendungen, die auf Blockchain-Technologie basieren. Die Idee hinter DeFi ist, traditionelle Finanzdienstleistungen wie Kredite, Handel oder Sparprodukte, ohne Intermediäre wie Banken oder Finanzinstitute, digital für jeden mit einer Internetverbindung zugänglich zu machen. Obwohl viele Organisationen schon seit Jahren an verschiedenen DeFi-Anwendungen arbeiteten, wuchs die Industrie zwischen Juni und Dezember 2020 um mehr als 2000% auf einen Gesamtwert von über 13 Mrd USD.

Gegenläufig ist dagegen die Entwicklung in den USA: Auch wenn DeFi den Großteil seines Wachstums im Sommer 2020 wahrscheinlich seinen lukrativen Gewinnen zu verdanken hatte, wirbt die Industrie (damals wie heute) auch mit nicht-finanziellen Werten. Die zentralen Versprechen vieler DeFi Anwendungen lauten:
- Offener Zugang: Niemand wird ausgeschlossen, auch nicht Menschen ohne Bankkonto.
- Transparenz: Alle Transaktionen sind öffentlich einsehbar.
- Dezentralität: Transaktionen werden ohne zentrale Intermediäre abgewickelt und die Regeln von Protokollen können nicht von einer zentralen Instanz verändert werden
- Partizipation: Nutzer:innen können über die Weiterentwicklung von Protokollen mitbestimmen.
Kurzum: DeFi verspricht die Finanzindustrie zu demokratisieren. Um diese Prinzipien praktisch umzusetzen, haben sich Dezentrale Autonome Organisationen (DAOs) als gängiges Governance-Modell für DeFi-Protokolle etabliert. DAOs sind Organisationsformen, die auf Smart Contracts beruhen. Entscheidungen werden nicht von einem Vorstand oder einer zentralen Instanz gefällt, sondern durch Abstimmungen einer globalen Online-Community. Hierfür schaffen DeFi-Projekte normalerweise sogenannte „Governance-Tokens“ die zunächst an die Wallets der Nutzer:innen des Protokolls verteilt werden und später über dezentrale Handelsplätze (Decentralized Exchanges) frei erworben werden können. In der Theorie sind DAOs ein Mechanismus, um Macht zu dezentralisieren und kollektive Steuerung zu ermöglichen. In der Praxis bedeutet das: Wer einen Governance-Token hält, besitzt ein Stimmrecht und kann über die Zukunft des Protokolls mitentscheiden. Durch DAOs werden in DeFi-Anwendungen Entscheidungen über Änderungen im Code, Gebührenstrukturen oder Risikoparameter gemeinschaftlich durch Tokenholder getroffen. So soll der Finanzsektor durch DeFi nicht nur offener, sondern auch partizipativer und gewissermaßen demokratischer werden. DAOs liegen dabei im Kern des Partizipations- und Demokratisierungsversprechens von DeFi.
DeFi-DAOs: Wie sieht das praktisch aus?
Zwei Beispiele, MakerDAO und UniswapDAO, helfen dabei, den Nutzen von DAOs in DeFi-Protokollen zu veranschaulichen. MakerDAO ist eines der bekanntesten und ältesten DeFi-Projekte. Es verwaltet den Stablecoin DAI, dessen Wert an den US-Dollar gekoppelt ist. DAI wird dezentral generiert, indem Nutzer:innen andere Kryptowährungen als Sicherheit im Maker-Protokoll hinterlegen. DAI kann dann als Zahlungsmittel oder für andere DeFi-Anwendungen genutzt werden. Oftmals wird DAI z.B. in einer Art Sparkonto angelegt, um Zinsen zu verdienen. Entscheidungen über Zinssätze, die Art und Höhe der verlangten Sicherheiten (collateral) für DAI oder technologische Upgrades werden durch die Community von Maker-Governance-Tokenholder getroffen. Um die Umsetzung der Entscheidungen kümmern sich spezialisierte und relativ autonome Teams, sogenannte Core Units. MakerDAO gilt oft als Pioniermodell einer dezentralisierten Finanz-Governance.
Uniswap ist eine dezentrale Handelsplattform für Kryptowährungen, die zu Hochzeiten des DeFi Summer ihren Governance-Token UNI einführte. Auch hier existiert eine DAO, die über die Weiterentwicklung des Protokolls entscheidet. Allerdings ist das eigentliche Handelsprotokoll, also wie einzelne Kryptowährungen gegeneinander getradet werden können, weitgehend automatisiert. Governance spielt vor allem bei der Verteilung von Fördermitteln für Ökosystemprojekte oder der Entwicklung neuer Versionen des Uniswap-Protokolls eine Rolle – weniger bei der unmittelbaren Steuerung des Systems. Dieser Ansatz wird oft als „Governance Minimization“ beschrieben: die Anzahl der Variablen, die durch einen aktiven Governanceprozess verändert werden können, werden bewusst minimal gehalten, um Systeme deterministischer und dadurch zuverlässiger zu machen.
Herausforderungen in DeFi-DAOs
Obwohl es grundsätzlich sinnvoll ist DeFi mit DAOs zu kombinieren, um Dezentralität und Partizipation zu gewährleisten, zeigt die Forschung fünf Jahre nach dem DeFi Summer, dass das Modell auch etliche Herausforderungen birgt – insbesondere was die Demokratisierung der digitalen Finanzwirtschaft betrifft. Abgesehen von vielen offenen rechtlichen Fragen, die eine separate Herausforderung für DeFi-DAOs darstellen, haben DeFi-DAOs intern mit mangelnder Partizipation, steigenden Machtkonzentrationen und der Balance von Partizipation und Automatisierung zu kämpfen.
1. Mangelnde Partizipation
Obwohl theoretisch jede:r mitmachen kann, zeigt sich in der Praxis: Nur ein sehr kleiner Teil der Tokenholder beteiligt sich aktiv an Abstimmungen. Eine Studie über neun DeFi-DAOs von Barberau et al. (2023) zeigte: Nur etwa 1% aller Wallets (also, digitaler Identitäten), die theoretisch Stimmrechte besitzen, partizipieren tatsächlich in Entscheidungsprozessen. Eine Studie von Bellavitis et al. (2022) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und argumentiert, dass aktive Partizipation für viele Tokenholder schlicht zu aufwendig sei und sie komplexe technische und ökonomische Diskussionen abschrecken könnten. Barberau et al. erklären ihre Ergebnisse hingegen damit, dass Personen, die nur sehr wenige Token halten und damit auch nur ein geringes Stimmrecht besitzen, nicht ausreichend incentiviert sind, zu partizipieren. Die ungleiche Verteilung von Stimmrechten birgt die nächste Herausforderung.
2. Steigende Machtkonzentration
In DeFi-DAOs hängen Stimmrechte direkt mit dem Tokenbesitz zusammen. Tokens werden frei auf Börsen gehandelt, ähnlich wie Aktien. Das führt dazu, dass diejenigen mit viel Geld oft überproportional viel Macht in DeFi-DAOs haben. In einer Studie von über 10.000 DAOs (nicht nur aus dem DeFi-Bereich) zeigen Peña-Calvin et al. (2024), dass steigende Machtkonzentration insbesondere in sehr großen DAOs zum Problem wird. In diesen Kontexten könnte laut den Forscher:innen das von Robert Michels beschriebene „eiserne Gesetz der Oligarchie“ greifen, das besagt, dass Organisationen ab einer bestimmten Größe, unabhängig von ihren Demokratisierungsabsichten, immer eine herrschende Elite (oder Oligarchie) hervorbringen, da diese gebraucht werde, um größere Gruppen zu koordinieren und zu verwalten. Eine Studie von Sharma et al. (2024) bestätigt die steigende Machtkonzentration in DAOs und zeigt, wie diese nicht nur mit der Größe der DAO korreliert, sondern auch zunimmt, wenn der Preis des jeweiligen Governancetokens steigt. Insgesamt scheint es also so, dass insbesondere erfolgreiche und populäre DAOs oft mit plutokratischen Verhältnissen zu kämpfen haben.
Wie die Studie von Sharma et al. zeigt, ist ein Mechanismus, dies zu umgehen und Demokratisierung zu fördern, Stimmrechte an menschliche Identitäten zu koppeln und nicht an Tokenbesitz. Da Tokenholder in DAOs aber meistens anonym agieren und Identitäten von Wähler:innen an digitale Wallets gekoppelt sind (von denen jeder beliebig viele haben kann, ähnlich wie bei E-Mail-Adressen), ist es technisch noch nicht einfach, ein 1-Mensch-1-Stimme-Prinzip in DAOs umzusetzen. Auch wenn Pionierprojekte außerhalb von DeFi solche Mechanismen schon umgesetzt haben (siehe Proof of Humanity DAO), bleiben „soft factors“ wie z.B. charismatische Führungspersonen trotzdem eine Herausforderung für die Dezentralisierung und Demokratisierung vieler Defi-DAOs. Ein vielsagendes Beispiel ist die Rückkehr von Rune Christensen, Gründer von MakerDAO. Trotz aller Dezentralisierungsrhetorik spielte seine persönliche Autorität eine wesentliche Rolle für die Entscheidung der Tokenholder, das MakerDAO-Projekt durch eine vorläufige Rezentralisierung, wie von ihm vorgeschlagen, neu auszurichten.
3. Die Balance zwischen Partizipation und Automatisierung
Besonders im Fall von Uniswap zeigt sich ein weiteres Spannungsfeld: Je stärker ein Protokoll automatisiert ist, desto weniger gibt es überhaupt zu entscheiden. Demokratisierung läuft hier Gefahr, zum Feigenblatt zu werden, weil wesentliche Regeln gar nicht mehr veränderbar sind. Die Forschung von Other Internet zeigt, dass sich im Fall von Uniswap viele Tokenholder fragten: Wofür ist unsere Partizipation überhaupt wichtig? Und: Wie können wir mehr Partizipation verlangen, wenn die Möglichkeiten und der Einfluss dieser Partizipation bewusst minimal gehalten werden? De Filippi und Merk (2024) argumentieren, dass DAOs in Einklang mit ihren jeweiligen Funktionen und Zielen eine Balance zwischen Partizipation und Automatisierung finden müssten – es gebe hier kein „One-Size-Fits-All“ Modell und trotzdem bräuchten, insbesondere DeFi-DAOs immer beide Elemente. Automatisierung ist wichtig, um Transparenz, Zuverlässigkeit und einen offenen Zugang zu gewährleisten. Unveränderliche, automatisierte Protokolle fördern zudem das Vertrauen von Nutzer:innen: Sie können sich darauf verlassen, dass das System nach transparenten und relativ stabilen Regeln funktioniert. Partizipation ist aber ebenso notwendig, um dafür zu sorgen, dass sich Protokolle mit der Zeit weiterentwickeln oder um in Notfällen einzuschreiten und kurzfristige Änderungen im Sinne der Community zu veranlassen. Zudem ist Partizipation wichtig für Projekte, die auch den Zusammenhalt ihrer Community sowie andere nicht-finanzielle Versprechen als Ziel haben. Weiterhin bedarf es interner Governance, um für jedes Projekt die richtige Balance zu finden. Dies bleibt eine Herausforderung in vielen Projekten.
Fazit & Outlook: Fünf Jahre danach
DeFi-DAOs sind zweifellos eine spannende Innovation und öffnen neue Wege für Mitbestimmung im digitalen Finanzwesen. Doch zwischen Versprechen und Realität klafft eine Lücke. Auch wenn DeFi den Zugang zur digitalen Finanzwirtschaft erleichtert, bedeutet das nicht automatisch eine gleichberechtigte Mitbestimmung. Wer kein Kapital für Tokenkäufe hat, bleibt derzeit politisch oft machtlos. Ein strukturelles Problem ist, dass Governance-Token fast immer auch Finanzinstrumente sind. Wer Stimmen kaufen kann, kann Macht kaufen. Ein möglicher Ausweg wäre eine Differenzierung zwischen finanziellen Tokens und Governance-Tokens.
Hierbei könnten sich DAOs stärker an traditionellen Genossenschaften orientieren – Organisationen, die seit über 150 Jahren demokratische Mitbestimmung mit wirtschaftlicher Stabilität verbinden. In Genossenschaften werden Stimmrechte grundsätzlich demokratisch, nicht plutokratisch verteilt. Der Vorschlag, DAOs mehr am Beispiel von Genossenschaften auszurichten statt an gesellschaftergeführten Unternehmen, wird von vielen Akteuren in Wissenschaft und Praxis unterstützt. Ansätze wie die von Proof of Humanity oder dOrg (einer Service-DAO) fungieren hierbei als aufschlussreiche Leuchtturmprojekte, die anderen Projekten zeigen können, wie Stimmrechte im digitalen Raum genossenschaftlich verteilt werden können bzw. wie Organisationen gängige genossenschaftliche Praxen ins digitale Zeitalter überführen können.
Die Frage ist jedoch nicht nur, ob ein System demokratisch oder plutokratisch ist, sondern auch, wieviel Entscheidungsfreiheit bei Automatisierung überhaupt noch besteht. Mit dem Aufkommen von KI-Systemen verschärft sich dieses Problem: Wenn Protokolle nicht nur unveränderbar sind, sondern Maschinen auch noch autonome Entscheidungen treffen, was bleibt dann für menschliche Governance? Um zu einer echten Demokratisierung des digitalen Finanzsektors beizutragen, müssen DeFi-DAOs sich zukünftig auch mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Erste Experimente und Überlegungen in diesem Bereich liegen bereits vor und das Themenfeld birgt mit Sicherheit noch viele interessante Forschungsmöglichkeiten. Ziel all dessen muss es jedoch sein, sicherzustellen, dass Demokratisierung im DeFi-Kontext mehr zur realen Praxis als zum leeren Marketingversprechen wird.
RSS-Feed zum eFin-Blog abonnieren
Zurück zur Startseite des Blogs
Zum Diskursprojekt Demokratiefragen des digitalisierten Finanzsektors





