NGI Taler und die Zukunft des digitalen Bezahlens
Leo Wittmann im Interview mit Eneia Dragomir
23. Oktober 2024
Bezahlvorgänge finden zunehmend online bzw. digital statt. Das Taler Bezahlsystem ist mit dem Anspruch angetreten, Eigenschaften des Bargelds, wie anonymes Bezahlen, im digitalen Raum zu ermöglichen. Mit dem NGI Taler möchte die GLS Gemeinschaftsbank mit zehn weiteren Partnern dieses Bezahlsystem allgemein zugänglich machen. Wir haben mit Leo Wittmann von der GLS Bank über das Projekt, über die Einbindung der Zivilgesellschaft sowie über Micropayments gesprochen.
Herr Wittmann, warum interessiert sich die GLS Bank für das Taler-Bezahlsystem?
Wir sehen in GNU Taler ein Mittel, um selbstbestimmt online zu bezahlen. Und das ist beim digitalen Bezahlen vor allem eine Frage der informationellen Selbstbestimmung. Wir begreifen die Privatsphäre nicht als Hindernis, sondern als etwas Schützenswertes. Das Taler-System ermöglicht, in Echtzeit kostengünstig online zu bezahlen, während die Anonymität der Zahlenden wie beim Bargeld gewahrt bleibt. So möchten wir zur Zukunftssicherheit unserer Zahlungsinfrastruktur beitragen.
Was meinen Sie mit „Zukunftssicherheit“?
Das Bargeld ist die Basisinfrastruktur, die die EZB bereitstellt. Mit Bargeld kann man bislang aber nur im physischen Raum bezahlen – im Supermarkt oder am Kiosk zum Beispiel. Aber immer mehr Kaufvorgänge verschieben sich in den digitalen Raum. Genauso sollten wir die Qualitäten des Bargelds, wie Anonymität, in den digitalen Raum übertragen. Taler garantiert den Nutzer:innen technische Anonymität. Und wenn man auf die bisherigen Angebote am Markt schaut, dann steht das Taler-System mit dieser Eigenschaft ziemlich allein da.
GNU Taler, auf dem NGI Taler aufbaut, wurde schon als Grundlage für die Umsetzung einer digitalen Zentralbankwährung ins Spiel gebracht und auch die NGI Taler-Webseite thematisiert die Diskussionen um den Digitalen Euro. Das NGI-Taler-Projekt hat damit aber erstmal nichts zu tun, oder?
Genau. GNU Taler als Technologie kann auf verschiedene Weise verwendet werden: zur Umsetzung einer CBDC durch eine Zentralbank, zur Digitalisierung von Giralgeld oder als klassisches Zahlverfahren für den Privatsektor, wie wir das mit unserem Projekt vorhaben.
Wir haben grundsätzlich keine Aversion gegen den Digitalen Euro. Wir haben einen anderen Ansatz, aber GNU Taler und der Digitale Euro nehmen sich die Digitalisierung des Bargelds vor und sind deswegen eher als parallele Ansätze zu betrachten.
Dennoch wird auf der Webseite das Taler-System als eine „privacy-respecting“ Alternative zu CBDCs in Spiel gebracht, die keiner „invasive practices“ bedürfe …
Die Schaffung anonymer Zahlungsmethoden im digitalen Raum halten wir für absolut notwendig. Wir schauen daher positiv auf alle Versuche, eine digitale Zentralbankwährung zu entwickeln, die diese Qualität des Bargelds online ermöglicht. Wenn wir uns aber die Zahlungsinfrastrukturen anschauen, die nach dem Bargeld gekommen sind, sehen wir einen beständigen Abbau der Privatsphäre. Es ist daher wichtig, dass die EZB ihre Aufgabe hinsichtlich dieser Basisstruktur erkennt und nicht den Status quo reproduziert, mit einer Art EZB-PayPal, das die Privatsphäre der Nutzer:innen ebenso exponiert wie Privatunternehmen. Das ist aber leider nicht die Entwicklung, die wir wahrnehmen. Die vorgestellten Konzepte für den Digitalen Euro gewährleisten keine technische Sicherung der Anonymität.
Weil wir diese Entwicklungen so wahrnehmen, ist NGI Taler nicht nur das Umsetzungsprojekt, um GNU Taler für alle verfügbar zu machen. Das Projekt soll auch die Diskussion um das digitale Bezahlen mitgestalten. Wir haben den Anspruch, eine der Stimmen zu sein, die die EZB daran erinnert, welche Eigenschaften des Bargelds beizubehalten sind.
Inwiefern wird die EZB dem nicht gerecht?
Das zeigt sich darin, dass die Anonymität zu einer Frage der politischen Ausgestaltung gemacht wird, statt sie durch das technische Design des Digitalen Euro zu garantieren. Wenn man auf andere Bereiche der Politik der EU-Kommission schaut, dann sehen wir, dass die Wahrung der Anonymität auch infrage gestellt wird, Stichwort: Chatkontrolle. Wenn es um das Zahlungssystem geht, das 400 Millionen Menschen nutzen sollen, sollte die Anonymität nicht nur von einer Absichtserklärung abhängen, sondern auch technisch garantiert sein. Das ist eine Frage der Resilienz der Zahlungsinfrastruktur. Das Taler-System würde Anonymität auch dann gewährleisten, wenn sich politische Strömungen durchsetzten, die die Anonymität der Zahlungen aufheben wollen.
Wenn Sie von „Resilienz“ sprechen, meinen Sie nicht die Möglichkeit einer Naturkatastrophe oder einen technischen Ausfall, sondern gewissermaßen eine politische Katastrophe?
Die technische Resilienz ist auch ein relevanter Faktor bei digitalen Formen des Bezahlens: Was ist, wenn der Strom ausfällt oder das Internet? Solche Überlegungen unterstreichen die Existenzberechtigung des Bargelds. Aber, insoweit es um die Sicherung der Anonymität geht, geht es einerseits um Persönlichkeitsrechte und mit Blick auf die aktuelle politische Entwicklung auch um einen Schutz vor autoritären Regierungen.
Auch so genannte Kryptowährungen werden auf der NGI Taler-Webseite genannt. Zu den Versprechen von blockchain-basierten Systemen wie Bitcoin gehört die Sicherung der Anonymität. Warum halten Sie diese Systeme nicht für zufriedenstellende Lösungen?
Da stellen sich verschiedene Probleme: Erstens gewährleisten Bitcoin und andere Kryptowährungen keine Anonymität, sondern allenfalls eine Pseudonymisierung. Wenn man die pseudonymisierten Transaktionen nur lange genug verfolgt, die ja alle öffentlich auf der Blockchain abgelegt sind, und die Zahlungsflüsse das Bitcoin-System wieder verlassen und in das klassische Geldsystem übergehen, dann findet dort wieder die Feststellung der Identität statt – und spätestens dann wird die Anonymität aufgehoben.
Zweitens streben wir als GLS Bank ökologische Nachhaltigkeit an. Kryptowährungen, zumindest die prominenten Beispiele, sind jedoch nicht ökologisch nachhaltig. Drittens stellen Kryptowährungen in Hinblick auf die Transaktionskosten und die Transaktionsraten, also die Geschwindigkeit von Zahlungen, keine guten Lösungen dar. Bitcoin eignet sich beispielsweise nur für größere Summen, da die Transaktionskosten für kleine Zahlungen viel zu hoch sind. Auch der so genannte hard cap, also die Festlegung, dass es nicht mehr als 21. Mio. Bitcoin geben darf, schränkt die Eignung von Bitcoin als Zahlungssystem erheblich ein, weil dem System die für den Zahlungsverkehr nötige Elastizität fehlt.
Ein weiteres Problem solcher Systeme besteht darin, dass wir im regulierten Finanzumfeld ganz konkrete Verantwortlichkeiten haben, die sich auf verteilte, also dezentrale Systeme nicht einfach übertragen und umverteilen lassen. Selbst wenn im regulierten Finanzbereich die Blockchain zur Anwendung kommt, fährt man häufig doppelspurig: Man hat eine Blockchain, aber man hat zugleich Systeme, mit denen man den regulatorischen Verantwortlichkeiten nachkommt.
NGI Taler soll vor allem im Micropayment-Bereich eine Rolle spielen. In einem anderen Interview haben Sie Verlagswesen, Presse und Gesundheitswesen genannt. Wie haben Sie diesen Bedarf festgestellt? Ist er an Sie herangetragen worden? Und warum sind gerade diese Bereiche interessant?
Der Bedarf ist uns aus der Community gemeldet worden, aus der sich das NGI Taler-Konsortium gebildet hat. Das Taler-System ist für Micropayments besonders geeignet, weil es in der Abwicklung sehr wirtschaftlich ist. Die technische Infrastruktur ist so anspruchslos, so schlank, dass wir Transaktionsraten, also eine Geschwindigkeit und Menge von Zahlungen, erreichen, die weit über dem liegen, was mit klassischen Systemen möglich ist. So können wir ganz neue Marktsegmente erschließen. Micropayments sind mit klassischen Zahlverfahren, aber auch mit PayPal nicht wirtschaftlich möglich, mit Kryptowährungen schon gar nicht. Wenn ich zum Beispiel eine App für 50 Cent verkaufen möchte, dann ist das wirtschaftlich kaum möglich, wenn ich Verfahren verwende, bei denen ich 10 Cent an Gebühren zahlen muss. Das verschlimmert sich, wenn eine Plattform zwischengeschaltet ist, die weitere Gebühren verlangt.
Wir glauben, dass wir mit dem Projekt die Finanzierungsmöglichkeiten von Künstler:innen, Kreativschaffenden, aber auch von Presseerzeugnissen und Journalist:innen erweitern können: Sie müssen ihre kreativen Erzeugnisse nicht mehr hinter einem Abo-Modell verstecken oder auf freie, dafür aber werbefinanzierte Modelle setzen, die dann wieder Probleme, wie Tracking, aufwerfen. Stattdessen können sie auf kleine Spenden setzen oder jeden Artikel direkt monetarisieren. Und das kommt auch den Konsument:innen zugute, denn die sind vielleicht auch daran interessiert, verschiedene Artikel von verschiedenen Zeitungen zu lesen. So möchten wir den Möglichkeitsraum in einer Weise erweitern, die nicht zu Lasten der Anbietenden geht, die sonst häufig allein die Gebühren schultern müssen.
Haben auch Privatkund:innen den Wunsch an Sie herangetragen, anonym digital bezahlen zu können?
Ja, dieser Bedarf wurde uns schon vor dem Start des Projekts gemeldet, schon 2019, als es noch um ganz andere Fragen ging. Schon damals haben wir zum Taler-Projekt Kontakt aufgenommen und uns angesehen, wie das System funktioniert. Den ersten Piloten haben wir 2021/22 getestet. Und wir sind da schon im Rahmen von quantitativen und qualitativen Interviews und mit Umfragen mit unseren Kund:innen in den Austausch gegangen. In diesen Umfragen hatte sich abgezeichnet, dass Privatsphäre und Anonymität gerade in unserer Kundschaft besonders hoch gewertet werden. Dass Privatsphäre und Anonymität den Menschen wichtig sind, haben auch die Umfragen der EZB bestätigt. Und das NGI Taler-Projekt erfährt immer noch sehr hohen Zuspruch.
Sie sagten in einem Interview in Bezug zur Gestaltung des Digitalen Euro, man sehe die Zivilgesellschaft nicht. Inwiefern ist das der Fall? Und wie kommt die Zivilgesellschaft in Ihrem Projekt ins Spiel?
Die EZB hat zwar Umfragen durchgeführt, aber man kann sich schon fragen, inwieweit solche Umfragen einen Austausch mit der Zivilgesellschaft darstellen. Auch die Workshops, die die Bundesbank ausgerichtet hat, hatten einen beschränkten Umfang.
Unser Projekt ist ganz anders angelegt. Die elf Mitglieder unseres Konsortiums sind sehr heterogen: Nur zwei Mitglieder sind Banken, neben der GLS Bank ist das die ungarische MagNet Bank. Unter den anderen Mitgliedern sind zwei Universitäten, verschiedene Unternehmen sowie Akteure aus der Zivilgesellschaft, auch aus dem netzpolitischen bzw. netzaktivistischen Bereich. Zum Beispiel Homo Digitales aus Griechenland, die Mitglied im Netzwerk European Digital Rights sind, oder die E-Seniors Association. Diese Stimmen fließen bei NGI Taler nicht erst nachträglich ein, sondern haben das Projekt und seine Strategie von Anfang an mitgestaltet.
Wie hat sich dieses heterogene Konsortium zusammengefunden? Gab es schon vor dem NGI Taler-Projekt Verbindungen?
Das waren tatsächlich Verbindungen, die bereits zuvor bestanden haben, und die für das Projekt aktiviert oder reaktiviert wurden. Dazu kam Taler Systems, das Schweizer Unternehmen, das das GNU Taler-System maßgeblich entwickelt. Mit Code Blau aus Berlin haben wir zuvor schon zusammengearbeitet. Auch mit der Berner Fachhochschule hatten wir schon Verbindungen und unsere Beziehungen zu den Akteur:innen aus der Finanzindustrie oder dem Bankenwesen haben wir als GLS Bank eingebracht. Das Konsortium hat sich also sehr organisch aus bestehenden Netzwerken zusammengesetzt.
NGI steht für Next Generation Internet – was ist das für ein Projekt und wie fügt sich das Taler-Bezahlsystem da ein?
Next Generation Internet ist eine Initiative der Europäischen Union im Rahmen des Horizon Europe-Projekts. Ziel der Initiative ist es, die Entwicklung eines menschenzentrierten Internets basierend auf Open-Source-Software voranzutreiben. Und was sowohl die EU als auch wir glauben – und was in der Förderung unseres Projekts zum Ausdruck kommt: faire Möglichkeiten des Bezahlens, die die Privatsphäre der Menschen schützen, müssen Teil dieses Internets der nächsten Generation sein.
Schlagworte, die im Zusammenhang mit dem NGI-Projekt immer wieder fallen, sind, „menschenzentriert“ und „demokratisch“. Was meint „menschenzentriert“ und inwiefern kommen Demokratiefragen ins Spiel?
Open Source oder freie Software wie Taler hat meines Erachtens etwas mit Demokratie zu tun, insofern als solche Eigentumsmodelle es ermöglichen, die Software anzuschauen, die unser tägliches Leben antreibt und am Laufen hält – vielleicht nicht Einzelpersonen, aber der Zivilgesellschaft. Es können Audits durchgeführt werden, die Software kann verändert und an bestimmte Bedürfnisse angepasst werden und sie kann vervielfältigt und breit zugänglich gemacht werden. Im Kontrast zu proprietären Anwendungen, also Software, die sich im Eigentum bestimmter Unternehmen befindet, ergibt sich daraus ein demokratisches Momentum.
Und was ist mit „menschenzentriert“ gemeint?
Es geht uns darum, zu fragen: Was sind die Bedürfnisse der Menschen? Und im Bereich des Bezahlens sehen wir das Bedürfnis, nicht als getracktes Individuum behandelt zu werden, das über gezielte Werbung gut monetarisiert werden kann. Ich möchte online bezahlen können, ohne dafür meine Privatsphäre offenlegen zu müssen. Menschenzentriert ist NGI Taler dann in dem Sinne, dass das die gestaltenden Merkmale der Anwendung sind.
Wann soll es Ihren Kund:innen möglich sein, das Taler-System für Zahlungen zu nutzen?
Das Projekt ist auf 36 Monate angelegt und das Ziel ist, Taler business ready zu bekommen, sodass das Verfahren im regulierten Finanzumfeld eingesetzt werden kann. Das ist die Aufgabe des ersten Jahres. Sobald wir dieses Ziel erreicht haben, wollen wir Taler in einem öffentlichen Piloten testen. Und Mitte 2025 möchten wir eine größere Öffentlichkeit ansprechen und Taler in die Hände europäischer Nutzer:innen geben.
Herr Wittmann, vielen Dank für das Gespräch!
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